Mit Resilienz die Krise meistern

Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände

Mit “Resilienz” wird in der psychologischen Forschung die psychische und physische Stärke bezeichnet, die es Menschen ermöglicht, Lebenskrisen, wie schwere Krankheiten oder auch ein Burnout ohne langfristige Beeinträchtigungen zu meistern. Kurz: Gedeihen trotz widriger Umstände.
Resilienz ist eine Fähigkeit, die jeder Mensch lernen kann. Je früher er sie erwirbt, um so besser. Am leichtesten in den ersten zehn Lebensjahren. Doch auch Erwachsene sind zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens grundsätzlich in der Lage, ihre Widerstandsfähigkeit zu schulen.

Resiliente Menschen kann man mit einem Boxer vergleichen, der im Ring zu Boden geht, ausgezählt wird, aufsteht und danach seine Taktik grundlegend ändert (resilience = englisch: Elastizität, Spannkraft – “resilire”, lat. abprallen). Resilienz wurde auch schon “the mental muscle everyone has” genannt oder das “Immunsystem unserer Seele”.

Die Resilienz lässt sich in drei Subtypen mit verschiedenen Bewältigungsszenarien unterteilen. Das Bild eines Baums, der heftigem Wind ausgesetzt ist, verdeutlicht sie: Ein massiver Stamm kann den Sturm unbeschadet überstehen – das ist Resistenz. Vielleicht wird der Baum auch durchgeschüttelt und die Äste verbiegen sich, nehmen danach jedoch wieder ihre alte Form ein. Dann spricht man von Regeneration. Möglich ist aber auch, dass die Äste dauerhaft ihre Wuchsrichtung ändern, um künftigen Stürmen weniger Angriffsfläche zu bieten. Diese Resilienzstrategie heisst Rekonfiguration.

Wir können mit dem, was das Schicksal einem antut, gut oder schlecht umgehen. Der Resiliente hat beschlossen, gut damit umzugehen.

Wie lernt man dies?

Man weiss eigentlich noch zu wenig darüber. Doch die meisten Forscher gehen von einer Wechselwirkung zwischen individuellen Möglichkeiten und sozialen Angeboten aus. Ruhiges Temperament und eine höhere Intelligenz scheinen resilientes Verhalten zu begünstigen. Sicher ist, dass vor allem die Zugehörigkeit zu einen grösseren Verbund von Menschen, der über die Familie hinausgeht, für die Herausbildung von Resilienz wichtig ist. Man sollte eingebettet sein. Resiliente Kinder haben sehr viel mehr Unterstützung von religiösen Gemeinschaften, von Nachbarn, Freunden, Lehrern und Verwandten, wie zum Beispiel Grossmüttern, erhalten. Die Familie kann, aber muss dabei keinen hohen Stellenwert haben.
Die Annahme, dass einmal gemachte schlechte Erfahrungen das gesamte weitere Leben prägen, wird durch die Resilienzforschung für viele Fälle widerlegt. Auch wenn in Kindheit und Jugend keine resilienzfördernden Erfahrungen gemacht werden konnten, muss niemand sich seinem Schicksal hilflos ausgeliefert fühlen. Resilienz kann in jedem Lebensalter erlernt werden. In ihrer Broschüre The road to resilience nennt die Amerikanische Psychologenvereinigung (www.apahelpcenter.org) zehn Wege, die zum Ziel führen (hier):

  • Resiliente Menschen akzeptieren die Krise und die damit verbundenen Gefühle. Sie lassen sich Zeit. Sie wissen: Weglaufen hilft nicht. Es wird eine Zeit kommen, dann werden sie wissen, was zu tun ist. Bis dahin suchen sie sich einen Ort, an dem sie wohl fühlen, und lassen dort ihren Gefühlen freien Lauf.
    Resiliente Menschen schämen sich nicht ihrer Tränen, ihrer Wut, ihrer Ängste. Sie reissen sich nicht zusammen und versuchen nicht, ihre Gefühle einzufrieren. Sie sorgen für sich selbst.
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  • Resiliente Menschen suchen nach Lösungen. Sie glauben an die eigene Kompetenz. Sie verlassen die Opferrolle und werden aktiv:
    Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf Krisen zu reagieren. Man kann klagen: “Warum passiert gerade mir das? Womit habe ich das verdient? Wie konnte das geschehen? Es ist so schrecklich, das überstehe ich nicht!” Man kann aber auch sagen: “Ich habe nicht erwartet, dass mir so etwas Schreckliches widerfährt. Aber nun ist es geschehen, es liegt nicht in meiner Macht, es ungeschehen zu machen. Vor mir liegt eine äusserst schwierige und schmerzhafte Zeit – was kann ich tun, damit es mir gelingt, sie zu meistern?”
    Resiliente Menschen, so zeigt die Forschung, wählen die zweite Möglichkeit. Sie grübeln nicht unentwegt über ein Problem nach, sind keine “Jammerlappen”, sondern sind sogar im tiefsten Schmerz in der Lage, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. “Wir können nicht beeinflussen, was mit uns geschieht, aber wir können entscheiden, welche Folgen das Geschehene für uns hat” (vergleiche mit dem Kohärenzgefühl der Salutogenese!).
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  • Resiliente Menschen lösen ihre Probleme nicht allein. Sie bauen auf ihre sozialen Kontakte:
    Ein ganz wichtiges Merkmal der Resilienz ist, dass krisengebeutelte Menschen bereit sind, mit anderen über ihre Sorgen zu sprechen. Resiliente Menschen versuchen erst gar nicht, ihre Schwierigkeiten im Alleingang zu lösen. Wie psychologische Studien übereinstimmend belegen, wird mit Schicksalsschlägen besser fertig, wer in eine Familie eingebunden ist oder ein festes soziales Netz von Freunden besitzt. Das gilt für Kinder wie für Erwachsene. Dabei achten Resiliente darauf, dass sie sich in ihrer Not an die richtigen Personen wenden. Sie suchen sich Menschen, die sich nicht von ihren Gefühlen verunsichern lassen, die einfühlend und unterstützend sind, die ihnen Mut machen und sie an ihre Stärken erinnern. Sie meiden Menschen, die nur Sprüche klopfen à la “Die Zeit heilt alle Wunden”, “Du musst stark sein, schon wegen der Kinder”, “Es lohnt nicht, über verschüttete Milch zu weinen” , “Anderen geht es noch schlechter als dir”, “Das Leben geht weiter” oder “Wenn ich irgend etwas für dich tun kann, ruf mich an”.
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  • Resiliente Menschen fühlen sich nicht als Opfer:
    Menschen, die mitten in einer Krise stecken, machen die Situation oft durch ihre Einstellung noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist. Sie haben jegliche Hoffnung auf Änderung verloren, sehen nur noch alles grau in grau und betrachten sich als Opfer der Situation.
    Häufig benutzen sie Formulierungen wie “Ich kann nicht”, “Niemals mehr werde ich glücklich sein”, “Warum nur ist das Leben so ungerecht zu mir?”, “Ich weiss nicht, was ich tun soll”.
    Auch resiliente Menschen sind nicht gegen das Opfergefühl gefeit. Doch nach einer gewissen Zeit gelingt es ihnen, anders über ihre Situation zu denken. Statt “Ich kann nicht” zu sagen und damit dem Gefühl Ausdruck zu verleihen, völlig die Kontrolle über das Geschehen verloren zu haben, sagen sie “Ich will es versuchen…”.
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  • Resiliente Menschen bleiben optimistisch. Krisen werden nicht als unüberwindliches Problem betrachtet:
    Eine optimistische Lebenseinstellung ist das wichtigste Merkmal der Resilienz. Ohne die feste Überzeugung, dass irgendwann, früher oder später, sich die Dinge wieder zum Positiven wenden werden, ist Widerstandsfähigkeit nicht denkbar. Dieser gesunde Optimismus darf nicht mit positivem Denken verwechselt werden. Positives Denken verleugnet die Realität, will die negativen Ereignisse schönreden. Optimistisches Denken dagegen ist kein Wunschdenken, es erkennt die Realität an, geht aber davon aus, dass negative Ereignisse, gleich welcher Art, eine befristete Angelegenheit sind und es auch wieder bessere Zeiten geben wird.
    Ein weiteres Merkmal optimistisch denkender Menschen: Sie verallgemeinern nicht. Wenn sie eine Niederlage einstecken müssen, dann denken sie nicht “Ich tauge nichts”, sondern: “Diesmal hatte ich keinen Erfolg, das nächste Mal wird es wieder klappen”.
    Martin Seligman ist überzeugt davon, dass jeder Mensch optimistisch denken lernen kann, je früher, desto besser. Deshalb hat er ein Programm entwickelt, das Eltern und Lehrern Anleitungen an die Hand gibt, wie sie Kinder zu optimistischem, resilientem Denken erziehen können (Martin E.P.Seligman, Kinder brauchen Optimismus, Rowohlt Verlag). Hier hat jeder Erziehende/Lehrer eine eigentliche Verpflichtung und kann mit seinem Handeln im alltäglichen Umfeld dazu beitragen, dass das Kind Vertrauen in die eigene Kraft und die eigene Fähigkeiten gewinnt, dass es sich selbst als wertvoll erlebt und dass es durch seine eigenen Handlungen Veränderungen bewirkt. Kernpunkte der Resilienz (wie: – Suche dir einen Freund und sei anderen ein Freund. – Fühle dich für dein Verhalten verantwortlich. – Glaube an dich selbst.) sollen Kindern beigebracht werden.

    Resilienz hat auch gar nichts mit dem modernen Hype des “Manifestieren” zu tun. Das Konzept des Manifestierens beschönigt die gleiche verblendete Logik, die behauptet, Armut sei eine Wahl, und die vielen politischen Desinformationen zugrunde liegt. Wenn die Realität nur das ist, was wir aus ihr machen, dann werden die Skrupellosesten die meiste Macht haben, die Zukunft zu gestalten.
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  • Resiliente Menschen geben sich nicht selbst die Schuld:
    Am Beginn einer Krise sind Schuldgefühle fast unvermeidlich. Die Betroffenen quälen sich mit Selbstvorwürfen. “Hätte ich nur nicht soviel gearbeitet, dann wäre sie heute noch bei mir”, “Wenn ich ihm nur nicht erlaubt hätte, Motorrad zu fahren … “”,Wäre ich nur aufmerksamer gewesen”. Resiliente Menschen unterscheiden sich jedoch von anderen dadurch, dass sie ziemlich bald diese Selbstanklagen beenden und ihren eigenen Anteil an der Krise realistisch einschätzen. Sie erklären sich das Geschehen nicht mehr ausschliesslich internal (“ich allein bin schuld”), sondern erkennen auch, was andere oder die Umstände dazu beigetragen haben. je mehr es gelingt, externe Faktoren verantwortlich zu machen, desto geschätzter ist das eigene Selbstwertgefühl, desto grösser die Chance, über einen Schicksalsschlag schneller hinwegzukommen.
    Der Münchner Psychologe Dieter Frey konnte dies in Studien mit Unfallopfern belegen. Zwei Tage nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus wurden die Patienten gefragt: Wer ist schuld am Unfall? Wäre er vermeidbar gewesen? Glauben Sie, Ihre Genesung beeinflussen zu können? Das Ergebnis: Patienten, die ihrer Situation eine positive Seite abgewinnen konnten und glaubten, nicht selbst schuld am Unfall zu sein, erholten sich schneller von ihren Verletzungen als Unfallopfer, die mit ihrem Schicksal haderten (“Warum gerade ich?”) und den Unfall für vermeidbar hielten. Diese Menschen brauchten im Schnitt 140 Tage, ehe sie ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten, während die optimistischen bereits nach 80 Tagen an ihren Arbeitsplatz zurückkehrten.
  • Resiliente Menschen planen voraus. Sie nehmen eine Langzeitperspektive ein und entwickeln realistische Ziele:
    Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Ihr Arbeitsplatz irgendwann gefährdet sein könnte? Halten Sie es für möglich, dass Ihre Ehe scheitert? Was ist, wenn Ihr Vermieter Ihnen kündigt und Sie umziehen müssen? Sind Sie vorbereitet aufs Älterwerden? Resiliente Menschen, so zeigt die Forschung, halten nichts für selbstverständlich. Sie rechnen mit den Wechselfällen des Lebens und beschäftigen sich gedanklich damit. Die Frage “Was wäre, wenn…” stellen sie sich auch in Zeiten, in denen noch kein Anlass zur Sorge besteht. Auf diese Weise sind sie auf die “vorhersehbaren Veränderungen” im Leben vorbereitet, zu denen nach dem Psychiater Frederic Flach (Resilience. The Power to Bounce Back When the Going Gets Tough!, New York 1997) vor allem bestimmte Zäsuren und Übergangsphasen gehören: Heirat, die Geburt eines Kindes, der Tod der eigenen Eltern, Berufswechsel, Scheidung, Älterwerden. Resiliente Menschen werden von diesen Wendepunkten des Lebens und den damit verbundenen Problemen nicht völlig überrascht, weil sie sich gedanklich darauf vorbereiten.
    Auch H. Norman Wright (Resilience. Rebounding When Life’s Upsets Knock You Down, Michigan 1997) ist überzeugt davon, dass vorausplanendes Krisenmanagement die Resilienz stärkt. Seiner Ansicht nach müsste beispielsweise so manche Ehe nicht vor dem Scheidungsrichter enden, wenn sich die Paare mit den Problemen und Herausforderungen beschäftigen würden, die im Laufe des Zusammenlebens auftreten können. Auch Paare, die sich ein Kind wünschen, können durch Vorausplanung vielen Krisen der Elternschaft die Schärfe nehmen. Und Menschen, die sich mit den Facetten des Älterwerdens auseinandersetzen, bewältigen die damit verbundenen Veränderungen besser.
    Resilienz, die Elastizität eines Bungeebandes, benötigen wir nicht nur wenn schlimme Ereignisse uns auf eine schwere Probe stellen. Resilienz ist auch ein wichtiger Schutz vor Alltagsstressoren, die immer zahlreicher und intensiver auf uns einwirken. “Es ist eine Sache, durch Zeiten der Unsicherheit und Instabilität zu gehen, wenn die Welt um uns herum einigermassen stabil ist”, meint Frederic Flach. “Aber es ist etwas völlig anderes, wenn die Veränderungen um uns herum immer zahlreicher werden und sich ganze Gesellschaften im Umbruch befinden.”
    Noch ist das Scheitern “das grosse moderne Tabu ” , wie der Soziologe Richard Sennett schreibt. “Wie wir mit dem Scheitern zurechtkommen, wie wir ihm Gestalt und einen Platz in unserem Leben geben, mag uns innerlich verfolgen, aber wir diskutieren es selten mit anderen.” Die Ergebnisse der Resilienzforschung sind ein erster wichtiger Schritt, dieses Tabu zu brechen.
    ( Ursula Nuber “Psychologie Heute” (Mai 1999 und Sept.05) )

Resilienzkritik

Was in der momentanen Resilienzbegeisterung ausgeblendet wird, sind ihre zwiespältigen impliziten Botschaften, so die Handlungsfähigkeit durch Selbstoptimierung – suggeriert wird damit die Idee von Bemeisterung und Kontrolle. In der Vorstellung einer solchermassen smarten Anpassung geraten die eigentlichen Ursachen und Hintergründe der Resilienzerfordernisse aus dem Fokus. Die Verantwortung für das Zurechtkommen in einer sozial gefährdeten und massiv bedrohten Ökosphäre wird an die Einzelnen verschoben. Fragen nach dem wirtschaftlichen und politischen Kontext dieser Bedrohungen und nach deren Verantwortlichen verschwinden. Sollten wir aktuell vielleicht eher rebellisch statt resilient leben und damit die systemischen Ursachen der sozialen und ökologischen Krisen infrage stellen?

Zudem: Angst, Schwäche und Hilflosigkeit kommen im Resilienznarrativ nicht vor. Der zukunftsfähige Mensch hat sich erfolgreich angepasst und verantwortet sein seelisches Überleben scheinbar allein. Muss sich schämen, wem dies nicht gelingt? Was geschieht, wenn wir vom Bedürfnis nach Überlegenheit und Kontrolle um jeden Preis loslassen?

Resilienz bedeutet aber noch etwas: einen Lernprozess zu durchlaufen. Und der basiert immer auf Transformation. In der Suche nach Neu-Anpassung verändern wir uns, unsere Sicht auf und unseren Bezug zur Welt. Jenseits der Selbstoptimierungslogik eröffnet sich ein Feld kritischer Kreativität. Können wir in gemeinsamer Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen lernen, unser Zusammenleben mit und auf diesem Planeten neu, anders und vor allem besser zu gestalten? So verstanden – ein Tusch auf die Resilienz!
(Vera Kattermann in Psychologie Heute, 01/2024)

Burnout

Burnout umfasst eine tiefe Identitätskrise, die oftmals ihren Ursprung in zu hohen Erwartungen an eine Situation hatte. Die letztendliche Totalerschöpfung ist das sozial akzeptierte Zeichen nach aussen, dass etwas nicht stimmt. Burnout ist allerdings mehr als Erschöpfung, die auch entstehen kann wenn man wegen Termindruck drei Wochen durcharbeitet oder fünf Freunden am Stück beim Umzug hilft. Burnout entsteht früher und geht tiefer. Wer selbst noch in der Lage ist, die Reissleine zu ziehen und aktiv Dinge zu tun, die einem gut tun, ist zum Glück noch ein Stück vom Burnout entfernt.
Fabienne Riener hat in diesem wunderbaren Text aufgeschrieben, wie Burnout entsteht, meistens nicht von drei Nachtschichten in einer Woche, sondern eher dann, wenn man lange auf ein Ziel hinarbeitet und regelmässig seine Grenzen überschreitet. Ein spannender Text, den alle lesen sollten, die öfter mal länger arbeiten.
Mehr über das Burnout hier >>>

Krisen? Verlust?

