Midlife-Boomer

Glück mit Falten

Was man/frau schon lange weiss: Die 50-plus-Generation hat solidere und reifere Beziehungen (und den „besseren“ Sex). Die Selbstverwirklichung steht auf stabilen Beinen, die Konflikte, die bei Karriere und Kindern kaum zu vermeiden waren, sind Vergangenheit. Vielleicht wird es in Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein, das Leben der Erwachsenen in zwei Phasen zu begreifen: in einer ersten, in der wir eine Familie gründen und Turbokarrieren starten (die sogenannte Rushhour des Lebens) – und in einer zweiten, in den wir mit uns viel Zeit und Energie für die Beziehung reif und „für immer“ binden.

Das neue U-Bild des Lebens

Eine Frau, die 1950 geboren wurde, kann sich freuen. Als Schweizerin dieses Jahrgangs hat sie die höchste Lebenserwartung weltweit. Durchschnittlich wird sie bis 2036 leben — und mit jedem Jahr werden es mehr.

Ihre Enkel, die im 21. Jahrhundert geboren werden, haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, 100 Jahre alt zu werden — jeder dritte mindestens, vielleicht sogar jeder zweite.

Was werden die Menschen mit dieser Lebensspanne anfangen? Wie gestaltet man ein 100-jähriges Leben? Noch gibt es kaum Antworten auf diese Frage. Die demografischen Veränderungen in Europa sind schleichend, doch unabwendbar. Wir werden älter. Wir werden weniger. Und wir werden vielfältiger.

Nicht nur Europa, auch die Schwellenländer altern. Schon im Jahr 2026 wird sich in China der Anteil der über 65-Jährigen von 7 auf 14 Prozent verdoppelt haben. In Brasilien ist es im Jahr 2032 so weit, in Singapur schon 2019. Für das Jahr 2069 prognostiziert die UNO für China die stolze Zahl von einer Million 100-Jähriger.

Das hat Folgen. Vor allem brauchen wir ein neues Bild vom Altern. Zu viele Menschen glauben noch, dass es vom 50. Geburtstag an abwärts geht. Mit dem Leben. Mit der Karriere. Mit der Gesundheit. Mit dem Glück.

Das aber ist ein Trugschluss, wie neue Studien zeigen. Sie deuten darauf hin, dass die Menschen ab 50 glücklicher und zufriedener werden. Die Glückskurve stellt sich als U-Form heraus, mit einem statistischen Tiefpunkt im Alter von 46. Auch die Lebenszufriedenheit ist im Alter noch weit höher als in der Phase der frühen Erwachsenenzeit.

Hinzu kommt der demografische Wandel. Menschen um die 50 werden künftig gefragt sein, weil sich der Mangel an Facharbeitern kontinuierlich verschärft. Wer als Firma attraktiv sein will, muss künftig Arbeitszeitmodelle anbieten, die dem Arbeitnehmer mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten als früher einräumen.

Kein Bereich der Personalpolitik wird sich so stark ändern wie der Umgang mit älteren Mitarbeitern. Schon in wenigen Jahren wird es keine Frage mehr sein, dass Arbeitnehmer bis weit ins sechste Lebensjahrzehnt geschult und fortgebildet werden. Altersgemischte Teams werden normal sein.

In den Fabriken werden die Arbeitsabläufe und Maschinen optimiert sein, die Mitarbeiter können körperschonend wie nie zuvor arbeiten — egal, ob sie alt oder jung sind. Es wird noch immer Bereiche harter körperlicher Arbeit geben, doch die Unternehmen werden sie schon aus Eigeninteresse so weit wie möglich reduzieren.

Der Dachdecker, der immer als Beispiel herhalten muss, wird nach seinem 50. Geburtstag in andere Tätigkeiten hineinwachsen — in die Büroarbeit, in die Beratung von Kunden oder die Ausbildung anderer Mitarbeiter. Auch wenn er nicht mehr auf dem Dach steht, wird er im Arbeitsleben bis an die Schwelle des 70. Geburtstages gebraucht werden.

Dieses Gebrauchtwerden ist der Paradigmenwechsel. Es löst ein Vierteljahrhundert ab, in dem der ältere Arbeiter in der Politik, der Wirtschaft und den Medien als ersetzbar, nicht mehr belastbar und verbraucht beschrieben wurde. Diese Abwertung menschlicher Leistungsfähigkeit ist noch schlimmer als die immens hohen Kosten, die uns die fatale Frühverrentungspolitik seit Ende der 80er-Jahre beschert hat.

Noch gibt es nur wenige Unternehmen, die offensiv Angebote für ihre älter werdende Belegschaft machen. Noch seltener gibt es Vordenker, die konsequent Schlüsse ziehen aus der Tatsache, dass der Mensch älter wird.