Zurzeit sind wir bereits in fünf Krisen gefangen: Artensterben, Klimakrise, Pandemie, der russische Angriffskrieg und die millionenfache Flucht aus der Ukraine. In zwei weitere bewegen wir uns hinein: Schon begonnen hat eine globale Nahrungsmittelknappheit, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch mehr Flüchtende nach Europa bringen wird, diesmal von Süden, da, wo demnächst gehungert wird. Das sind dann sieben Krisen, und da reden wir noch nicht von der Inflation, von der Krise der Globalisierung oder der westlichen Demokratien.

In Anbetracht dieser Angriffe auf unsere Resilienz, wie sollen wir zuversichtlich bleiben?

Ich habe in letzter Zeit über das Verlieren nachgedacht und darüber, wie sehr es ein integraler Bestandteil unserer gesamten Vorstellung vom Universum – und vor allem von Krisen ist. Ich bin ständig am Verlieren. Ich verliere Vitalität. Ich verliere Würde. Ich verliere Geld. Ich verliere meine Jugend. Ich verliere meinen Hund, und langsam, unausweichlich verliere ich meinen Verstand. Irgendwo habe ich gelesen: “Was das Ego zu verlieren fürchtet, ist der Verlust selbst.” Das Ego gedeiht, indem es sich am Verlust labt. Jedes Mal, wenn es mich davon überzeugen kann, zu glauben, dass ich etwas oder jemanden verloren habe, verstärkt es die Idee der Trennung; und was ist das Ego anderes als die Idee der Trennung?
Könnten wir gemeinsam damit beginnen, die Grundvoraussetzung der Idee des Verlustes zu hinterfragen? Wie würden wir dann “äussere” Ereignisse wie die Pandemie unserer Zeit oder das Ableben eines geliebten Menschen erleben?
Es gibt dabei einige Hindernisse, die im Wege stehen. Das erste ist, dass ich zutiefst süchtig nach allen Gefühlen bin, die mit Verlust verbunden sind. Ich werde “entziehen” müssen. Wie einige von euch wissen, macht eine Entzug keinen Spass, und sie ist auch nicht angenehm. Die zweite Herausforderung könnte darin bestehen, dass ich die Gültigkeit des breiten Spektrums von Gefühlen in Frage stellen muss, die von der Gesellschaft sanktioniert werden, wenn es um Verlust geht, und dabei könnte es so aussehen, als würde ich meine Menschlichkeit in Frage stellen. Das tue ich. Ist es nicht an der Zeit, unsere menschliche Verkleidung zu durchschauen und unsere “unveränderliche Göttlichkeit” zurückzufordern?

Die Zehn Gebote als Krisenprophylaxe

Peter Modler beschreibt in seinem Buch “Die Königsstrategie – so meistern Männer berufliche Risiken” realitätsnah den “selbstmörderischen Luxus” vermeintlicher Souveränität, aber auch, wie es Managern gelingen kann, die “persönliche Resettaste” zu drücken.Dies ist spätestens dann nötig, wenn die Herausforderungen der Arbeit die persönlichen Bindungen in der Partnerschaft, zu Familie, Freunden und selbst zum eigenen Körper zerstören und die Brücken zum Leben jenseits der Arbeit brechen.
Die Empfehlungen des Autors fassen sich am besten zusammen in den “Zehn Geboten des Königs”:

  • Du sollst auf die kleinen Fehler achten!
  • Du sollst keine Angst haben vor einem Rückzug!
  • Du sollst feiern!
  • Du sollst nicht fett werden!
  • Du sollst ein sexuelles Leben haben!
  • Du sollst die Initiative zurückgewinnen!
  • Du sollst keine Angst haben, etwas anders zu machen als alle anderen!
  • Du sollst rechtzeitig um Rat fragen!
  • Du sollst deine Kinder kennen!
  • Du sollst keine Angst vor einem Neuanfang haben!

Trainingsprogramm aus der Krise

Manche Wälder auf der Erde müssen brennen, damit neues Leben in ihnen entstehen kann. Auch der Mensch ist dafür gemacht, Krisen zu bewältigen, etwa den Tod der Eltern seelisch zu verkraften oder den Verlust des Arbeitsplatzes oder eben auch die Corona-Pandemie. Die Psyche ist widerstandsfähig. Wissenschaftlerinnen und Forscher bezeichnen diese Fähigkeit als Resilienz. Die meisten Menschen überstehen einen Schicksalsschlag, ohne dass sie etwa eine Angststörung entwickeln, depressiv werden oder suchtkrank. Aber Resilienz zeigt sich auch darin, dass man seelische Not rechtzeitig ernst nimmt, sich Unterstützung und Hilfe holt – und dadurch schneller wieder stabil oder gesund wird.
Wie die Natur das Feuer braucht der Mensch sogar Krisen. Wer im Laufe seines Lebens mehrere belastende Ereignisse erlebt, besitzt ein geringeres Risiko, psychisch krank zu werden, als jemand, der keine negativen Erfahrungen macht (Psychological Science: Seery et al., 2013).
Die Kurve verläuft allerdings U-förmig: Zu viele oder zu harte Schicksalsschläge machen einen psychisch anfälliger.
Die grundsätzlich gute Nachricht: Das Gehirn schützt uns in Krisenzeiten. Welche neurobiologischen Mechanismen dafür verantwortlich sind, wissen Forscher bisher noch nicht so genau. Doch welche psychologischen und sozialen Mechanismen uns widerstandsfähig machen, welche mentalen und emotionalen Resilienzfaktoren eine Rolle spielen, ist inzwischen gut untersucht. In den vergangenen 50 Jahren sind ganze Forschungszweige entstanden. Es gibt auch spezielle Zentren, die sich der Resilienz widmen.
Oliver Tüscher arbeitet im Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) in Mainz und weiss: »Viele Menschen kommen gut durch eine Krise, das hat auch Covid-19 gezeigt. Aber es gibt eben auch manche, denen es schwerer fällt.« Tüscher und seine Kollegen wollen vor allem herausfinden, wie man genau diese Gruppe unterstützen kann. Dachte man lange Zeit, dass eine widerstandsfähige Seele grösstenteils Glückssache sei, sind die Wissenschaftlerinnen heute überzeugt: Resilienz lässt sich bis zu einem gewissen Grad entwickeln und trainieren. Und zwar nicht nur als Kind, sondern auch in erwachsenem Alter.
Für manchen seelischen Lernprozess braucht der Mensch ein Gegenüber. Anderes kann man sich jedoch auch im Alleingang aneignen. So gibt es inzwischen zahlreiche Apps und Onlineprogramme, die dabei helfen sollen, resilienter zu werden. Das Mainzer LIR hat etwa speziell für die Corona-Zeit einen kostenlosen Kurs entwickelt und gibt auf seiner Website Tipps, wie man seine psychische Gesundheit in der Pandemie stärken kann.
(Quelle: Andrea Böhnke aus DIE ZEIT No.33 / 2020)

7 Faktoren, die die Resilienz fördern:

Welche Methoden besonders wirksam sind, ist Gegenstand umfangreicher Forschung. Befragungen und Studien, in denen die Teilnehmer sich selbst einschätzen, legen nahe, dass die folgenden sieben Faktoren die Resilienzfähigkeit am verlässlichsten fördern können.
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1. Das soziale Netz erweitern (oder verengen)
Sozial eingebunden zu sein gilt als einer der wichtigsten Resilienzfaktoren. Damit ist nicht nur gemeint, dass man einen Partner hat, eine Familie, auf die man sich verlassen kann, und Freunde. Es geht ebenso um die Beziehungen zu Kollegen, Mitgliedern des Sportvereins, Nachbarn. Wer herausfinden möchte, ob er privat und im Job gleichermassen gut aufgefangen wird, kann sein soziales Netz einmal spielerisch visualisieren. In der Resilienzambulanz des LIR kommt dafür die folgende Technik zum Einsatz: Man schreibt zunächst seinen Namen mittig auf ein grosses Blatt. Dann setzt man jeweils in eine der vier Ecken die Namen wichtiger Personen aus den Bereichen Beruf, Partnerschaft/Familie, Freunde, Nachbarschaft/Verein und zieht Kreise um jeden Namen – je wichtiger die Person, desto grösser der Kreis. Nun verbindet man den eigenen Kringel mit den Kringeln der anderen und zwar abgestimmt, nach der Qualität der Beziehung. Die Linien können etwa dick sein (viel Kontakt) oder dünn (wenig Kontakt), gerade (positive Beziehung) oder wellenförmig (schwierige Beziehung). Diese Methode macht Lücken oder Ungleichgewichte im sozialen Netz sichtbar: Zum Beispiel, dass man zwar einen verlässlichen Partner hat, aber keine vertrauenswürdige Bezugsperson im Büro. Oder dass man viele flüchtige Bekanntschaften pflegt, aber keine tiefergehende Beziehung. »Das sind Anzeichen dafür, dass man sein soziales Netz weiter weben sollte – oder auch enger knüpfen«, sagt Resilienzforscher Oliver Tüscher. Also etwa oberflächliche Kontakte reduzieren und sich auf die wesentlichen konzentrieren, die man als ausgewogen und unterstützend erlebt.
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2. Verzerrte Wahrnehmungen des Gehirns erkennen
Gemäss diversen Befragungen wurde eine Zunahme der psychischen Belastungen und Störungen durch die Corona-Pandemie beobachtet (Schweiz oder Deutsches Ärzteblatt). Um einen ersten Eindruck der aktuellen Verfassung der Menschen zu erhalten, hatten Forscher verschiedener renommierter Universitäten in Deutschland zusammen mit Kollegen aus ganz Europa 5.000 Menschen befragt. (PsyArXiv: Veer et al., 2020.
In einer ersten Auswertung der Ergebnisse kündigen die Forscher an, dass die Studie erstmals beweisen soll, dass Menschen seelisch widerstandsfähiger sind, wenn sie einer schlechten Erfahrung etwas Gutes abgewinnen können. Probanden etwa, die sich über den blauen Himmel in der Lockdownphase freuen konnten, oder darüber, auf dem Weg zur Arbeit nicht im Stau zu stehen und mehr Zeit mit der Familie zu haben, erlebten die Pandemie als weniger belastend. Das Konzept der sogenannten positiven Neubewertung einer zunächst schwierigen Situation, auf Englisch Positive Reappraisal, ist zwar schon länger bekannt. So weiss man etwa aus der Stressforschung, dass man Belastungen besser bewältigt, wenn man sich nach dem ersten Gefühl der Überforderung darauf besinnt, welche Stärken, Ressourcen und Möglichkeiten man vielleicht doch hat, um die Schwierigkeiten in Einzelschritten anzugehen. Die Resilienzforscher haben bislang nur vermutet, dass diese Erweiterung des Blickwinkels auch resilienter machen könnte.
Eine wirksame Methode, das meinen verschiedene Forscher (Explore: Garland et al., 2009; BMJ Open: Joyce et al., 2018), um die positive Neubewertung zu trainieren, ist die Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). »Achtsamkeit kann ein Weg sein, um an sich negative emotionale Ereignisse in einem ersten Schritt neutral beziehungsweise nicht zu bewerten, um dann in der Lage zu sein, dieses Ereignis neu und gegebenenfalls positiver zu bewerten«, sagt Resilienzforscher Oliver Tüscher. Man lenkt hierbei seine Aufmerksamkeit wieder auf den aktuellen Moment – der meist weniger dramatisch ist als das Katastrophenszenario, das man sich im Kopfkino gerade ausmalt. Gedanken wie: Es wird alles ganz furchtbar werden und bergab gehen. Und zum anderen hilft Mindfulness, solche natürlichen Negativverzerrungen des Gehirns in Gefahrenlagen als solche wahrzunehmen – und sie besser loszulassen. Denn das Gehirn neigt bei Gefahr und unter Einfluss von Stresshormonen dazu, die Situation im Zweifel als bedrohlicher einzuschätzen, als sie ist. Dieser evolutionäre Schutzmechanismus führt dazu, dass sich der Blick aufs Überleben verengt – und man dabei vieles ausblendet. Mit Methoden wie dem MBSR lernt man, auch in sehr fordernden und belastenden Situationen noch das Positive im Leben mitzubekommen, also das, was einen seelisch nährt und einem Kraft gibt. Und das man sonst vor lauter Konzentration auf die Problembewältigung eher einfach übersehen hätte.
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3. Bereiche identifizieren, die sich kontrollieren lassen
Wer überzeugt ist, seine eigene Situation günstig beeinflussen zu können, ist resilienter. In der Psychologie wird diese Fähigkeit als Selbstwirksamkeitserwartung bezeichnet. Das zeigen verschiedene Studien (International Journal of Behavioral Medicine: Luszczynska, 2004; Behaviour Research and Therapy: Benight/Bandura, 2004; zusammenfassend: Resilienz und psychologische Schutzfaktoren im Erwachsenenalter: Bengel/Lyssenko, 2012).
Man sollte in einer schwierigen neuen Lage etwas suchen, das man kontrollieren kann.
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Doch es gibt freilich Situationen, die sich nicht oder nur schwer kontrollieren lassen. Sei es, weil einem gekündigt wird, weil sich der Partner trennt oder ein neues, gefährliches Virus um die Welt geht. Doch auch in diesen Situationen lässt sich eine gute Selbstwirksamkeitserwartung erleben. Erster Schritt: Zunächst einmal akzeptieren, dass eine Situation komplex ist. »Auch wenn man etwas gerade nicht komplett ändern kann, so kann man doch Bereiche identifizieren, in denen man selbst Herr oder Herrin der Lage ist«, sagt Resilienzforscher Tüscher. Alles, bei dem man das Gefühl hat, dass das, was man tut, zu einem Ergebnis führt. Ein Beispiel: Während des Corona-Lockdowns durfte man zwar nicht ins Fitnessstudio gehen, konnte aber Work-out zu Hause machen oder Sport im Freien. Man war Herr oder Herrin seiner körperlichen Aktivität.
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4. Nachrichtenpausen einlegen
Bildung und Wissen gelten allgemein zwar als Schutzfaktoren für die Gesundheit – auch die der Seele. DieDynaCORE-C-Studie weist jedoch darauf hin, dass Nachrichten in der Corona-Zeit für die Befragten einer der belastendsten Faktoren waren. Speziell in dieser Krise rät das Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz daher, bewusste Informationspausen einzulegen, also nicht süchtig von früh bis spät News aufzusaugen. Damit sich die erschütterte Seele auch mal ein paar Stunden erholen kann. Auch sei es ratsam, nur vertrauenswürdige, seriöse Quellen heranzuziehen, so die Resilienzexperten. Also nicht solche, die gezielt Ängste schürten, Verschwörungstheorien verbreiteten oder Misstrauen säten. Das schützt nicht nur vor gefährlichem Fehlverhalten in der Pandemie – sondern es schützt auch die eigene Psyche.
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5. Krisen als Trainingslager sehen
»Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, sagte einst der Philosoph Friedrich Nietzsche. Forscher wissen heute, dass manche Menschen tatsächlich gestärkt aus einer Krise hervorgehen. Sie sprechen auch von posttraumatischer Reifung, auf Englisch Posttraumatic Growth. Einige Menschen entwickeln durch einen Schicksalsschlag etwa neue Interessen, fühlen sich mit anderen verbundener und schätzen sich selbst und das Leben mehr wert (Resilienz und posttraumatische Reifung: Sprung et al., 2018). Das macht sie wiederum psychisch stärker in einer nächsten Krise. Was hinter dem Phänomen der posttraumatischen Reifung steht, weiss die Wissenschaft noch nicht genau, so ist etwa noch nicht abschliessend geklärt, ob die Betroffenen nur den Eindruck haben, innerlich gewachsen zu sein – oder ob sie es tatsächlich sind. Doch so oder so: Die Fähigkeit, mit einer schwierigen Situation fertig zu werden, kann man auch in der Situation lernen – und entwickelt dadurch womöglich seine Resilienz für die Zukunft weiter. Wissenschaftler nennen diese Krisenbewältigungskraft auch Coping-Fähigkeit.
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6. Realistisch optimistisch sein
Menschen mit einer realistisch-optimistischen Grundhaltung sind resilienter als andere. In Krisen wie der Corona-Pandemie ist es allerdings für viele eine Herausforderung, eine Balance zwischen den Extremen zu finden: der grossen Besorgtheit auf der einen Seite (»Wir werden vielleicht bald sterben«) und der Sorglosigkeit auf der anderen (»Die Gefahr ist vorüber«). Resilienzprogramme im Internet nutzen oft die Methode des expressiven Schreibens, um das realistisch-optimistische Denken zu schulen. Man schreibt sich hierbei sprichwörtlich alle Gedanken und Gefühle von der Seele. Verschiedene Studien belegen, dass die Technik wirkt (zusammenfassend: Verhaltenstherapie: Horn et al., 2004). In einigen Fällen konnten die Probanden durch das Schreiben etwa besser ihre Emotionen regulieren. Sie verwendeten in Gesprächen mit anderen auch mehr soziale und positive Wörter und konnten ihre Selbstwirksamkeitserwartung verbessern.
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7. Den Körper miteinbeziehen
Es klingt mitunter immer noch überraschend, aber die Seele lebt und wirkt eben nicht isoliert in uns: Wer seine Psyche in Krisenzeiten oder auch präventiv schützen will, sollte auf seinen Körper achten (Health and Quality of Life Outcomes: Liu et al., 2017; Biological Psychology: Haase et al., 2016). Das bedeutet: So gut es geht ausreichend schlafen, sich Zeit nehmen für regelmässige Mahlzeiten, sich bewegen und gerade in Stresszeiten eher wenig Alkohol trinken.
(Copyright bei DIE ZEIT No. 33 / 2020)
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Kostenlose Onlinetrainings zur Steigerung der Resilienz von div. Universitäten:
geton-training.de/

Resilienz in der Pandemie

Zunahme der psychischen Belastung in der Pandemiezeit

Achtung Verzerrung dieser Befragung:
In der Pandemie nahmen drei Tendenzen massiv zu:
Die Enttabuisierung der psychischen Erkrankungen vor allem durch die Social Media (deshalb ist auch die Zunahme bei Jugendlichen so viel stärker).
Dann befinden wir uns im Zeitalter der Psychologisierung (Stichwort “Worried Well”)
Und die Disease Mongering, also …

Resilienz bei Abtreibungen

Als 2022 der Oberste Gerichtshof der USA entschied, jahrzehntelang geltendes Abtreibungsrecht zu kippen (auch bekannt unter der Bezeichnung “Roe vs Wade”), bezog sich das Gericht unter anderem auf wissenschaftliche Studien, die nahelegten, dass Abtreibungen das Risiko für psychische Krisen dramatisch erhöhen. Das zeigt, wie wichtig wissenschaftliche Arbeiten für die juristische Beurteilung von politischen Anliegen sind. Doch was wäre, wenn die wissenschaftlichen Arbeiten fatale Fehler enthielten?

Genau das wirft nun eine Gruppe von Wissenschaftler:innen mehreren Studien vor, die auch bei der Entscheidung 2022 eine wichtige Rolle spielten. Der Fall ist ins Rollen geraten, nachdem vor Kurzem drei Studien zurückgezogen wurden, die sich mit der Sicherheit der sogenannten Abtreibungspille Mifepristone beschäftigten. Auch sie waren in Gerichtsverhandlungen zur Gesetzeslage herangezogen worden, damit sich die Richter ein Urteil bilden.

Weitere vier Studien sehen die Wissenschaftler:innen sehr kritisch und verlangen ebenfalls, dass die Magazine, in denen sie veröffentlicht wurden, die Arbeiten zurückziehen. Da in den USA inzwischen Verhandlungen über Abtreibungen an der Tagesordnung sind, hält es die Kritiker-Gruppe für sehr wichtig, dass die Grundlage, auf der die Urteile beruhen, nicht durch Junk-Science beeinflusst wird, also durch Publikationsmüll.

Genau das seien die Studien, die herausgefunden haben wollen, dass Abtreibungen zu einem höheren Risiko für psychische Krisen führen. Denn sie hätten ernste methodische Fehler. Das sehen Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen so, darunter auch Expert:innen in biomedizinischer Statistik. Die Methoden, die in diesen Studien benutzt wurden, sind ihrer Ansicht nach nicht dazu geeignet, zu Aussagen dieser Art zu kommen.

Stattdessen sei es wissenschaftlicher Konsens, dass die psychische Gesundheit nach einer Abtreibung vor allem dadurch bestimmt ist, wie sie vor der Abtreibung war. Ausserdem seien Frauen, die ungewollt schwanger werden, immer psychisch belastet – egal ob sie abtreiben oder das Kind bekommen. Und: Frauen, die nicht abtreiben dürften, litten sowohl psychisch als auch finanziell.

(…)

In der Wissenschaft gibt es eigentlich etablierte Mechanismen, die dafür sorgen, dass Publikationsmüll entsorgt wird. Doch dieses Beispiel zeigt, dass diese Mechanismen nicht mehr greifen, wenn politische Interessen mit unlauteren Methoden durchgesetzt werden sollen. Dabei spielt auch das unsägliche Geschäftsmodell der Wissenschaftsmagazine eine bedeutende Rolle. Ein Experte schätzt, dass eigentlich eine von 50 Studien zurückgezogen werden müsste und nicht eine von 500, wie es derzeit der Fall ist.
(Quellen: Silke Jäger in forum.eu, 29.04.24 & theguardian.com/world/2024/apr/28/junk-science-papers-abortion-cases)

Lesen Sie dazu auch die verwandte Seite über die Krebsheilung! und die Verwandtschaft zum Kohärenzgefühl von Antonovsky !

…und mein Blogbeitrag über “Burnout”: walserblog.ch/2017/11/06/burnout/

Über die existentiellen “letzten Fragen” im Leben, z.B. die allgegenwärtige Angst vor dem Tode!

Veröffentlicht am 13. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
16. Mai 2024

Internetrecherche mit Medline

Internet-Recherchen mit MEDLINE

(Quellen: Der informierte Arzt; 20:123-126,1999 + infomed-screen, 2000, 2005, 2008, 2009, 2015; USZ-Fortbildung 2016; eigene letzte Überarbeitung: Januar 2017)

Kurzinformation zur Benützung des PubMed-Zugangs zur Medline (Universität Zürich,2016): www.dr-walser.ch/pubmed.pdf

MEDLINE ist weltweit eine der wichtigsten Ressourcen für die bibliographische Internet-Recherche. Es gibt unzählige Websites, die – unentgeltlich oder gegen Bezahlung – die Datenbanksuche ermöglichen. Die National Library of Medicine hat einen Gratisdienst für die Internet-Recherche eingerichtet. Um diesen Dienst wirklich ausnützen zu können, ist es unumgänglich, die Basis der Suchtechnik zu erlernen.

Die National Library of Medicine (NLM) von Bethesda ist die grösste Medizinbibliothek der Welt. Sie hat in den 60er Jahren damit begonnen, das MEDLARS (MEDical Literature Analysis and Retrieval System) aufzubauen. Dieses System umfasst über 40 Datenbanken, die ihrerseits Zitate von über 19 Millionen Artikeln zu den verschiedensten Themen aufweisen (eine Übersicht dazu findet sich unter: www.nlm.nih.gov/databases/index.html).
Die wichtigste biomedizinische Datenbank ist MEDLINE (MEDLars onLINE); Diese deckt die Bereiche Human-, Zahn- und Veterinärmedizin, Krankenpflege, Gesundheitswesen und vorklinische Studien aus zirka 4`500 biomedizinischen Fachzeitschriften seit 1966 ab. Bis heute sind über 10 Millionen Zitate zusammengetragen worden. Dieser Artikel soll Ihnen Basisinformationen über die Struktur der MEDLINE-Datenbank liefern und eine Einführung in die effiziente Suche via PubMed bieten, dem Gratissuchdienst des NLM, der seit dem 26. Juni 1997 zur Verfügung steht.

Die Anatomie von MEDLINE

Jedes Zitat in MEDLINE repräsentiert einen Artikel einer Zeitschrift. Die einzelne Nennung, der Record, setzt sich zusammen aus einer Serie von Feldern, die Informationen liefern über Titel, Namen der AutorInnen (bis 25 Namen), Abstracts (bei 80 % der Nennungen verfügbar), Schlüsselwörter für die Suche (MeSH), bibliografische Quellenangaben (Zeitschrift, Jahrgang, Nummer, etc.), Sprache, in welcher der Artikel veröffentlicht wurde (80 % in Englisch) und Art des Artikels (Editorial, Kommentar, Brief, Review etc.):

 

Tabelle 1
Standardformat eines MEDLINE-Eintrags
TI – TITLE: Cholesterol lowering after participation in the Scandinavian Simvastatin Survival Study (4S) in Finland
AU – AUTHOR: Strandberg TE; Lehto S
AD – AUTHOR AFFILIATION: Department of Medicine, University of Helsinki, Finland.
SO – SOURCE: Eur Heart 1997 Nov;18(11):1725-7
UI- MEDLINE Unique Identifier: 98066059
CM – COMMENT: Comment in: Eur Heart J 1997 Nov;18(11):1695-6
AB – ABSTRACT: BACKGROUND: Patient compliance is crucial for the effectiveness 1 of preventive medication. The aim of the study was to investigate changes
MH – MAIN MESH SUBJECTS: Anticholesteremic Agents/*therapeutic use; Coronary Disease/*prevention & control; Simvastatin/*therapeutic use
MH – ADDITIONAL MESH SUBJECTS: MH – female
MH – Finland
MH – Human
MH – Support, Non-U.S. Gov’t
PT – PUBLICATION TYPES: CLINICAL TRIAL
JOURNAL ARTICLE
RANDOMIZED CONTROLLED TRIAL
LA – LANGUAGE: Eng

Die Medical Subject Headings (MESH) definieren die Themen des jeweiligen Artikels im Detail. Sie stellen die Schlüsselwörter dar, mit deren Hilfe sich die Zitate innerhalb der Datenbank suchen lassen. Die MeSH-Begriffe sind hierarchisch strukturiert, so dass sich bei einer Suche mit allgemeineren Termini auch Artikel finden, die spezifischer indiziert sind, aber dem gleichen Themenkreis angehören (Tabelle 2). Der einzelne MESH-Begriff wird durch Subheadings (Unterbegriffe, die jeden Terminus genauer umschreiben) ergänzt.
Ein Beispiel: Der Begriff breast cancer kann die Subheadings drug therapy, surgery, radiotherapy, economics, etc. beinhalten, entsprechend den diversen Inhalten, die unter dem Begriff breast cancer zusammengefasst sein können. MESH-Begriffe und -Unterbegriffe können mit Hilfe des MeSH-Browser (www.nlm.nih.gov/mesh/MBrowser.html) aus der MeSH-Database (Abbildung 1, unten rechts) gesucht werden. Dies ist eine enorme Hilfe. Das hilft nicht nur bei uneinheitlicher Terminologie (“cancer” oder “carcinoma”?) sondern auch bei möglicherweise etwas eingerosteten Englisch-Kenntnissen.
Einige Hinweise:
  • Konstruieren Sie Ihre Abfrage nicht zu eng.
  • Benutzen Sie im Zweifelsfall einen übergeordneten Begriff aus der MeSH-Hierarchie (dem sogenannten (“tree”): untergeordnete Begriffe werden von der Suche miterfasst.
  • Benutzen Sie erst in zweiter Linie die «Subheadings» (erreicht man nach der Eingabe in der MeSH-Database), um Ihre Abfrage einzugrenzen (z.B. Richtung Therapie, Diagnose, Komplikationen, Mortalität, etc.). Auch der Menu-Punkt “Clinical Queries” unten in der Einstiegsseite erlaubt die Suche von klinisch interessanten Artikel nach vier Gesichtspunkten (Therapie, Diagnose, Ätiologie und Prognose).

Tabelle 2
Beispiel der hierarchischen Struktur des MESHDie baumartige Struktur dient dazu, einen Artikel mit spezifischen Termini zu klassifizieren und ihn gleichzeitig auch für allgemeinere Suchbegriffe zugänglich zu machen (Beispiel: Eine Suche mit dem Begriff Rectal Neoplasms Findet auch Artikel, die – hierarchisch tiefer klassifizierte – Begriffe wie Anus Neoplasms oder Anal GIand Neoplasms enthalten). Das MeSH-Wörterbuch wird durch eine spezielle Kommission der NLM gepflegt. Diese Kommission entscheidet jährlich darüber, welche Begriffe eingeführt, ausgeschlossen oder abgeändert werden. Das MESH von 1998 enthält über 18 000 Stichwörter.A. AnatomyB. OrganismsC. Diseases
C1. Bacterial Infections and Mycoses
C2. Virus Diseases
C3. Parasitic Diseases
C4. Neoplasms
Cysts
[…]
Neoplasms by Histologic Type
Histiocytic Disorders, Malignant +
Leukemia +
Lymphatic Vessel Tumors +
Lymphoma +
Neoplasms by Site
Abdominal Neoplasms +
Digestive System Neoplasms
Biliary Tract Neoplasms
Esophageal Neoplasms
Gastrointestinal Neoplasms
Intestinal Neoplasms
Cecal Neoplasms
[…]
Rectal Neoplasms
Anus Neoplasms
Anal Gland NeoplasmsD. Chemicals and Drugs
E. Analytical, Diagnostic and Therapeutic Techniques and Equipment
F. Psychiatry and Psychology
G. Biological Sciences
H. Physical Sciences
I. Anthropology, Education, Sociology and Social Phenomena
J.      Technology and Food and Beverages
K. Hurnanities
L. Information Sclence
M.    Persons
N. Health Care
Z. Geographical Locations

MEDLINE im Internet

1997 hat das NLM PubMed einen wissenschaftlichen Gratissuchdienst, der Recherchen in PREMEDLINE und MEDLINE ermöglicht, eingerichtet. Seither bieten unzählige Websites den Zugang zu MEDLINE an (siehe Tabelle 3 gleich unten). Die MEDLINE-Datenbank ist immer dieselbe, unabhängig davon, woher auf sie zugegriffen wird. Unterschiedlich ist einzig und allein die Software (Suchmaschine), die auf die Datenbank zugreift. Diese kann mehr oder weniger ausgeklügelt, mehr oder weniger einfach zu bedienen und mehr oder weniger an die Bedürfnisse des Einzelnen anpassbar sein.

Tabelle 3
MEDLINE im World Wide Web

Name Besonderes Adresse Gratis?
PubMed DER Klassiker www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi ja
Scirus www.scirus.com ja
Comunity of Science (COS) http://medline.cos.com/ nein
DIMDI + weitere Datenbanken www.dimdi.de/de/db/index.htm ja
Healthworks www.healthworks.co.uk/ref/medline/index.asp ja
Infotrieve Fuzzy Search www3.infotrieve.com/medline/infotrieve ja
Journalfinder deutsche Suchbegriffe, Newsletter www.akh-wien.ac.at/agmb/01_bielefeld/hothan/index.htm ja
Knowledge Finder Fuzzy Logic (“Natural language search”) www.medline.de/ ja
Medscape www.medscape.com ja
OMNI Medline http://omni.ac.uk/medline/ ja
OvidSP professionell http://gateway.ovid.com
für Ärzte in der Schweiz mit HIN-Mitgliedschaft: kostenfrei unter http://hin.escapenet.ch/meddaten.asp
nein

PubMed

Die kostenlos verfügbare Datenbank Medline der amerikanischen «National Library of Medicine» (www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi) wird in stetig neuen, verbesserten Versionen angeboten.
PubMed ist deshalb eine gut à jour gehaltene und sehr vertrauenswürdige Site. Der Zugang auf die Website ist direkt, erfolgt ohne lästige Registrierung und ist auch für uns EuropäerInnen recht schnell. Die zu verwendende Sprache ist natürlich Englisch (in Deutsch: >>>).
PubMed verfügt über eine Basis-Suchfunktion (Basic Search, BS = Eingangsseite) sowie über eine fortgeschrittene Suchfunktion (“Advanced Search”, AS erreichbar über den Link rechts oben): Alle Begriffe können sowohl in der AS als auch in der BS verwendet werden. Mit AS kann das Suchfeld mittels Dropdown-Menu gewählt werden. Ausserdem kann man durch progressives Hinzufügen von Suchbegriffen und Änderung von Suchkombinationen sehr gut strategisch vorgehen.

Basissuche in PubMed:

Abbildung 1: In den drei Gruppen unten finden sich Verweise (Links) zu den meisten Funktionen, wie Zeitschriftenverzeichnis (“Journal Database”), MeSH-Begriffe. “Clinical Queries” erlaubt die Suche von klinisch interessanten Artikel nach vier Gesichtspunkten (Therapie, Diagnose, Ätiologie und Prognose). Ist eine Nennung bekannt (Zeitschrift, Jahrgang, Volume, Seite, Autor), kann mit dem “Single Citation Matcher” direkt auf den entsprechenden Artikel zugegriffen werden. Limits und Hilfe finden Sie oben rechts.

Automatic Term Mapping:
Es genügt, die entsprechenden Schlüsselwörter einzugeben. Beispiel: Werden die Begriffe vitamin c common cold eingegeben, wird PubMed diese Begriffe mit dem MeSH-Wörterbuch, dem Verzeichnis der Zeitschriften und dem Autorenverzeichnis vergleichen. In unserem Fall ohne Eigen- oder Zeitschriftennamen – wird PubMed die Begriffe in «ascorbic acid [MESH] OR vitamin c [Text Word] AND common cold [MESH] OR common cold [Text Word]» übersetzen. Vereinfacht ausgedrückt: Die Software (Suchmaschine) wird alle Artikel suchen, welche die MeSH-Begriffe ascorbic acid (MeSH-Begriff für Vitamin C) und common cold enthalten, sowie jene, in deren Titel oder in der Zusammenfassung die Wörter common cold oder vitamin c stehen.
Werden die Begriffe peterson jp eingegeben, wird PubMed diesen Begriff als Namen ansehen und die Suche im Feld AU (AutorIn) starten. Wenn aber das Schlüsselwort Lancet lautet, wird PubMed den Begriff im Verzeichnis der Zeitschriften finden und auch nur Artikel aufzeigen, die in der genannten Zeitschrift veröffentliche wurden. Mit chang ab asthma children BMJ 1998 werden alle Artikel über Asthma bei Kindern aufgespürt, welche 1998 im British Medical Joumal von AB Chang publiziert wurden.


Abbildung 2: Suchresultate. Die aufgrund der angegebenen Schlüsselwörter gefundenen Dokumente. Mit dem Link “Limits” kann die Suche noch weiter eingeschränkt werden (Erklärung der div. Fields weiter unten). Mit “Display Settings” können die Abstracts der mit einem Häkchen versehenen Artikel aufgerufen werden. Rechts aussen werden bei “Titles with your search terms” weitere Artikel, die in direktem Zusammenhang mit den betreffenden Artikel stehen, aufgeführt.



Abbildung 3: Nach Quelle und Titel, wird der entsprechende Abstract aufgeführt, sofern er zur Verfügung steht. “Related Articles” entspricht demselben Link in Abbildung 2 .