Eine davon ist Laura L. Carstensen, die Leiterin des Center on Longevity der Stanford University in Kalifornien. «Wir sollten unsere Leben so planen, dass die Menschen mit 50 noch einmal aufbrechen. Sehen Sie es als ein 50 : 50-Modell», schreibt sie in ihrem Buch «A Long Bright Future». Die ersten 50 Jahre eigneten wir uns «eine Fülle an Wissen und sozialem Know-how an, um es die nächsten 50 Jahre an unsere Umgebung und die Gesellschaft zurückzugeben».

Für die Psychologin ist das «eine radikale Abwendung von dem alten Lebensplan, der alles nach 50 als Abstieg und Niedergang sieht». Sie plädiert leidenschaftlich für ein neues Modell der Lebensspannen: «In diesem neuen Skript wird es ab 50 erst richtig interessant, und man kommt in eine Phase, in der man wirklich etwas beitragen kann, sei es in der Familie, bei der Arbeit oder in der Gesellschaft. »

Dafür aber brauchen wir ein radikal neues Bild vom Altern — und ein neues Drehbuch für unser Leben. «Als Gesellschaft haben wir keine Vorstellung davon, wie sich ein glücklicher, gesunder 100-Jähriger fühlt. Niemand hat ein Konzept dafür, was es bedeutet, wenn sich die Zeit des Ruhestandes über 40 Jahre hinzieht», argumentiert die Psychologin, die bald 60 wird. Lebensabschnitte sind für sie «soziale Konstrukte, keine absoluten Realitäten».

Die Geschichte des langen Lebens muss erst geschrieben werden. Wir brauchen eine «neue Landkarte des Lebens», meint die Anthropologin Mary Catherine Bateson. Sie zu füllen könnte ganz analog zur Erfindung der Adoleszenz vor über 100 Jahren geschehen: Bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kinder einfach als kleine Erwachsene wahrgenommen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich mit den Jahren der Ausbildung etwas Neues in diese Abfolge schob: die Adoleszenz, eine Phase des Erwachsenwerdens, die gut eine Dekade umfasst.

Der Soziologe Peter Laslett hat schon 1989 vier Lebensphasen beschrieben: als erste die der Kindheit und Jugend, danach das Erwachsensein und die berufliche Karriere und am Schluss das erneute Abhängigsein im hohen Alter und der kommende Tod. Dazwischen aber gebe es eine neue Phase zwischen dem Ende der elterlichen Pflichten sowie dem vermeintlichen Höhepunkt der beruflichen Karriere und dem Einsetzen der letzten Phase.

Laslett nennt diese neue Phase das «dritte Alter». «Es ist eine Zeit, wo Individuen sich von den praktischen Notwendigkeiten der mittleren Jahre befreien können und noch Jahrzehnte vom hohen Alter entfernt sind. Es ist eine Gelegenheit für neue Entdeckungen, für Lernen und persönliches Wachstum, für vielleicht die wichtigsten Beiträge zu seinem eigenen Leben. » Für das, was im englischen Sprachraum Middle Ages, Life: Take 2 genannt wird, existiert kein deutscher Begriff. Aber es gibt viele Versuche, diese Phase mit kreativen Ideen zu füllen, überall haben sich Trendsetter, Kreative, Unerschrockene und Innovative aufgemacht, diese Landkarte des langen Lebens zu beschreiben. Sie sind dabei, das Alter neu zu definieren.

Ich nenne sie die Midlife-Boomer: eine zahlenmässig starke und gut ausgebildete Generation um die 50, deren Erfahrungen und Qualitäten auch morgen gefragt sein werden. Die Volksweisheit «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» ist nämlich Unsinn, wie wir heute wissen. «Das menschliche Gehirn bleibt bis ins hohe Alter veränderbar», sagt Ursula Staudinger, die an der Jacobs University Bremen forscht. Sie ist überzeugt davon, dass Ältere «im sozialen Miteinander die verlässlicheren und stabileren Menschen sind». Sie sind imstande, ebenso viel zu lernen wie die Jungen, aber sie lernen anders.

So hat die Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach beispielsweise eine Pflegelehrerin eingestellt, die über 40-Jährige bei ihrer Ausbildung zu «staatlich geprüften Hauswirtschafterinnen» begleitet. Dass Frauen nach der Familienphase noch einmal eine Ausbildung machen und Unternehmen die Möglichkeit dazu eröffnen, ist in Deutschland noch ungewöhnlich. Doch die Sozial-Holding profitiert davon: Die Motivation der älteren Frauen sei aussergewöhnlich, sagt Geschäftsführer Helmut Wallrafen-Dreisow. Der Altersschnitt seiner ungewöhnlichen «Lehrlinge» liegt bei 45, eine Frau war bei Ausbildungsbeginn 57 Jahre alt.