Tabelle 4
Hauptsächliche Suchfelder (Fields) in PubMed (via Link “Limits” oder “Preview/Index” erreichbar):
Name des Suchfeldes
[Abkürzung]
Beschreibung
Affiliation [AD, AFFL] Institution und Anschrift des erstgenannten Autors, manchmal auch weiterer Autorlnnen
All Fields [ALL] Alle Suchfelder: Standard-Feld
Author Name [AU, AUTH] Autorln; das Standardformat lautet: Smith D)
(die Initialen können auch ausgelassen werden)
E.C./RN [RN, ECNO] E.C.-Nummer (von der Enzyme Commission vergebene Nummer, um ein spezifisches Enzym zu definieren)
Entrez Date [EDAT] Datum, an dem der Eintrag PubMed hinzugefügt wurde (nicht das Publikationsdatum); Format Jahr/Monat/Tag (oder Jahr/Monat oder nur Jahr) verwenden
Filter [FILTER] [SB] loall[sb] – Citations with LinkOut links in PubMed.
free full text[sb]  – Citations that include a link to a free full-text article.
full text[sb] – Citations that include a link to a full-text article.
Grant Number [GR] Research grant numbers, contract numbers, or both that designate financial support by an agency of the US PHS (Public Health Service).
Issue [IP, ISSUE] Ausgabennummer der Zeitschrift, in welcher der Artikel publiziert wurde.
Journal [TA, JOUR] Vollständiger oder abgekürzter Name der Zeitschrift oder deren ISBN-Nummer (die Namen der Zeitschriften haben Standard-Abkürzungen; ist diese nicht bekannt, kann sie in der Journal Database, Abbildung 1 links, gesucht werden).
Language [LA, LANG] Sprache, in welcher der Artikel verfasst wurde.
MeSH Date [MHDA] Datum bei dem der Artikel mit MeSH-Begriffe analysiert wurde.
MeSH Major Topic [MAJR] Hauptthema des Artikels
MeSH Subheading [SH] Zu verwenden, um einen MeSH-Überbegriff mit einem Unterbegriff zu verbinden, sofern diese nicht schon verbunden sind.
MeSH Terms [MH,MESH] MeSH-Begriff
Medline Unique ldentifier, MUID, Ul Kennummer; einzige Zahl in der MEDLINE-Datenbank, die ohne rechteckige Klammern geschrieben wird.
Pagination [PG, PAGE] Angabe der Seitenzahl der ersten Seite des Artikels der Zeitschrift, in welcher der Artikel publiziert wurde.
Personal Name [PS] Eigennamen in einem Artikel; zu verwenden, wenn Artikel gesucht werden, in denen bestimmte Personen namentlich genannt werden.
Publication Date [DP] Veröffentlichungsdatum im Format Jahr/Monat/Tag [DP, PDAT] (es kann auch nur das Jahr oder Jahr/Monat eingegeben werden).
PubMed Identifier, PMID Kennummer, die die einzelne Nennung in PubMed eindeutig identifiziert; wird ohne rechteckige Klammern eingegeben.
Publication Type [PT, PTYP] Art der Publikation (Beispiel: review, clinical trials, randomized controlled trials, letters, etc.).
Substance Name [NM, SUBS] Name der chemischen Substanz, die im Artikel diskutiert wird.
Title Words [Tl, TITL] Im Titel des Artikels vorkommende Wörter.
Text Words [TW, WORD] In Titel oder Zusammenfassung vorkommendes Wort; einzelne Wörter wie MeSH-Begriff, -UnterbegrifF, chemische Substanz, Personennamen, die im Titel erwähnt werden.
Volume [Vl, VOL] Band-Nummer der Zeitschrift, in welcher der Artikel erschienen ist.

 

PubMed bietet ausgeklügelte Möglichkeiten für eine gezielte Recherche. Diese sind:
> Logische Operanten: AND, OR, NOT. Der Operant muss mit Grossbuchstaben geschrieben werden. Beispiel: pneumonia AND (klebsiella OR mycoplasma) NOT children findet alle Einträge von Artikeln zu Klebsiellen- oder Mykoplasmenpneumonien. Ausgeschlossen werden alle jene Einträge, in denen es um Pneumonien bei Kindern geht.

> Joker-Begriffe
:
Wird ein Begriff mit * abgekürzt, werden alle Wörter gefunden, die mit dem entsprechenden Stamm beginnen (appendic* wird die Begriffe appendiceal, appendicitis, appendicular, appendicopathy etc. finden). Wird der gekürzte Begriff zwischen Gänsefüsschen gestellt, werden assoziierte Begriffe ausgeschlossen: “infection*” findet infections, aber nicht infection control.

> Suche nach Sätzen
:
Begriffe, die zusammen in Gänsefüsschen stehen, werden auch zusammen gesucht. Die Eingabe “myocardial infarction ” veranlasst die Suchmaschine, diese Begriffe als Einheit zu definieren. In diesem Fall wird PubMed den Satz nicht mit dem MeSH-Wörterbuch vergleichen, sondern so, wie er ist, in allen Suchfeldern suchen.
> Suche innerhalb von Suchfeldern
(via den Link “Limits” oder “Advanced Search” erreichbar): Die Hauptsuchfelder sind in Tabelle 4 aufgeführt. Das Suchfeld, innerhalb dessen gesucht werden soll, kann auch direkt selbst nach dem Suchbegriff in rechteckige Klammern gesetzt werden: Mit hypertension [TI] werden alle Artikel aufgeführt, die den Begriff hypertension im Titel tragen. Wird nichts spezielles angegeben, wird im Default-Suchfeld ALL (alle) gesucht d.h. es werden alle Suchfelder durchforstet und das Resultat wird weniger genau sein.
> Suche mittels MeSH-Begriffen:
Diese Suchart ist unabdingbar, wenn wir eine gezielte Suche einleiten wollen, ohne Hunderte von Artikeln durchforsten zu müssen, um vielleicht 7 – 8 Interessante aufzuspüren. (Falls wir auf der Suche nach erst kürzlich (d.h. ca. in den letzten 6 Monaten) publizierten Artikeln sind, kann diese Suchart jedoch nicht angewendet werden, weil erst nach dieser Zeit die Artikel nach den Suchbegriffen eingeteilt sind.)
Das hilft nicht nur bei uneinheitlicher Terminologie (“cancer” oder “carcinoma”?) sondern auch bei möglicherweise etwas eingerosteten Englisch-Kenntnissen (auf deutsch siehe >>>).

Einige Hinweise:

  • Konstruieren Sie Ihre Abfrage nicht zu eng.
  • Benutzen Sie im Zweifelsfall einen übergeordneten Begriff aus der MeSH-Hierarchie (dem sogenannten (“tree”): Untergeordnete Begriffe werden von der Suche miterfasst.
  • Benutzen Sie erst in zweiter Linie die «Subheadings» (erreicht man z.B. hinter dem gefundenen Begriff im MeSH-Browser oder in der MeSH-Database), um Ihre Abfrage einzugrenzen (z.B. Richtung Therapie, Diagnose, Komplikationen, Mortalität, etc.). Auch der Menu-Punkt “Clinical Queries” unten auf der Einstiegsseite erlaubt die Suche von klinisch interessanten Artikel nach vier Gesichtspunkten (Therapie, Diagnose, Ätiologie und Prognose – siehe gleich unten).

Ein Beispiel:
Falls uns der Zusammenhang zwischen Kosten und Nutzen der Grippeimpfungen interessiert, könnten wir die Suche beginnen mit vaccine influenza economics. PubMed findet über 180 Artikel. Viele davon haben mit dem uns interessierenden Thema nichts zu tun, wie z.B. ein Artikel mit dem Titel Control of Haemophilus influenzae infections.
Wenn wir nun mit MeSH-Begriffen arbeiten, können wir Folgendes eingeben: influenza vaccine [MAJR] AND cost benefit analysis [MeSH]. Der erste Begriff gibt an, dass der Grippeimpfstoff das Hauptargument des Artikels sein soll und der zweite spezifiziert den speziellen Aspekt, der uns interessiert. Mit dieser Suche finden sich 32 Referenzen, alle eng mit dem gesuchten Thema verbunden. Auf ein ähnliches Resultat wären wir auch gekommen, wenn wir als zweiten Operanten den MESHBegriff vaccines mit dem Unterbegriff (subheading) economics verbunden hätten: vaccine/economics.

>Medline auf Deutsch: BabelMeSH (http://babelmesh.nlm.nih.gov/index_ger.php?com=) ist die “fremdsprachige” Version von askMEDLINE (http://askmedline.nlm.nih.gov/ask/ask.php), eine spezielle Suchoberfläche von Pubmed, die es erlaubt, mit “natürlichen” Sätzen zu suchen (z.B. “Are ACE inhibitors permitted in pregnancy?”). Stellt man die Frage auf Deutsch, so erscheint zuerst die vorgeschlagene Übersetzung, die man annehmen oder abändern kann.

> Suche mittels «Clinical Queries»: Hier stehen mehrere Filter zur Verfügung, welche auf Fragen aus der Praxis zugeschnitten sind. Nach Eingabe der Suchbegriffe geben Sie mit Mausklick an, ob es um eine therapeutische, diagnostische, ätiologische oder prognostische Fragestellung geht. Damit lassen sich vergleichsweise schnell spezifische klinische Arbeiten auffinden. Das Risiko, der Fragestellung entsprechende Arbeiten zu verpassen, ist allerdings relativ gross.

> Related Articles: Wenn eine Recherche nicht so recht gelingt, aber doch eine einzelne Perle zutage gefördert hat, hilft manchmal die Option “Related Articles” weiter. Ein Mausklick genügt und das Programm stellt eine Liste mit «verwandten» Artikeln zusammen. Der eingebaute Algorithmus liefert häufig ganz brauchbare Resultate. Störend ist einzig, dass die Liste nicht nach dem Alter der Arbeiten sortiert. ist und die neueren Artikel einzeln aussortiert werden müssen.

> Limits: Mit “Limits” können Suchresultate auch im Nachhinein eingegrenzt werden nach Art des Artikels (z.B. auf «Reviews», «Randomized Clinical Trials», Editorial, etc), Alter, Geschlecht, Sprache, Publikationsjahr,… siehe ausführlicher hier!

>”Recent activity (rechts aussen): gibt eine Übersicht über die aktuell durchgeführten Recherchen.

>Suchstrategie sichern: Link “Save Search” rechts oben: Jetzt kann die aktuelle Suchstrategie im “My NCBI” gesichert werden (siehe gleich unten).

My NCBI»: “NCBI” heisst «National Center for Biotechnology Information», ein Zentrum, das zur amerikanischen National Library of Medicine gehört. «My NCBI» bietet die Möglichkeit, den Zugang und die Routine-Anwendung der Medline-Datenbank via PubMed individuell zu gestalten und so den eigenen Bedürfnissen viel besser anzupassen, als dies bisher der Fall war.
«e-mail updates»: Im «eigenen» PubMed (“My NCBI”) kann man jede beliebige Suche aufbewahren. Es genügt, wenn ich nach der Durchführung eines Suchlaufs «Save Search» wähle. Ich erhalte dann die Möglichkeit, dieser Suche einen eigenen Namen zu geben. Was aber noch weit interessanter ist: ich kann gleichzeitig «e-mail updates» an meine Adresse bestellen. So werde ich zu jeder Suche, die ich so definiert habe, von Zeit zu Zeit erfahren, ob neue Suchresultate vorhanden sind. (Auch der zeitliche Abstand der Meldungen lässt sich individualisieren.) Bemerkenswert ist auch die Möglichkeit, Suchresultate mit oder ohne Kommentar an eigene oder fremde E-mail-Adressen weiterzusenden. Dies ist z.B. vorteilhaft, wenn ich jemandem schnell Dokumentation zu einer Frage zustellen will. Genaue Anleitung zum “My NCBI” hier: www.ncbi.nlm.nih.gov/bookshelf/br.fcgi?book=helpmyncbi&part=MyNCBI.

>”Single Citation Matcher”:  Ist eine Nennung bekannt (Zeitschrift, Jahrgang, Volume, Seite, Autor, Titelwörter), kann mit dem “Single Citation Matcher” direkt auf den entsprechenden Artikel zugegriffen werden. Nach Eingabe der Suchbegriffe muss die Recherche mit dem Feld “Go” gestartet werden: mit der Taste “ENTER” wird die Suchmaske gelöscht.

> «Clinical Trial»: Sehr praktisch ist die Möglichkeit, die Suchresultate zu «filtrieren», indem man bestimmte Kriterien per Knopfdruck einfügt. Wenn ich beipielsweise nach klinischen Studien mit Atenolol suche, genügt es, nach «Atenolol» zu suchen. Ich erhalte bereits auf der ersten Seite mit den Resultaten die Information, dass sich in PubMed 1818 Referenzen zu klinischen Studien mit Atenolol finden. Diesen Filter («Clinical Trial») habe ich selbst in «My NCBI» eingerichtet. Dort gibt es eine Reihe von nützlichen Filtern, z.B. auch die Suche nach frei erhältlichen Volltexten oder nach Übersichtsarbeiten. Man kann bis zu fünf verschiedene Filter für die persönliche PubMed-Verwendung installieren. Es ist auch ohne weiteres möglich, nur nach Artikeln in deutscher Sprache zu suchen (Link “Manage Filters” rechts – Abb.2).

> Clipboard: Dass man Suchresultate im sogenannten Clipboard «zwischenlagern» kann, ist schon seit längerer Zeit möglich. Dies ist vor allem dann praktisch, wenn man zu einem Thema verschiedene Referenzen zusammenstellen will, aber dabei unterschiedliche Suchkriterien verwendet. Die einzelnen Suchresultate lassen sich für mehrere Stunden im Clipboard aufbewahren und können nach Wunsch weiter verwendet werden. Wenn man bisher – absichtlich oder versehentlich – zwischendurch das PubMed-Browserfenster (oder gar den ganzen Browser) geschlossen hatte, war nachher der ganze individuelle Clipboard-Inhalt verschwunden, begreiflich – wie hätte er auch meinem Computer zugeordnet werden können? Jetzt ist das anders: mit meinem Passwort, das mein individuelles PubMed-Fenster öffnet, gelingt auch die Zuordnung meines Clipboards.

> Relevanz: Seit Oktober 2013 kann man sich die Suchresultate auch nach «Relevanz» geordnet anzeigen lassen (siehe: http://goo.gl/woyxe5). Natürlich kann man aber jederzeit zur Anzeige nach «recently added» oder gemäss weiteren Kriterien – wie z.B. nach Autoren oder Zeitschriften – zurückkehren.

> Kommentar: Ebenfalls neu, aber noch nicht allgemein verfügbar, ist die Möglichkeit, eine Publikation zu kommentieren (PubMed Commons, siehe: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmedcommons/).

Bei Problemen – wo beginnen?

Ø     MeSH-Browser/ MeSH-Database benützen
Ø     BabelMeSH (http://babelmesh.nlm.nih.gov/index_ger.php?com=) ist die “fremdsprachige” Version von askMEDLINE (http://askmedline.nlm.nih.gov/ask/ask.php), eine spezielle Suchoberfläche von Pubmed, die es erlaubt, mit “natürlichen” Sätzen zu suchen (z.B. “Are ACE inhibitors permitted in pregnancy?”). Stellt man die Frage auf Deutsch, so erscheint zuerst die vorgeschlagene Übersetzung, die man annehmen oder abändern kann.

Suche gibt zu viele irrelevante Artikel:

Verwenden von
Ø     NOT
Ø     Subheadings bei MeSH wählen
Ø     LIMITS
Ø     Suche mit klinischen Filtern im Clinical Query
Ø     Überprüfung der Fragestellung und –formulierung
Ø     Für Reviews: in LIMITS unter “Publication Types” wählen oder unter “Clinical Queries” unter “Find Systematic Reviews”

Suche ergibt zu wenige Artikel

Ø     Suche mit MeSH Terms UND Textwords
Ø     Überprüfen des LIMIT –Sets
Ø     Ist die “explode” Funktion aktiv? (ganzer MeSH-Tree verfügbar? – im MeSH-Browser: Taste “Navigate from tree top”)

Suche nach guter methodologischer Qualität (Evidence based medicine)

Suche im Feld “Type of Articles” (bei Limits) nach:

  • Randomized Controlled Trial
  • Meta-Analysis
  • Suche nach Cochrane Abstracts (einfach <AND cochrane> in Basissuche)

Suche auch ausserhalb Medline in

  • ausgewählten Journals (www.freemedicaljournals.com für Volltexte)
  • Cochrane Library (Abstracts kostenlos auf deutsch: www.praxis.ch/cochrane/studien/index.html
  • Best Evidence (auf CD)
  • Sumsearch (http://sumsearch.uthscsa.edu) – gewertet nach Lehrbuch, systematische Reviews und Original
  • Dr. Google als Konsiliarius? Heute lässt sich bald jedermann über eine Suchmaschine Internet-Informationen zu Beschwerden, Symptomen und Befunden vermitteln. Wen wundert es, dass man bereits von Dr. Google spricht? So sehr ich es befürworte, dass sich möglichst viele Leute gut über gesundheitliche Belange informieren, so sehr möchte ich davor warnen, «Google-Informationen » generell als bare Münze zu nehmen. Zu Recht kritisiert eine amerikanische Ärztin, ein Grossteil der im Internet auffindbaren «medizinischen» Information sei veraltet, von (finanziellen) Interessen beeinflusst und ungenügend dokumentiert (siehe: http://goo.gl/kvwfS4 ). Google hat diese Problematik erkannt und versucht, etwas Gegensteuer zu geben. So werden Suchende in den USA schon bald zu mehr als 900 «health conditions» medizinisch geprüfte Informationen finden (siehe: http://goo.gl/EPIqMP ). Ob diese unter anderem von Fachärzten der Mayo-Klinik verifizierten Informationen brauchbar sind, kann man überprüfen, wenn man auf der amerikanischen Google-Site (http://www.google.com/ncr ) z.B. nach «pneumonia» oder «hay fever» sucht. Es ist anzunehmen, dass diese Art von Information bald auch in europäischen Google-Resultaten auftauchen wird. Wenn nun also die meisten Internet-Fundstücke zu medizinischen Themen eher fragwürdig sind, könnten Google und Konsorten für Fachleute dennoch nützliche Resultate erbringen? Da müssen wir uns immer wieder neu bewusst machen, dass man immer – auch bei Artikeln in den angesehensten Fachzeitschriften – mit Interessenkonflikten rechnen muss. Diese sind nicht immer sehr transparent, beeinflussen aber unweigerlich die Darstellung und die Interpretation von Studienresultaten. Auch für Fachleute ist also grosse Vorsicht angezeigt. Es kann sich aber dennoch lohnen, auch einmal von der Google-Suchfläche aus zu suchen. Besonders auch zu neueren Medikamenten gelingt es manchmal so, neue Studienresultate, neu entdeckte Nebenwirkungen oder Behördenentscheide aufzufinden. Interessiert man sich z.B. nach dem neuen FDAWarnhinweis zu Canagliflozin (vgl. http://goo.gl/O7lhE6 ), so findet sich aktuell (Mitte September 2015) ein entsprechender Link bereits auf der ersten Resultateseite, auch wenn man nur «Canagliflozin» als Suchbegriff eingegeben hat. Dabei bewährt sich oft auch, in den «News» nachzuschauen. Generell gilt natürlich immer: trau, schau wem! Wenn man erwartet, Dr. Google würde besonders brillieren, wenn man Google Scholar (http://scholar.google.com ) verwendet, ist man vielleicht enttäuscht. Diese spezielle Suchmaschine ist resolut auf wissenschaftliche Literatur ausgerichtet, was in Bezug auf die Tagesaktualität nicht ideal ist. So findet man die erwähnte FDA-Warnung (erhöhtes Frakturrisiko unter Canagliflozin) zur Zeit mit Google Scholar noch nicht. Anderseits deckt Google Scholar ein weit grösseres Feld ab als Pubmed (siehe: https://goo.gl/zF9tX8 ) und produziert entsprechend zu jedem Suchbegriff mehr Treffer. Wenn ich keine sehr umfassende Literaturrecherche machen muss, ziehe ichdie übersichtlicheren Pubmed-Resultate allerdings vor.  Etzel Gysling (Infomed-screen, Okt 2015, 19/5)

Deutsche Kurzanleitung zum Thema auch von Etzel Gysling: http://pubmed-indiv.notlong.com oder hier: www.infomed.org/screen/2009/xf05.html

Veröffentlicht am 13. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
18. November 2017

Menopause – Wechseljahre

Freispruch für das Klimakterium

Fast alle Beschwerden von Frauen, die landläufig den Wechseljahren (oder Klimakterium oder Menopause) zugeschrieben werden, sind gar nicht typisch für dieses Lebensalter! Vielmehr treten Symptome wie Erschöpfung, Schlafstörungen, depressive Stimmung, Muskelschmerzen oder Harnwegsprobleme in sämtlichen Lebensphasen, von der Jugend bis ins hohe Alter auf. (K.Weidner u.a.: Klimakterische Beschwerden über die Lebensspanne? PPmP, 62/7, 2012, 266-275).

Man beobachtet einen Anstieg dieser “unspezifischen” Symptome (und vieler mehr…) gehäuft vor und um die Zehnerjahre, also schon gegen 30, dann 40 und eben um 50jährig! Weiter dann auch wieder gegen 60 und 70. Diese runden Geburtstage haben es in sich: Man rekapituliert dann sein bisheriges Leben und schaut nach vorne. Was hat man “erreicht”, was will man noch… Dies alles kann in eine eigentliche Krise führen. Man/frau nennt sie dann auch “Quarterlife-Crisis” oder “Midlife-Crisis”.

Der einzige Symptomenkomplex, der sich in diesen Studien tatsächlich mit den “Wechseljahren” verknüpfen lässt, sind nächtliche Hitzewallungen und Schweissausbrüche. Diese Beschwerden nahmen im Alter zwischen 50 und 60 Jahren merklich zu. Allerdings war auch hier nur eine Minderheit betroffen (ein Viertel aller Frauen klagt über mittlere bis sehr starke Beschwerden durch aufsteigende Hitze – vor allem nachts). Ab dem 60. Lebensjahr liessen die Symptome wieder stetig nach. Übrigens muss man bei Wallungen, die nur tagsüber auftreten auch an andere Ursachen denken (z.B. Schilddrüsenerkrankung, Dauerstress).

Insgesamt stehen die angeblichen “Wechseljahrbeschwerden” zwar nicht mit den Wechseljahren, wohl aber mit der Lebenssituation und der psychischen Belastung in Verbindung: Häufiger betroffen sind allein lebende Frauen, die sich gestresst, niedergeschlagen und erschöpft fühlen.

Dies alles lässt die Forscher eher einen psychosomatischen als einen hormonellen Hintergrund vermuten. Es handelt sich hier also um unspezifische, seelische, körperliche und kognitive Symptome, die bereits in jüngeren Lebensjahren, aber auch nach dem Klimakterium zu beobachten sind. Man zweifelt heute stark daran, dass diese Beschwerden auf einen Östrogenmangel zurückzuführen sind.

Woman on fire!

Die wechseljährigen Frauen sind „unangepasst“, „übertrieben“, wild, unangenehm für die Partner. Sie sind nicht mehr angepasst. Sie machen auf Unstimmigkeit aufmerksam. Sie sind nicht mehr die „liebe Mutter daheim“. Sie zeigen ein Verhalten, vergleichbar mit der Pubertät, welche ebenfalls eine wilde Wechselzeit ist.
Sie steht manchmal auch etwas neben sich – und versteht sich selbst nicht…

Wichtig ist es – für die betroffenen Frauen, wie auch für die Umgebung – dies als Prozess zu verstehen und nicht als “störende Krankheit”, die weg muss (mit Hormonen!).
In diesem Prozess entwickelt sie sich in eine reifere Frau – mit mehr Facetten. Ihr Feuer kann nachher wieder gleichmässiger brennen!

Weiterlesen dazu: Francine Oomen, “Francine und die total heisse Phase”, Wechseljahre für Anfängerinnen, Knaur Verlag
Oder hier: “Wechseljahre” mit ganz anderen Augen anschauen – viel positiver: “Midlife-Boomer“!
Und hier ganz unten…

Siehe auch speziell zu den Blütenjahre im Frausein hier >>>

“Wechseljahre” der Frau, Osteoporose und Hormontherapie

Nur noch wenige Gynäkologen/-Innen wollen den Frauen Hormone schon prophylaktisch oder bei nur leichten Symptomen in den Wechseljahren und dann bis ans Lebensende geben.
Es existieren nun endlich genug sehr kritische Stimmen und grosse Studien, welche den Nutzen dieses jahrzehntelangen Hormonschluckens (vor allem jenseits von 60jährig) massiv in Frage stellen: z.B. sind diese Knochenbrüche nicht nur die Folge der Osteoporose, sondern auch des altersbedingten Muskelschwunds und der Gangunsicherheit. Ein Nutzen des Östrogens auf die Osteoporose und diese Altersfrakturen ist nie schlüssig nachgewiesen worden. Experten der unbestechlichen Evidenz (Wissenschafts)-basierten Medizin (im Gegensatz zur Experten-/Meinungsbildner-/Marketing-basierten Medizin) wie Johannes Steurer (www.evimed.ch) sprechen sogar von einer “Osteoporose-Neurose”: Die Zunahme der Knochendichte ist durch Hormone erwiesen (sogenannte Surrogatparameter, der nichts Relevantes aufzeigt), jedoch ist in keiner Studie die Abnahme von Frakturen beobachtet worden.

>>> Was kann nun bei den Hormonen vernünftigerweise noch geraten werden.

Wie wirken Hormone – oder eben nicht!

Östrogen war wie geschaffen zum Erwecken von alten Wunschträumen nach der verjüngenden Pille. Dies wurde von den Pharmariesen schamlos ausgenützt. Dabei existierte immer sehr wenig Forschung über die (erhofften) Resultate bei Arteriosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfälle oder die Wirkung auf Haut, Gelenken und Muskeln oder auf das Hirn. Ein positiver Effekt auf die psychische Befindlichkeit konnte ebenfalls bisher nie nachgewiesen werden. In Medizinlatein heisst das: Randomisierte Vergleichsstudien mit klinischen Endpunkten fehlten immer.
Es werden in den frühen Nullerjahren auch immer mehr Nebenwirkungen bekannt, welche das klare Aus für die synthetischen, oralen Hormontherapien bedeuten:
Erhöhtes Brustkrebsrisiko (JAMA 2002; 288, 321-33;366-68), mehr Schlaganfälle (Bath PMW, Gray L. Association between hormone replacement therapy and subsequent stroke: a metaanalysis. BMJ 2005;330:342-5), mehr Thrombosen, mehr Embolien, verstärkte Demenzgefahr, (Savolainen-Peltonen H, Rahkola-Soisalo P, Hoti F et al. Use of postmenopau- sal hormone therapy and risk of Alzheimer’s disease in Finland: nationwide case- control study. BMJ. 2019 Mar 6;364:l665.) erhöhtes Risiko für Nieren- und Gallensteine (Simon JA et al., Effect of estrogen plus progestin on risk for biliary tract surgery in postmenopausal women … Ann Intern Med 2001 (2.Oktober); 135:493-501 + WHI: Cirillo DJ et al.: Effect of estrogen therapy on gallblader diease. JAMA 2005;293(3):330-339).
Frauen ohne Hitzewallungen, die Hormone einnehmen waren nachher energieloser und ihre geistigen Fähigkeiten liessen nach (Hlatky MA et al., JAMA 2002; 287: 591-7), Zunahme der Urininkontinenz unter Hormonen (Hendrix SL, et al. Effect of estrogen with and without progestin on urinary incontinence. JAMA 2005;293:935-48 ); Frauen in den Wechseljahren mit vulvovaginalen Beschwerden (Jucken, Trockenheit, etc. der Scheide innen oder aussen) profitieren überhaupt nicht von lokalen Östrogentabletten oder Östrogengel – ein normaler Gel ohne Hormone wirkt genau gleich gut (JAMA, 2018).

Was kann bei der Hormontherapie nun noch als “vernünftig” gelten?

Wie wir gesehen haben, können das Risiko für Herzinfarkt, Thromboembolie, Brustkrebs und Gallensteine auch durch eine Hormonersatztherapie zunehmen. Doch lässt sich dies mit der Östrogenzufuhr (und Progesteron) über die Haut, also transdermal, als Spray, Gel oder Pflaster deutlich verringern. Grund dafür sind Unterschiede in der Verstoffwechslung der Hormone bei den verschiedenen Anwendungsformen.
Es gibt also viele Forscher*innen, die nur noch zu transdermaler Zufuhr von Östrogen (auch Gestagen (Ultrogestan) und Testosteron (dies nur gegen Libidomangel) in niedriger bis mittlerer Dosierung, anstatt orale, also über Magen-Darm raten.

Auch sogenannte “bioidentische” Hormone scheinen hier einen Vorteil zu haben.

Nur noch transdermal und bioidentisch – und höchstens 5 Jahre (nie nach 60jährig)

Zudem sollte die Dauer sicher 5 Jahre nicht überschreiten und nie über 60jährig ausgedehnt werden.

Gewichtszunahme nach Menopause durch Medikamente

Viele Pillen gegen Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen und andere psychische Probleme begünstigen bei Frauen in den Wechseljahren eine Gewichtszunahme. Sie werden Frauen oft verschrieben beim Übergang in die Wechseljahre – einem Zeitpunkt, wo viele häufig bereits übergewichtig sind.
US-Forscher fanden gemäss der Zeitschrift «Menopause» in einer Studie heraus, dass schon die Einnahme von einem solchen Medikament mit einer stärkeren Erhöhung des Body-Mass-lndex und des Taillenumfangs verbunden war im Vergleich zu Frauen, die keine dieser Arzneien einnahmen. Mit steigender Anzahl der geschluckten Medikamente nahm der Effekt noch zu. Frauen mit einem zu Beginn höheren Gewicht waren zudem anfälliger für eine weitere Zunahme. Die Forscher hatten die Gewichtsveränderungen der Patientinnen nach Beginn der Einnahme von Antidepressiva, Insulin und Betablockern während dreier Jahre verfolgt.
Als Reaktion auf die Ergebnisse der Studie raten die Forscher zur Wachsamkeit bei der Verschreibung solcher Medikamente nach der Menopause: Sie sollten nur mit Bedacht eingesetzt werden. Neben einer minimalen Medikation gelte es im Kampf gegen eine Gewichtszunahme im Alter aber auch, auf Aktivität, Ernährung und Schlafqualität zu achten.

Psychosoziale Krise

Wechseljährige Frauen zeigen eine ganze Palette von Symptomen, die – wie bereits ganz oben beschrieben – kaum mit dem Abfall der Hormonproduktion in Zusammenhang stehen. Die alternde Frau genoss bis Anhin in der Industriegesellschaft einen niedrigen Sozialstatus. Sie wird weder mehr als egosteigernder Potenzbeweis noch als Mutter gebraucht. Das Diktat der Jugendlichkeit tyrannisiert die Frauen im Westen. Der Mythos der asexuellen älteren Frau hatte zum Ende des 20. Jahrhunderts Bestand. Männer “reifen” und kommen in die “besten Jahre”, die Frau “altert” und kommt ins “Klimakterium”. Die Menopause schockiert Frauen, die ihr Alter verdrängt haben. Der Wechsel vom begehrten zum unsichtbaren Objekt wirkt um so traumatischer, je mehr sich eine Frau auf ihre traditionelle weibliche Rolle verlassen hat. Berufsfrauen leiden weniger darunter als Hausfrauen, gut ausgebildete weniger als ungebildete. Viele Frauen gleiten in eine eigentliche “psychosoziale Krise”.
Dafür, dass hier eine psychische Dynamik vorliegt, spricht auch, dass neuere Studien mit medikamentösen Antidepressivatherapien ebenso wirksam waren wie mit Östrogen. Womit nicht gesagt sei, dass ich nun rate, die eine Pille mit der anderen auszutauschen! Mehr darüber hier unten >>>
Den Verlusten an Selbstwertgefühl, an Attraktivität und an Fruchtbarkeit kann man aber, anstelle der illusorischen und gefährlichen Verlängerung der Jugend mit Hormonen, Gewinne entgegensetzen: Lebenserfahrungen, Freiräume, freie Zeit (in der Nach-Kinder-Phase), Potential für neue Beziehungen, kreative Lebensgestaltung, Wegfall des Kompetitionsdruckes. Viele Frauen erleben nach der Menopause einen eigentlichen Energieschub. Mann und Frau tragen Hormone des anderen Geschlechtes in sich. Wenn sich mit zunehmenden Alter die eigengeschlechtlichen Hormone vermindern, fallen die gegengeschlechtlichen relativ stärker ins Gewicht, und die Frauen haben die Möglichkeit, mehr “männliche” Energien zu mobilisieren (und umgekehrt beim Mann). Nach C.G.Jung könnte man sagen: Eine wesentliche Aufgabe der zweiten Lebenshälfte und eine unumgängliche Station auf dem Weg zur Individuation ist die Integration der eigenen Gegengeschlechtlichkeit (Er nannte dies Animus in der Frau und Anima im Mann). Östrogene verhindern diesen wichtigen Lebensschritt der Frau.

Raumprozesse in der Mitte des Lebens

Meist erlebt die Frau um 50 eine Entwicklung zu mehr Raum in ihrem Leben. Sie befreit sich von Hausarbeiten und alten Rollen und macht mächtige Schritte in ein Leben nach aussen oder nach innen, d.h. wird tiefer, spiritueller, weiser…  

Dies verzahnt sich häufig mit einer Entwicklung ihres Mannes, der in der Mitte des Lebens auch sanfter wird, gelassener, auch tiefer, spiritueller, weiser – also weniger bullig, durchdringend und draufgängerisch. Im Idealfall gibt er Raum her, welcher seine Frau beleben kann. Eine Zeit von Reibereien (und Raumkämpfe) ist also um die 50 in einem Lebenspaar fast schon unumgänglich. Das Tröstliche dabei ist, dass die zwei Entwicklungen gegenläufig zum selben Resultat führen kann: Die ältere Frau nimmt mehr Raum ein als vor 50 und der Mann weniger. Das Paar erlebt eine neue Ebenbürtigkeit und Harmonie.

Was aber bei starken Wechseljahrbeschwerden?

Zuerst mal Positives zu den „Wallungen“:
Frauen, die am Anfang der Menopause häufig in Hitze  ausbrechen, haben ein stärkeres Herz und gesündere Blutgefässe. Das erkannte eine Forscherin der Northwestern University in Chicago, die mehr als 60000 Frauen untersuchte. Frauen, die früh Wallungen erlitten, bekamen am seltensten Herzkrankheiten und Schlaganfälle. Bislang glaubten Ärzte, das Gegenteil sei der Fall. (Menopause, 2011 Feb 19. Vasomotor symptoms and cardiovascular events in postmenopausal women.Szmuilowicz ED et al.)

Starke Wallungen mit massiven Schlafstörungen, also Hitzewallungen in der Nacht sprechen für das klimakterische Syndrom (Menopause). Hitzewallungen nur am Tag haben eher andere Ursachen , z.B. eine Schilddrüsenüberfunktion oder Dauerstress.