Wallrafen-Dreisow sagt, die Vorstellung sei falsch, dass die älteren Leute weniger leistungsfähig oder häufiger krank seien als seine jüngeren Mitarbeiter. «Die Gruppe der über 50-Jährigen hat bei uns mit 4,5 Prozent den geringsten Krankenstand überhaupt», sagt er. In einer Studie mit der Forschungsgesellschaft für Gerontologie hat er 300 ältere Mitarbeiter betreffend Motivation befragen lassen. «Bei älteren Mitarbeitern spielt die Ansprache durch die Vorgesetzten die entscheidende Rolle», sagt der Geschäftsführer der Sozial-Holding Mönchengladbach. «Wenn der Vorgesetzte dem älteren Mitarbeiter sagt: Das begreifst du nie, dann wird das auch nichts — und umgekehrt. »

Die USA sind Europa einen Schritt voraus. Für all jene, die ihre Karriere noch einmal neu starten wollen, gibt es dort den Begriff der Encore-Karrieren. «Encore» heisst übersetzt «Zugabe», kann aber auch vom französischen «noch» abgeleitet werden, bedeutet dann also «noch eine Karriere». Popularisiert wird der Begriff von der Nichtregierungsorganisation Civic Ventures, deren Direktor Marc Freedman als einer der prominentesten Vorkämpfer für den Gedanken der Encore-Karrieren gilt. Ihm ist auch wichtig, wie er sagt, dass das Wort «core», also «Herz, Seele» in dem Begriff steckt. Zehn Millionen Amerikaner haben in der Mitte ihres Lebens eine neue Karriere begonnen, vor allem in der Erziehung, der Gesundheit, in Umweltberufen und sozialen Diensten, sagt Freedman. Viele haben sich selbstständig gemacht. Wie das Magazin «Newsweek» im August 2010 berichtete, gründen über 55-Jährige fast doppelt so oft erfolgreiche Firmen wie 20- bis 34-Jährige.

Dies beeinflusst den Arbeitsmarkt der Zukunft. Die These, die Produktivität und Innovationsfähigkeit einer alternden Gesellschaft sei quasi wie ein Naturgesetz rückläufig, ist nach Ansicht der Altersforscherin Ursula Staudinger nicht zu halten. Thomas Zwick vom Institut für Wirtschaftspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München teilt diese Meinung: «Altersgemischte Teams steigern die Produktivität sowohl für ältere als auch für jüngere Arbeitnehmer, wenn sie geschickt zusammengesetzt sind. »

Der 50. Geburtstag ist allenfalls die Mitte, nicht der Höhepunkt des Lebens. James Vaupel, einer der bekanntesten Altersforscher und Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, ist sich sicher, dass es die klassische Dreiteilung «Ausbildung, Arbeit, Rente» in Zukunft für die wenigsten geben wird. «Heute in Deutschland geborene Kinder werden mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent 100 Jahre alt. Es scheint mir klar, dass die meisten davon nicht schon mit 60 oder 65 Jahren in Rente gehen wollen — sondern viel später. Sie werden vermutlich mehr Jahre ihres Lebens arbeiten wollen, dafür aber weniger Stunden pro Woche. Dann hätten sie zum Beispiel mehr Zeit für die Erziehung ihrer Kinder und für ihre lebenslange eigene Weiterbildung. »

Deshalb war es nie spannender, älter zu werden. Die Midlife-Boomer werden die Trendsetter eines neuen Lebensmodells für diejenigen, die heute Kinder oder Jugendliche sind. Sie brauchen nicht so durchs Leben zu hetzen, wie die Midlife-Boomer es bislang tun mussten. Diese Kinder müssen nicht unbedingt Turboabitur machen und mit Anfang 20 bereits im Arbeitsprozess sein. Sie könnten sich mehr Zeit lassen. Auch die sogenannte Rushhour des Lebens, in der heute zwischen 30 und 45 alles erreicht werden soll, könnte entzerrt werden. Statt dass die Menschen sich hier auspowern und dann mit 40 ausgebrannt sind, muss es in dieser Lebensphase so viel Flexibilität wie möglich geben — Teilzeitangebote, die sich mit Vollzeit abwechseln, kurze und lange Auszeiten, wechselnde Zuständigkeiten innerhalb der Familie.

Zwar würde ein so gestalteter neuer Spannungsbogen des Lebens in dieser Zeit durchaus Einkommenseinbussen bedeuten. Durch die insgesamt längere Lebensarbeitszeit aber kann das kompensiert werden. Zum Beispiel wenn wir dann mit 50 noch einmal richtig durchstarten, eine neue Karriere aufbauen und bis 70, vielleicht aber auch länger, gemäss unseren Zeitwünschen flexibel arbeiten.
(zitiert nach Margaret Heckel aus Das Magazin 44/2012:
Sie ist freie Journalistin in Potsdam. Ihr Buch «Die Midlife-Boomer: Warum es nie spannender war, älter zu werden» ist in der Edition Körber-Stiftung erschienen)

Und die Midlife-Krise?

»Wohl in der Mitte unsres Lebensweges geriet ich tief in einen dunklen Wald, so vom graden Pfade ich verirrte.« Dante Alighieri

Veröffentlicht am 13. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
12. November 2024