Kurzfristig symptomorientiert ist noch die einzig vertretbare Form der Hormonanwendung – wie oben schon beschrieben – nur transdermal, bioidentisch als Spray, Gel oder Pflaster über die Haut (und nicht mehr mit Tabletten über Magen-Darm). Zudem nie länger als 5 Jahre – und nie über 60jährig aus.
Sehr vorsichtig sollte jede Frau mit folgenden Krankheiten in der Vorgeschichte sein:
Brustkrebs (selbst oder familiär); Thromboembolien; Cerebrovaskuläre Erkrankungen und KHK; Diabetes; adipöse oder auch magere, untergewichtige Frauen (Brustkrebsriskio mit Kombinationspräparaten höher); Juckreiz oder Gelbsucht in einer früheren Schwangerschaft oder durch Antibabypille; Leberkrankheit.

Es gibt bei milderen Formen eine Alternative: Östrogene pflanzlichen Ursprungs aus Traubensilberkerze (Cimicifuga). Wir müssen aber hier aufpassen, dass wir nicht wieder dieselben Fehler machen wie bisher mit dem Östrogen selber, da Langzeitstudien z.B. zur Brustkrebsgefahr fehlen! Dann auch Phytoöstrogene aus Soja- oder Jamswurzel-Steroiden oder auch aus dem Fenchelöl (8 Wochen lang täglich 2 x 100mg bessert angeblich Menopause-Symptome um 50%). Hier fehlen aber ebenfalls grössere Studien! Es schadet aber sicher nichts, wenn Sie viele Sojaprodukte essen.

  • Traubensilberkerze (Wurzelextrakt – Cimicifuga racemosa) v.a. gegen vegetative Beschwerden (50% verschwinden völlig, 30-40% besser) und psychische Störungen. Eignet sich aber nicht zur Osteoporose-Prophylaxe.
  • zu Beginn der Wechseljahre, wenn Symptome ähnlich wie bei PMS: Mönchspfeffer (siehe hier)
  • Nachtkerzenöl-Kapseln
  • Teemischung: 20 Teile Frauenmänteli, 15 Teile Johanniskraut, 10Teile Zitronenmelisse, 15 Teile Schafgarben, 15 Teile Rosmarin, 15 Teile Salbei
  • Durch Gewichtsabnahme zu weniger Beschwerden in der Menopause!
    Um herauszufinden, ob es durch eine Gewichtsabnahme zu einer Verbesserung der Hitzwallungen von übergewichtigen Frauen in der Menopause kommt, haben US-amerikanische Forscher/innen eine randomisierte, kontrollierte Studie mit 338 übergewichtigen bis fettleibigen Frauen in der Menopause konzipiert. Sechs Monate lang absolvierten die Frauen entweder ein intensives verhaltenstherapeutisches Programm zur Gewichtsreduktion oder ein Aufklärungsprogramm über gesundheitliche Folgen von Übergewicht (Kontrolle).
    Ergebnis: Die Gewichtsabnahme verbesserte die Hitzewallungs- Symptomatik deutlich.
    Die Forscher/innen errechneten z.B. eine Verbesserung der Symptomatik von OR 1.32 pro 5kg Gewichtsabnahme.
    (Arch Intern Med 170(13):1161-1167, 12 July 2010 © 2010 to the American Medical Association: An Intensive Behavioral Weight Loss Intervention and Hot Flushes in Women. Alison J. Huang, Leslee L. Subak, Rena Wing, et al. Link zum Abstract: http://archinte.ama-assn.org/cgi/content/abstract/170/13/1161?etoc)

Wallungen

    • Gewichtsabnahme (siehe oben)!
  • Salbei alleine: bis dreimal täglich 40 Tropfen einer Salbeitinktur.
  • Teemischung: je 1/4 Frauenmänteli, Salbei, Zinnkraut und Mistel: 1 Essl. auf 1/4 l Wasser aufkochen, morgens nüchtern 1 Tasse trinken
  • Traubensilberkerze oder Mönchspfeffer (siehe gleich oben).
  • Wie oben bereits erwähnt, helfen gegen Hitzewallungen auch – gleich stark wie Östrogen – Antidepressive Medikamente. In einer Studie von 2014 (NEJM Journal Watch.2014, May 27) half z.B. Venlafaxin  bei 50% aller Frauen mit einer starken Linderung (Östrogen auch 50%, Placebo bei 30%). Sicher wird auch hochdosiertes Johanniskraut gleich wirken (es wird aber keine Studien mehr geben, da niemand daran verdienen kann…)!

Trockene Scheide

  • viel eigenen Speichel benützen!
  • Schleimhautpflege: Leinsamen, -öl innerlich als Budwig-Creme und lokal Rheum rhaponticum D2 Salbe Weleda, tgl. 2 x anzuwenden, ev. mit Applikator auch vaginal einführen. Auch Dorins Yams-Zäpfle aus der Berg-Apotheke könnten geeignet sein. Zur akuten Linderung eine Woche lang täglich, dann 2x wöchentlich anzuwenden.

Osteoporose-Prophylaxe

Wichtig ist die maximal im Leben (um 30jährig) erreichte Knochendichte. Frauen, die regelmässig Bewegung haben und keine Zigaretten rauchen, nicht untergewichtig sind und viel Kalzium essen (v.a. als Mädchen und junge Frauen bis 25 Jahren) und 2 bis 4 Gläser Alkohol wöchentlich trinken (aber nicht mehr!) erreichen eine grössere Knochendichte. Es existiert aber auch eine genetische Komponente, die vielleicht sogar am wichtigsten ist. Zudem verstärken eine früh eintretende Menopause, übermässigen Alkoholkonsum und eine frühere länger dauernde Kortisonbehandlung (mit Tabletten oder Spritzen) die spätere Osteoporose.
Aufnahme von 700 mg Kalzium täglich wird als ideal angesehen: Keine Kalziumtabletten  sondern nur aus natürlichen Quellen:
Der Kalziumgehalt wichtiger Nahrungsmittel in mg/100g: Milch 120, Joghurt 120, Quark 90, Emmentaler 1020, Gouda 820, Parmesan (Hartkäse!) 1300, Grünkohl 200, Broccoli 100, Fenchel 110, Haselnuss 225, Mandel 250, Sojabohnen 260, weisse Bohnen 105, Linsen 75, Weizenvollkornbrot 65, Schweinekotelett 10, Forelle 20, Kartoffeln 10.
Genau so wichtig ist reichlich Gemüse (“Nature”, Bd.401, S.343: bestimmte Gemüsesorten hemmen der Abbau der Knochensubstanz bei Ratten: Petersilie, Salat, Rucola, Tomaten, Gurken, Knoblauch, Dill und Zwiebeln.) und Früchte essen und sehr sparsam tierische Fette.

Also könnte man auch raten:

  • Ernähren Sie sich schon vor der Menopause (ab 40) kalzium- und vitaminreich, mit wenig tierischen, dafür um so mehr pflanzlichen Eiweissen (Hülsenfrüchte, Tofu).
    Kalzium stärkt die Knochen. Gute Kalziumquellen sind vor allem Milchprodukte (Hartkäse!), dann Haselnüsse, Gemüse (z.B. Kohlrabi), Früchte (z.B. Mandarine), auch Trockenfrüchte, Sardinen, Eier und Mineralwasser:
    Täglich können wir maximal 700 mg aufnehmen!
    Davon sollte alles aus natürlichen Quellen stammen (keine Tabletten: Erhöhen Arterienverkalkungs- und Herzinfarktsrisiko!).

    KALZIUMQUELLEN AUS DER NAHRUNG

    Nahrungsmittel

    Menge/gängige Portion

    Kalziumgehalt

    Milch

    1 Glas

    300 mg

    Joghurt

    1 Becher (180g)

    200 mg

    Hartkäse (z.B. Emmentaler, Parmesan)

    100 g

    1000 mg

    Weichkäse (z.B. Camembert)

    100 g

    600 mg

    Haselnüsse

    100 g

    225 mg

    Gemüse (z.B. Kohlrabi)

    100 g

    70 mg

    Früchte (z.B. Mandarine)

    100 g

    33 mg

    Eier

    100 g

    55 mg

    Sardinen

    100 g

    380 mg

    Mineralwasser

    1 Glas

    unterschiedlich – bis zu 50 mg

  • Vitamin D:
    Nach 65jährig sollte man (nur bei nachgewiesenem Mangel im Blut!) etwa (neben der Sonnenbestrahlung, die uns ja das Vitamin D schenkt) 800 IE pro Tag zu sich nehmen – vor allem von November bis Mai (wenig Wintersonne). Lassen Sie einmal vom Hausarzt Ihren Vitamin D-Spiegel (25-Hydroxi-Vitamin-D3 wichtig) im Blut messen, da wir häufig zu wenig Sonne auf der Haut haben, um genügend Vitamin D zu bilden. In der Nahrung ist es eher schwierig genügend davon zu kriegen (man müsste zweimal täglich fetten Fisch oder Austern essen – Mahlzeit!).

  • Achten Sie auf den Säurehaushalt. Die Ernährung soll zu rund vier Fünftel aus basebildenden und nur zu einem Fünftel aus säurebildenden Nahrungsmitteln bestehen. Milchprodukte sind zwar reich an Kalzium, sind aber säurebildend. Man sollte sie deshalb nicht im Übermass konsumieren. Listen mit säurebildenden Nahrungsmitteln erhalten Sie in guten Buchhandlungen.
  • Ergänzen Sie Ihren Menüplan mit Soja-Produkten. Soja und andere Bohnenarten besitzen Inhaltsstoffe, die eine östrogenähnliche Wirkung haben.
  • Vermeiden Sie Koffein und Alkohol im Übermass (2 bis 4 Gläser Alkohol wöchentlich verbessert die Knochendichte – aber nicht mehr!).
  • Bewegen Sie sich häufig. Sportarten, die mehr Gewicht auf den Knochen bringen sind vor allem gut wirksam (Jogging, Springseilen,…). Kräftige Muskeln entlasten zudem das Skelett. Trainierte Menschen stürzen weniger und haben daher seltener Knochenbrüche.
  • Yoga, autogenes Training und Tai Chi helfen, psychische Schwankungen auszugleichen und geben ein gutes Körpergefühl.
  • Bauen Sie Stress ab. Nehmen Sie den Alltag im dritten Lebensabschnitt etwas gelassener.

Risikomessung (u.a. auch DEXA-Messung)

  • Ein einfacher klinischer Test, um das Osteoporose-Risiko bei der Frau nach den Wechseljahren zu beurteilen, wurde bei der Durchsicht von 191 Studien gefunden (siehe infomed-screen. April 2005 – Jahrgang 9/ Nr.4).
    Die sog. Vortestwahrscheinlichkeit wird aus
    – dem Gewicht (unter 51 kg),
    – der sog. Flèche (Abstand Hinterkopf zur Wand über 0 – beim Aufrechtstehen mit dem Rücken an der Wand) und für
    – den Rippenbogen-Beckenschaufel-Abstand (2 Querfinger oder weniger) berechnet.
    Falls diese Faktoren eintreffen, sollte eine Knochenmineraldichte-Messung (DEXA) gemacht werden.
    DEXA-Messung auch bei jedem Knochenbruch, der durch eine relativ kleine Gewalteinwirkung entstand (z.B. aus Stand umgefallen und das Bein gebrochen: sog. Niedrigtrauma-Fraktur – erst ab 40 Jahre). Rauchen (bei über 60jährigen) und eine mehrmonatige Kortison-Therapie mit Tabletten (über 5mg Prednison täglich) sind ebenfalls Gründe zur Knochendichtemessung.
    Man muss aber auch auf die unklare Datenlage zum DEXA-Screening hinweisen: siehe dazu die Kommentare der Evidenzbasierten Medizin: osteoporose_state_of_the_art.pdf
  • Hat man bereits eine DXA-Messung gemacht, zeigt dieser Test hier >>> mit allen Zusatzfaktoren, ob wirklich eine Therapie nötig ist!
  • Ein genauer Risikokalkulator kann auch mit 11 Faktoren erstellt werden und wurde anhand der Women’s Health Initiative WHI im JAMA (2007;298:2389-2398) vorgestellt: siehe http://hipcalculator.fhcrc.org/ .
    Noch praktischer und in der Hausarztpraxis besser abschneidend ist Qfracture. Die Variablen, die hier für die Berechnung des Risikos gebraucht werden sind alle aus der Anamnese ohne weitere Untersuchungen (Labor, Knochendichte) erhebbar: www.qfracture.org
  • Als weiterer Risikofaktor, in diesem Kalkulator nicht berücksichtigt, könnte sich möglicherweise die Major Depression entpuppen. Das zumindest legen Ergebnisse einer Studie des US-National Institute of Mental Health NIMH in Bethesda/Maryland nahe. Dabei hatten depressive Frauen in 17% im Oberschenkelhals eine verminderte Knochendichte gegenüber nur 2% in der Kontrollgruppe.

Gibt es ein Androgenmangel-Syndrom bei der Frau?

Just zu einem Zeitpunkt, wo der Nutzen und die Sicherheit einer langfristigen Östrogengabe nach der Menopause zunehmend hinterfragt werden, ist immer öfter die Rede von einem Androgenmangel-Syndrom der Frau. Nicht nur der alternde Mann, so plädieren die Verfechter des neuen Syndroms, sondern auch Frauen nach der Menopause fühlten sich in gewissen Fällen dank der Gabe männlicher Geschlechtshormone vitaler und hätten eine grössere sexuelle Spannkraft. Die Existenz eines solchen Syndroms – zumindest bei gesunden, älteren Frauen – ist in Fachkreisen allerdings äusserst umstritten, denn die Rolle der Androgene im weiblichen Organismus ist wenig untersucht, allfällige Mangelsymptome äussern sich unspezifisch und mit breiten individuellen Schwankungen. Vor allem die Abgrenzung der Symptome (vor allem Libidomangel) gegenüber dem Ausdruck einer unbefriedigenden partnerschaftlichen Situation, einer Depression oder weiterer Krankheiten ist äusserst schwierig. Es fehlen auch grosse Studien, weshalb hier gar nicht weiter darauf eingegangen wird.

Ersatz mit synthetischen, oral eingenommenen Hormonen erhöht Demenzrisiko

Eine kürzlich veröffentliche Fall-Kontroll-Studie (08/2023) bekräftigt erneut den Verdacht, dass in der Postmenopause verabreichte Hormone das Demenzrisiko erhöhen. Knapp 5600 Frauen, die an einer Demenz erkrankt waren, wurden einer zehnmal so grossen Kontrollgruppe gegenübergestellt. Man stellte fest, dass bei den demenzkranken Frauen signifikant häufiger eine Hormonsubstitution mit Östrogen und Gestagen durchgeführt worden war als bei denjenigen der Kontrollgruppe (HR 1,24 [1,17–1,33]). Der Unterschied war auch bei Frauen zu beobachten, die Hormone nur relativ kurz (maximal 1 Jahr) eingenommen hatten, sowie bei den Untergrupppen von Frauen mit einer Alzheimererkrankung und von Frauen mit einer Demenz, die nach dem 65. Altersjahr begann («Late onset dementia).
Kein erhöhtes Demenzrisiko fand sich bei den Frauen, die nur vaginal verabreichte Östrogene oder nur Gestagene verwendet hatten.
(Volltext der Studie aus dem BMJ: Menopausal hormone therapy and dementia: nationwide, nested case-control study)

Der Langzeitgebrauch von postmenopausalen Hormonen ist nun mehrmals in grossen Studien nachgewiesen, mit einem erhöhten Risiko für Alzheimer- Demenz assoziiert. Das Alter bei Therapiebeginn und das verwendete Gestagen scheinen keinen Einfluss auf das Risiko zu haben.
(z.B. Savolainen-Peltonen H, Rahkola-Soisalo P, Hoti F et al. Use of postmenopau- sal hormone therapy and risk of Alzheimer’s disease in Finland: nationwide case- control study. BMJ. 2019 Mar 6;364:l665.)

„Women´s Health Initiative”: Brustkrebs und Hormonersatztherapie bei postmenopausalen Frauen

Eine weitere Studie im Rahmen der “Womens´s Health Initiative” untersuchte das Risiko des Auftretens von Brustkrebs im Zusammenhang mit der Einnahme einer Hormonersatztherapie. Die 16.608 eingeschlossenen postmenopausalen Frauen zwischen 50 und 79 Jahren wurden im Schnitt elf Jahre lang beobachtet.
Ergebnis: Frauen, welche Östrogen plus Progesteron einnahmen, erkrankten häufiger an invasivem Brustkrebs als diejenigen, welche Plazebo einnahmen (HR 1,25). Auch war der Brustkrebs unter Hormoneinnahme häufiger “node-positive” (HR 1,78) und die Sterblichkeit am Brustkrebs war größer (HR1,96).
(JAMA 304(15):1684-1692, 20 October 2010 © 2010 American Medical Association
Estrogen Plus Progestin and Breast Cancer Incidence and Mortality in Postmenopausal Women. Rowan T. Chlebowski, Garnet L. Anderson, Margery Gass, et al.:  Link zum Abstract: http://jama.ama-assn.org/cgi/content/abstract/304/15/1684)

Update 2021:
Das Schicksal der Frauen, die zwischen 1993 und 2004 an den Studien der Women’s Health Initiative (WHI) teilgenommen haben, wird weiter beobachtet. In diesen Studien erhielten bekanntlich hysterektomierte Frauen nach der Menopause doppelblind konjugierte equine Östrogene (CEE) oder Placebo; Frauen mit intaktem Uterus wurden dagegen, ebenfalls doppelblind, mit CEE in Kombination mit dem Gestagen Medroxyprogesteron oder Placebo behandelt. Die Behandlungsdauer betrug median 7,2 Jahre (CEE allein) bzw. 5,6 Jahre (kombinierte Hormone). Die vorliegende Arbeit befasst sich ausschliesslich mit den Brustkrebs-Fällen und Brustkrebs-bedingten Todesfällen. Fast alle 27’347 Frauen konnten median über mehr als 20 Jahre nach der Hormongabe nachbeobachtet werden. Die neuen Daten stimmen weitgehend mit den bereits bekannten überein. Frauen, die nur Östrogene (CEE) erhielten, erkrankten signifikant seltener an einem Brustkrebs (jährlich 0,30%) als diejenigen, die Placebo erhielten (jährlich 0,38%). Auch die Brustkrebssterblichkeit war unter CEE kleiner als unter Placebo. In der grösseren Studie bei Frauen mit intaktem Uterus kam es dagegen unter der kombinierten Hormontherapie signifikant häufiger zu einem Brustkrebs (jährlich 0,45%) als unter Placebo (0,36%). Auch Brustkrebs-Todesfälle waren häufiger nach der Hormontherapie, aber nicht signifikant.

Die gesundheitlichen Risiken einer Hormonsubstitution scheinen offensichtlich vorwiegend auf den Gestagenen zu beruhen. Ob es aber wirklich sinnvoll wäre, hysterektomierten Frauen über längere Zeit Östrogene als «Brustkrebsschutz» zu verordnen? Dabei muss man sich fragen, ob die heute verwendeten «reinen» Östrogene nicht nur hinsichtlich der Brusttumoren, sondern auch in Bezug auf kardiovaskuläre Probleme unbedenklich sind. Leider verfügen wir zu dieser Frage über keine Studien, die sich mit den WHI-Studien vergleichen liessen. Solange diese Wissenslücke nicht gefüllt ist, muss weiterhin zu einem sehr zurückhaltenden Umgang mit Östrogenen geraten werden.
(Etzel Gysling in infomed-screen 25 — No. 3, Copyright © 2021 Infomed-Verlags-AG)

„Women´s Health Initiative”: Die Einnahme von Hormonersatztherapeutika in der Postmenopause erhöht das Risiko von Nierensteinen

US-amerikanische Autor:innen untersuchten im Rahmen der “Women´s Health Initiative” den Zusammenhang zwischen der Einnahme von Hormonersatztherapeutika und dem Risiko des Auftretens von Nephrolithiasis an 10.739 postmenopausalen hysterektomierten Frauen und 16.608 postmenopausalen Frauen.
Ergebnis: Die Einnahme von Östrogen erhöhte bei postmenopausalen Frauen das Risiko für das Auftreten einer Nephrolithiasis signifikant (HR 1,21).
(Arch Intern Med 170(18):1678-1685, 11 October 2010 © 2010 to the American Medical Association Postmenopausal Hormone Use and the Risk of Nephrolithiasis-Results From the Women’s Health Initiative Hormone Therapy Trials. Naim M. Maalouf, Alicia H. Sato, Brian J. Welch, et al.:  Link zum Abstract: http://archinte.ama-assn.org/cgi/content/abstract/170/18/1678?etoc)

Nicht hormonelle Kontrolle der vasomotorischen Symptome der Postmenopause

Zu den belastendensten Symptomen in der Menopause gehören sicher die Wärmeschübe, die anfallsmässig auftreten und mit Schweissattacken einhergehen (Wallungen). Sie entstehen im thermoregulatorischen Zentrum des Hypothalamus, wo Neurokinin-3-Rezeptoren durch Neurokinin B stimuliert werden. Östrogene hemmen diese Stimulation. Fezolinetant ist ein oraler, nicht hormoneller und selektiver Neurokinin-3-Rezeptor-Antagonist, der in Phase-2-Studien sowohl Frequenz als auch Intensität der vasomotorischen Beschwerden linderte.

Nun liegen die Resultate einer multizentrischen Phase-3-Studie vor. Sie wurde in sieben Ländern randomisiert, doppelblind und placebokontrolliert bei insgesamt 500 Frauen in der Menopause (Alter 40–65 Jahre) durchgeführt. Die vasomotorischen Beschwerden traten vor Studienbeginn durchschnittlich 7× täglich auf und waren mässig bis schwer. Fezolinetant wurde mit einer Dosis von 30 oder 45 mg 1× täglich eingesetzt, also deutlich niedriger als in den Vorstudien. Mit beiden Dosierungen zeigte sich – im Vergleich zu Placebo – bereits nach einer Woche ein Rückgang der Frequenz und Intensität der Symptome, der nach vier Wochen signifikant war und schliesslich über zwölf Wochen anhielt. Die Studie wurde nach zwölf Wochen ohne Placebogruppe mit anhaltendem Effekt bis 52 Wochen fortgeführt. Schwere Nebenwirkungen, die zu einem Abbruch der Medikation führten, traten 1× in der Placebogruppe, 2× in der 30-mg-Gruppe und 5× in der 45-mg-Gruppe auf. Leberenzymerhöhungen waren selten und transient.

Diese Resultate sind sehr ermutigend. Die Effekte auf andere menopausale Beschwerden, welche die Lebensqualität beeinträchtigen (Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, sexuelle Funktionsstörungen), wurden bisher nicht erfasst. Es fehlen auch noch Daten zu Langzeitsicherheit und Interaktionen mit anderen Medikamenten.

Zeit des Ankommens

(Sabine Dermon am 30.05.22 im Tagesanzeiger)
Nun, ich erlebe die “Wechseljahre” gerade als wundervolle Zeit des Ankommens. Und zwar bei mir selbst. Während sich meine Töchter gerade am Finden und auf der Suche nach sich selbst sind, weiss ich genau, wer ich bin, was ich kann, wo meine Stärken und Schwächen liegen. Ich fühle mich geerdet und stabil und erlebe eine nie da gewesene innere Gelassenheit dem Leben gegenüber. Ich fühle mich geborgen und in Frieden mit meinem «ich». Ich schätze nicht nur meine Schokoladenseiten, sondern akzeptiere auch Makel und Unvollkommenheit – etwa, dass ich einen katastrophalen Orientierungssinn habe.
Überhaupt nehme ich bezüglich Müssen und Sollen immer mehr den Fuss vom Gaspedal. Ich rücke mich und meine Bedürfnisse stärker ins Zentrum. Ja, ich erfinde mich neu! Das hört sich nun dramatisch an und ja, bei manch einer Frau in dieser Lebensphase wird das Leben gehörig umgekrempelt, den Job an den Nagel gehängt und der Mann verlassen; gottlob selten umgekehrt.
Bei manchen sind es allerdings nur Nuancen, kleine innere Weichen, die neu gestellt werden. Die Frage nach der inneren Zufriedenheit mit dem eigenen Leben steht da plötzlich ganz gross im Raum. Es ist auch eine Zeit des Infragestellens. Bewährtes möchte ich erhalten, Neuem einen Raum geben. Zeit, Entscheidungen zu treffen und eine erste Lebensbilanz zu ziehen. Für viele in diesem Alter sind entscheidende Phasen abgeschlossen – das Haus ist gebaut, die Kinder aus dem Gröbsten raus, der Berufsweg dümpelt vor sich hin, wie vielleicht auch das Eheleben.
Ich aber verspüre einen neuen Tatendrang, mein Leben zu optimieren! Möchte Neues anpacken und Routinen durchbrechen. Anders als früher, lasse ich die Dinge aber auch auf mich zukommen, statt alles steuern zu wollen.

Das Leben kann nur vorwärts gelebt werden.
Kürzlich las ich von 9 Dingen, welche eine junge Frau von einer gestandenen 50-Jährigen lernen könnte. Dinge wie, sich selber zur Priorität Nummer 1 zu machen, lernen «nein» zu sagen, aufzuhören darüber nachzudenken, was andere von einem halten, sich selber nicht zu ernst zu nehmen etc. All diese Phrasen kann ich unterschreiben. Aber – es ist ein Dilemma. Denn leider gelangt man zu diesen wunderbaren Erkenntnissen nur über Erfahrungen – nicht über Ratschläge! Ich merke dies jeweils, wenn ich mit neun-mal-klugen Lebensweisheiten bei meinen Teenietöchtern antanze und ihnen das Leben erklären will.
Die schauen mich dann bedröppelt an und denken sich wohl, die Mutter hat wieder ihre fünf Minuten und echt keine Ahnung vom anstrengenden Teenieleben – und was für uns gut und wichtig ist! Wieder eine Erkenntnis mehr: Das Leben kann nur vorwärts gelebt und vor allem durchlebt werden. Es gibt keine Abkürzung! Nur so gelangt man wie ich, irgendwann bis zur Mittelstation. Und die Aussicht da oben gefällt mir. Ich versuche, den Panoramaweg einzuschlagen und werte Stolpersteine als das, was sie sind: neue Aufgaben- und Übungsfelder. Schliesslich will ich ganz nach oben, bis zum Gipfel. Die Wanderschuhe sind geschnürt!
(Sabine Dermon am 30.05.22 im Tagesanzeiger)

Literatur zu den Wechseljahren:
vonOomen, Francine, “Francine und die total heiße Phase” – Wechseljahre für Anfängerinnen; Knaur Verlag
Dr.med. Christiane Northrup, “Weisheit der Wechseljahre”; Goldmann Verlag, ISBN-10: 3-442-21907-8

Lesen Sie auch dies!
und über
die Wechseljahre beim Mann!
und über die Blütenjahre der jungen Frau!

Veröffentlicht am 13. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
11. Juni 2024

Metabolisches Syndrom

Das metabolische Syndrom und der Typ-2-Diabetes als Wegbereiter des Herzinfarktes

Begriffe:

 “Metabolisches Syndrom”: existiert das überhaupt?!

Bereits 1923 wurde die Kombination von Bluthochdruck, erhöhten Blutzuckerwerten und Gicht zu einem «Syndrom» zusammengefasst. Die auch als «Syndrom X» oder «deadly quartet» bezeichnete Kombination kardiovaskulärer Risikofaktoren hat unterdessen mehrmals ihren Namen geändert und ist mit weiteren Stoffwechselabnormitäten ergänzt worden. Gemäss den Richtlinien des amerikanischen National Cholesterol Education Program von 2001 umfasst der 1998 von der Weltgesundheitsorganisation als «metabolisches Syndrom» bezeichnete Symptomkomplex die bauchbetonte Fettleibigkeit, eine typische Konstellation der Blutfette, einen erhöhten Blutdruck sowie einen im nüchternen Zustand erhöhten Blutzuckerwert. Erfüllt eine Person mindestens drei dieser Kriterien, leidet sie an einem metabolischen Syndrom. Weitere Zeichen können eine «Mikroalbuminurie» – die Ausscheidung kleiner Bluteiweisse über die Niere -, Veränderungen der Blutgerinnung, vermehrt im Blut zirkulierende Entzündungseiweisse, Leberveränderungen oder erhöhte Harnsäurewerte sein. Laut neuesten Schätzungen weist rund ein Viertel der westlichen Bevölkerung Zeichen eines metabolischen Syndroms auf, wobei dessen Häufigkeit mit dem Alter ansteigt.

Metabolisches Syndrom (Der Bauchumfang und 2 der weiteren 5 Kriterien genügen zur Diagnose):
Mann Frau
Bauchumfang >102 cm >88 cm
Blutdruck >140/90 mmHg
Plasmatriglyzeride >2,0 mmol/l
Quotient Total-Cholesterin : HDL-Cholesterin                                             >5
Nüchternplasmaglukose >6,4 mmol/l (oder HbA1c>6,5%)

Entzündungsneigung als zentraler Mechanismus

Der Schweregrad des Metabolischen Syndrom korreliert mit einem Anstieg der Entzündungsneigung! Studien zeigen, dass die Stammfettsucht und die Hypertonie (ev. aber auch die Niereninsuffizienz!) die gefährlichsten Risikofaktoren für die chronische Entzündung im Rahmen des Syndroms sind. (Santos et al., International Journal of Obesity, Dec 2005;29:1452-1456).
Die Neuroinflammation und eine Hypersensibilität spielt ebenfalls eine zentrale Rolle.

Pathologische Aktivierung des Immunsystems

Die Entzündungsparameter im Blut (CRP, Interleukin-5, Interleukin-1 beta (IL-1 beta), Kortisol) sind auch bei Patienten mit einem Metabolischen Syndrom erhöht. Es ist bekannt, dass Fettgewebe Entzündungsprozesse begünstigen kann. Die Theorie: Wenn Fettpolster zu schnell anwachsen, werden sie nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt (Hypoxie) und rufen die Fresszellen (Makrophagen) des Körpers auf den Plan. Das Risiko für chronische Entzündungen steigt.
Allein schon der Anblick von Süssem kann bei einem Übergewichtigen ein Entzündung auslösen! In Erwartung eines süssen Teilchens schnellt der Insulinspiegel schon vor dem ersten Biss in die Höhe und sorgt so für einen geschmeidigen Abtransport der Kohlenhydrate nach der Mahlzeit.
Der Blick aufs Essen aktiviert im Gehirn offenbar bestimmte Immunzellen, die sogenannte Mikroglia. Diese Zellen schütten dann einen Entzündungsfaktor namens Interleukin-1 beta (IL-1 beta) aus. Normalerweise ist dieser Faktor an der Abwehr von Krankheitserregern beteiligt, im Verdauungsfall aber stimuliert IL-1 beta über einen bestimmten Nerv die Ausschüttung von Insulin. Mit Entzündungen im eigentlichen Sinne haben all diese Vorgänge nichts zu tun.
Nun gibt es aber den Verdacht, dass ein chronisch erhöhter Blutspiegel des Entzündungsfaktors IL-1 beta bei übergewichtigen Menschen Diabetes auslösen könnte.
Diese Gesamtentzündung wird heute als mitverantwortliche Ursache der Insulinresistenz, des Fehlens von Insulinsekretion bei Diabetes und auch der Arteriosklerose, sowie Krebs gesehen.
Bei einem gesunden Menschen funktioniert IL-1 beta als ganz normale Verdauungshilfe, ein nur etwa zehn Minuten andauernder Prozess: Der Kopf stupst die Bauchspeicheldrüse gleichsam nur an. Bei stark übergewichtigen Menschen aber ist die IL-1-beta-Produktion überschiessend und andauernd wie bei einer chronischen Entzündung.
Dieser Zusammenhang von Immunsystem und Stoffwechsel (auch Immun-Metabolismus genannt) beschreibt Jacques Philippe eindrücklich im Schweiz Med Forum 2018 (aber auch die Ernüchterung einer anti-entzündlichen, medikamentösen Therapie dagegen).

Auch wenig Sinn im eigenen Leben zu sehen, erhöht nach neueren Studien stets (wie beim Dauerstress) etwas den Kortisolspiegel im Blut, was eine permanente Schwächung des Immunsystems nach sich zieht – und deshalb nachgewiesenermassen eine Erhöhung der Entzündungsneigung: walserblog.ch/2021/07/04/sinn-im-leben/!

Auch der Darmflora wird eine grosse Rolle zugesprochen. Die Darmwand ist bei Patienten mit Übergewicht und Diabetes weniger dicht: dadurch können bakterielle Wandprodukte, sogenannte Lipopolysaccharide, sie besser durchdringen und Entzündungen in verschiedenen Geweben verstärken. Die Zusammensetzung der Darmflora scheint dabei eine wesentliche Rolle zu spielen! Mehr zum Diabetes als Entzündung!

Chronischer Arbeitsstress und die Verbindung zum Metabolischen Syndrom

In dieser prospektiven Kohortenstudie haben britische Forscher versucht, einen Zusammenhang zwischen Arbeitsstress und dem Metabolischen Syndrom nachzuweisen. 10308 Männer und Frauen zwischen 35 und 55 Jahren wurden inkludiert und durchschnittlich 14 Jahre lang nachverfolgt (1985-1999).
Man fand eine Dosis- Wirkungsbeziehung zwischen lange persistierenden Arbeitsstressfaktoren und dem Risiko am Metabolischen Syndrom zu erkranken. Angestellte, die mindestens 3 Monate lang chronischem Arbeitsstress ausgesetzt waren, hatten ein doppelt so hohes Risiko als jene ohne Stressfaktoren (alters- und der beruflichen Position angepasste odds ratio: 2.25).
Die Autoren schliessen, dass Arbeitsstress ein wichtiger Risikofaktor für das Entstehen eines Metabolischen Syndroms ist. Diese Ergebnisse bekräftigen die Wahrscheinlichkeit eines kausalen biochemischen Zusammenhanges zwischen psychosozialen Stressfaktoren des täglichen Lebens und der Entstehung von Herzkreislauferkrankungen, aber auch der Niereninsuffizienz.(Chandola T. et al. BMJ 2006; doi:10.1136/bmj.38693.435301.80)

Siehe dazu auch meine Gedanken zum stressigen “Cortisol-Jogger”:  www.dr-walser.ch/jogging/#langsamkeit !

Natürliche Rhythmen und Metabolisches Syndrom

Auch ein regelmässiger Tagesablauf mit gut eingeplanten Essenszeiten ist sehr wichtig. Licht und Nahrung sind die wichtigsten Zeitgeber für den Menschen. Sie sollten synchron sein. Das heisst man sollte 1 Hauptmahlzeit und (eins bis) zwei kleinere Mahlzeiten genau und immer regelmässig planen – und man sollte nur bei Tageslicht essen, da mit Eintreten der Dunkelheit unser Stoffwechsel sich grundlegend umstellt und Fett (und auch die Kohlenhydrate) viel langsamer abgebaut werden. Dies führt zur Entwicklung von chronischen Erkrankungen wie Übergewicht/Adipositas, Diabetes oder auch Hypertonie und Blutfettanstieg!

Akne und das metabolische Syndrom der Haut

Akne ist das sichtbare metabolische Syndrom der Haut durch übersteigerte Wachstumsfaktorsignale westlicher Ernährung. Niedrigglykämische Diäten führen zu einer Abnahme der entzündlichen Akneläsionen.
Gut ist also: Kaum Milch und Milchprodukte, selten zuckerhaltige Speisen und kein Fast Food oder Backwaren!
Meiden Sie alle Lebensmittel, die den Blutzuckerspiegel stark beeinflussen, also solche mit einem hohen “Glykämischen Index” (Weissbrot, gezuckerte Frühstückflocken, Gebäck, süsse Limonaden wie Cola…). Man vermutet, dass das Hormon Insulin schuld ist, da es die Produktion von männlichen Wachstumshormonen (Androgenen) sowie des Botenstoff IGF-1 anregt. Diese regen dann die Talgproduktion an und begünstigen die Verstopfung der Poren. (Neil Mann et al.;American Journal of Clinical Nutrition, 2007)
Neueste Untersuchungen zeigen auch eine klare Abhängigkeit von Kuhmilch und verschiedenen Milchprodukten (Quark, Streichkäse, Instant-Milchgetränke und v.a. entrahmte Milch sind die Übeltäter! Es hat also nichts mit dem Fettgehalt der Produkte zu tun.). Adebamowo CA et al., J Amer Acad Dermatol 2005; 52:207-214
Sicher ist, dass auch starkes Übergewicht durch einen Hyperinsulinismus die Produktion der männlichen Hormone (Androgene) stimulieren kann. Dann hilft Abnehmen auch gegen Akne.
Auch Rauchen sollte man unbedingt stoppen, da dies das metabolische Syndrom der Haut massiv verstärkt!

Gicht – Disease of Kings?

Die Gicht ist schon lange keine Krankheit der Könige mehr: ihre Inzidenz nimmt global zu und die Gründe dafür sind vielfältig.
Diese retrospektive Populationsstudie aus Korea hat den Zusammenhang von metabolischem Syndrom und Gichtinzidenz in einer riesigen Kohorte von jungen Männern (Alter 20–39 Jahre) untersucht. Als metabolisches Syndrom wurde gewertet, wenn drei und mehr der folgenden Kriterien erfüllt waren: abdominale Adipositas, Hypertriglyzeridämie, erniedrigtes HDL-Cholesterin, arterielle Hypertonie und erhöhte Nüchternglukose. Die Diagnose wurde an drei Gesundheitschecks im Intervall von jeweils zwei Jahren überprüft. Die Inzidenzrate der Gicht lag bei 3,36/1000 Personenjahren. Männer mit einem chronischen metabolischen Syndrom wiesen aber ein fast vierfach erhöhtes Risiko auf, eine Gicht zu entwickeln (Hazard Ratio [HR] 3,82)! Trat ein metabolisches Syndrom erst im Verlauf der Studie auf, war das Risiko immerhin noch doppelt so hoch (HR 2,31). Waren die Kriterien für ein metabolisches Syndrom bei einem Gesundheitscheck nicht mehr erfüllt, reduzierte sich umgekehrt das Risiko für eine Gicht um rund die Hälfte (HR 0,52). Veränderungen im Serumwert der Triglyzeride und im Gewicht hatten dabei den stärksten Effekt – eine Zunahme als Triggerfaktor, eine Reduktion im protektiven Sinn.
Die Studie setzt einen wichtigen Reminder: Auch im Zeitalter moderner Gichtmedikamente hat die Modifikation von Lebensstilfaktoren eine entscheidende Rolle bei der Prävention.
(Arthritis Rheumatol. 2023, doi.org/10.1002/art.42381.)

Was lässt sich tun?

Gehen Sie in sich und suchen Sie nach bildhaften Erinnerungen von Situationen, in denen Sie gesund gelebt und sich gut dabei gefühlt haben. Vielleicht war es ein Urlaub: Sie machten lange Strandwanderungen mit einem Freund, und abends gab es mediterrane Küche bei Kerzenschein. Lassen Sie dieses Bild in sich leben und führen Sie sich vor Augen, dass Ihr Arzt genau das mit seinen Empfehlungen meint.
Tatsächlich, so haben in letzter Zeit gleich mehrere Studien gezeigt, lässt sich der Ausbruch eines Diabetes bei diesbezüglich gefährdeten Personen mit recht unspektakulären Massnahmen wenn nicht verhindern, so doch zumindest verzögern. Denn schon mit moderaten Veränderungen des Lebensstils – einem Gewichtsverlust von 5 bis 10 Prozent des Körpergewichts, regelmässigen, alltäglichen kurze Fastenperioden (Intervallfasten) und regelmässiger körperlicher Bewegung – konnten die Studienteilnehmer ihr Risiko halbieren, in den kommenden Jahren zuckerkrank zu werden. Medikamente gegen Diabetes scheinen übrigens nicht gleich effektiv wie Änderungen des Lebensstils.
Eine Verminderung des Arbeitsstresses ist ebenfalls unumgänglich!

Oder anders gesagt:
Pro 1 Kilogramm Gewichtsverlust ergibt sich eine Reduktion des Diabetes um 13 Prozent.
Bei Gewichtsverlust von 20 kg verschwindet der Diabetes mellitus Typ II in 95 Prozent!

Mediterrane Kost mit etwas weniger Kohlenhydraten als gewöhnliche – die LOGI-Methode:

In der LOGI-Methode (steht für Low Glycemic Index) sollen in der täglichen Nahrung Lebensmittel mit niedrigem GI bevorzugt, solche mit hohem GI dagegen eingeschränkt werden. Die GL (Glykämische Last) aller pro Tag verzehrten Lebensmittel sollte am besten unter 80 liegen.
Im Unterschied zu Atkins und „South Beach“, etc. empfiehlt man viel Obst und Gemüse (und eine Handvoll Nüsse täglich) sowie ungesättigte Fette wie Raps- bzw. Olivenöl. Um die Stoffwechsellage zu verbessern, ist es einerseits wichtig, weniger Energie aufzunehmen. Andererseits ist insbesondere die Art der zugeführten Fette von grosser Bedeutung. Verschiedene Untersuchungen belegen in diesem Zusammenhang den Wert einfach ungesättigter Fettsäuren (besonders reichlich in Oliven- oder Rapsöl enthalten), die im Gegensatz zu den gesättigten Fetten die Insulinempfindlichkeit der Gewebe verbessern.
Die LOGI-Methode beruft sich auf die Ernährung unserer Urvorfahren, als KH noch eher knapp waren. Optisch umgesetzt wird diese Methode auch in der Lebensmittelpyramide, die Lebensmittel von „sehr empfehlenswert“ (= Basis der Pyramide, man soll viel davon zu sich nehmen), bis hin zur Spitze (= „weniger empfehlenswert“ – nur in geringen Mengen verzehren!) staffelt. Die Basis bilden Obst, stärkefreies Gemüse aber auch hochwertiges Öl.
Mindestens fünf Portionen Gemüse und Obst sollten pro Tag verzehrt werden – drei Portionen Gemüse und zwei Portionen Früchte. Auf der zweiten Stufe folgen eiweissreiche Lebensmittel wie Milchprodukte, Eier, mageres Fleisch, Nüsse und Hülsenfrüchte. Erst auf der dritten Stufe sind kohlenhydratreiche Produkte wie Vollkornbrot, Nudeln und Reis zu finden. Die Spitze bilden schliesslich Weissmehl-Produkte, Kartoffeln und Süssigkeiten. LOGI entspricht einer Art mediterranen Ernährung, aber nicht mit Teigwaren und Pizza, sondern eher mit viel Salat, Gemüse, Obst, Fisch aber auch wenig Fleisch.

Gemäss Studien sind die Unterschiede nach sechs Wochen LOGI-Diät zwar klein, aber bedeutend. Insbesondere waren die Blutzucker- und Cholesterinwerte stärker als in der Kontrollgruppe gesunken (Journal of the American Medical Association JAMA 300, 2742-2753 (2008)).

Bereicherung der Darmflora verbessert das Metabolische Syndrom

Was sehr wahrscheinlich bei dieser Ernährungsumstellung noch viel wichtiger ist, scheint die Veränderung, die sie auf die Besiedlung mit Darmbakterien bewirkt. Die mediterrane Ernährung bekämpft die Verarmung dieser Darmbakterien, die höchst wahrscheinlich auch eine sehr wichtige Ursache für das Metabolische Syndrom ist.

Noch ein therapeutischer Schritt weiter sind Stuhltransplantationen:
2000 wagte Gerhard Rogler vom Universitätsspital Zürich erstmals den unorthodoxen Eingriff bei einer Patientin, die wegen einer Infektion mit dem Darmkeim Clostridium difficile an krampfartigen Bauchschmerzen, Durchfall und Fieber litt. Die Ärzte spülten den Darm der Patientin und spritzten danach gereinigten Kot einer Verwandten ein. Die Therapie war erfolgreich. Seither hat die Uniklinik Zürich sehr viele weitere Patienten mit einer C.-difficile-Infektion behandelt – bis auf ganz wenige sind alle geheilt.
Derweil testen Forscher weltweit die Stuhltransplantation bei einer Reihe weiterer Darmerkrankungen wie Reizdarm, chronischer Verstopfung, Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn. Holländische Forscher haben die Methode bei Patienten, die am metabolischen Syndrom leiden, erprobt – ebenfalls mit Erfolg. Bei den Patienten hat sich nach der Transplantation mit aufgereinigtem Kot eines dünnen Spenders die Insulinsensitivität erhöht.
Wirklich appetitlich ist diese Therapie nicht, dafür anscheinend
umso wirksamer: Stuhltransplantationen können lebensbedrohliche Darminfektionen heilen – und möglicherweise noch viel mehr.

Die wichtigste Massnahme überhaupt, ist neben dieser mediterranen Ernährung, dem Intervallfasten und mehr Bewegung auch das Stoppen eines eventuellen Nikotingebrauchs (wichtigster zusätzlicher Risikofaktor für die Arterienverkalkung)!

Ein Zustand der «Metabolischen Fitness» wird auch durch längere Pausen zwischen den einzelnen Mahlzeiten (vor allem ein langes Nachtfasten = Intervallfasten oder 16:8) erzielt. Dadurch reduzieren sich die für die Entwicklung arteriosklerotischer Veränderungen offenbar besonders kritischen Phasen nach einer Mahlzeit, während denen die Blutzucker-, Insulin- und vor allem Triglycerid-Werte im Blut erhöht sind (>>>Breakfast- oder Dinner-Canceling).

Die ideale Reihenfolge während einer Mahlzeit ist:
1. zuerst die Ballaststoffe (Gemüse, Salat, Nüsse), dann
2. die Proteine (Käse, Hülsenfrüchte, Fisch, Ei) und nur zum Schluss eventuell
3.) die Stärke (Brot, Pasta) und wenig Zucker (als Dessert!).

Sehr wichtig neben dem Erreichen des Normalgewichtes (resp. Verringern des Bauchfettes) scheint regelmässige Bewegung zu sein.  Zahlreiche Studien haben unterdessen bestätigt, dass körperliche Betätigung das Risiko für Herz- Kreislauf-Krankheiten reduziert, zumindest zum Teil über eine günstige Beeinflussung der Faktoren des Metabolischen Syndroms. Dass es für den erwünschten Effekt keineswegs nötig ist, Spitzensport zu betreiben, zeigen die jüngsten Empfehlungen der amerikanischen Centers of Disease Control and Prevention, wonach Erwachsene an möglichst vielen Wochentagen mindestens 30 Minuten «moderat körperlich aktiv» sein sollen. Als einfache Regel kann 3in3 gelten: mindestens 3 Stunden wöchentlich, verteilt auf mindestens 3mal! (genügend Bewegung?! >>>Test!) – und es muss nicht intensiver und langdauernder Sport sein, sondern die Bewegung kann (für die Gesundheit und nicht unbedingt für die Ausdauer) kurz und moderat, jedoch dann täglich und häufig sein!

Während die gesunde Skelettmuskulatur die Möglichkeit hat, neben Kohlehydraten auch Lipide zu verwerten, und je nach Bedarf, Stoffwechsellage und hormonellen Signalen zwischen diesen beiden Energiequellen wechseln kann, besteht bei adipösen Personen und Diabetikern durch die Einlagerung von Fettsäuren in die Muskeln eine metabolische Inflexibilität. Durch regelmässigen Sport nun werden die für die Fettverbrennung notwendigen Enzyme wieder aktiviert – die Fettreserven am falschen Ort können mobilisiert werden. Besonders günstig ist körperliche Bewegung nüchtern vor oder mindestens 3 Stunden nach den Mahlzeiten. Dadurch werden die muskulären Fettspeicher entleert, und die nach einer Mahlzeit anfallenden Nahrungsfette können wenigstens zum Teil aufgenommen werden.

Viel Sitzen ist ganz schlimm!

Je länger Menschen am Stück sitzen, ohne zwischendurch aufzustehen  und herumzugehen, desto schlechter reagiert ihr Organismus auf das Hormon Insulin und umso „süsser“ wird ihr Blut nach der Zufuhr erhöhter Glukosemengen. Erwartungsgemäss stand auch die im Laufe des Tages akkumulierte gesamte Sitzdauer in einer engen Beziehung zum Zuckerstoffwechsel. So tendierte der Metabolismus umso stärker in  Richtung eines Diabetes, je mehr Sitzstunden pro Tag zusammen kamen.
Versuchspersonen, die trotz allem noch körperlich aktiv waren, schnitten zwar besser ab als Bewegungsmuffel. Weder Sport noch andere vor Diabetes schützende Faktoren, darunter vor allem ein gesundes Körpergewicht, konnten die verhängnisvollen Bande zwischen Dauersitzen und Entgleisungen des Zuckerstoffwechsels allerdings auflösen.

Eine weiter Studie zeigte, dass jede Zunahme der Fernsehdauer um zwei Stunden pro Tag mit einer 25%igen Steigerung des Übergewichts und einer 15%igen Steigerung des Diabetesrisikos verbunden war (JAMA 289 (2003) 1785-1791). Es sollte also nicht nur die körperliche Aktivität gefördert, sondern auch auf die Risiken sitzender Tätigkeiten verstärkt hingewiesen werden.

Ein stabiles Körpergewicht senkt das Risiko für das Metabolische Syndrom

In einer 15jährigen  Beobachtungsstudie (Donald M.Lloyd-Jones et al., Circulation 2007;115:1004-1011) mit 2700 Männern und Frauen wurde eindeutig gefunden, dass ein stabiles Körpergewicht (BMI) UNABHÄNGIG VOM AUSGANGSWERT langfristig das Risiko für ein Metabolisches Syndrom senken kann!

Schon 2 Softdrinks pro Tag erhöhen das Risiko eines Metabolischen Syndroms

Um einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Genuss von Softdrinks und der Entstehung des metabolischen Syndroms festzustellen haben Forscher 6039 Personen (Durchschnittsalter 52.9 Jahre) aus der Framingham Studie, welche keine Hinweise auf ein metabolisches Syndrom zeigten, untersucht. Die Daten wurde für das Alter, Geschlecht, physische Aktivität, Rauchverhalten, gesättigte Fettsäuren aus der Ernährung, Transfette, Magnesium, Ballaststoffe, Gesamtkalorien und glykämischen Index angepasst.
Man fand bei Personen, die mehr als 1 Softdrink/Tag zu sich nahmen eine höhere Prävalenz des metabolischen Syndroms (OR=1.48) als bei jenen, die weniger konsumierten. Beim Follow up nach ca. 4 Jahren hatten 18.7% der Personen aus der Gruppe mit weniger als 1 Softdrink/Tag (n=4095) und 22.6% aus der Gruppe mit mehr als 1/Tag (n=2059) ein metabolisches Syndrom entwickelt. Der Genuss von mehr als 1 Softdrink/Tag war mit einem höheren Risiko zur Entwicklung eines metabolischen Syndroms (OR=1.44), Adipositas (OR=1.31), erhöhtem Bauchumfang (OR=1.30), erhöhtem Nüchternblutzucker (OR=1.25), erhöhtem Blutdruck (OR=1.18), Hypertriglyceridämie (OR=1.25) sowie erniedrigtem HDL-Cholesterin (OR=1.32) assoziiert.
Die Forscher schliessen daraus, dass der Genuss von Softdrinks bei Personen im mittleren Alter zur Erhöhung mehrerer metabolischer Risikofaktoren führt. (Ravi Dhingra et al., Circulation 2007;116:480-488)

Steigender Fruktosekonsum als Auslöser des Metabolischen Syndroms?

In den letzten Jahrzehnten kam es zu einem drastischen Anstieg des Konsums von freier Fruktose (welche etwa 1,6mal süsser ist als Glukose oder Saccharose), da das billigere Süssmittel “high fructose corn syrup” (HFCS) in vielen unseren Getränken, Backwaren und anderen süssen Lebensmitteln beigefügt wurde. Daten aus den USA zeigen eine parallele Entwicklung zwischen der rasanten Zunahme von Übergewicht und den Zusätzen an freier Fruktose. Im Gegensatz zur Glucose wird die Fructose insulinunabhängig verstoffwechselt. Da Insulin indirekt einen Anteil an der Erzeugung des Sättigungsgefühls hat, Fructose also den Appetit nicht nimmt, kann durch den starken Einsatz von HFCS als Süssstoff leicht Übergewicht entstehen. In grossen Mengen kann freie Fruktose möglicherweise auch Bluthochdruck begünstigen. Es beeinflusst auch das Lipidprofil (Blutfette) ungünstig, da es in höheren Mengen die Fettsynthese fördert und damit die postprandialen (nach dem Essen) Serumtriglyzeride (Art Blutfett) ansteigen lässt. Patienten mit metabolischem Syndrom muss v.a. vom Konsum von mit HCFS oder Saccharose gesüssten Getränken abgeraten werden. In der Schweiz gibt es aber bisher keine Deklarationspflicht für die Mengen einzelner zugesetzter Zuckerarten wie Fruktose, Saccharose, Maltose usw.!
Nun kommen neuere Studien, die zeigen, dass ein moderater Fructose-Konsum (<1–1,5 g/kg/d) bei ausgeglichener Ernährung doch sicher zu sein scheint. Ein übermässiger Zuckerkonsum hingegen ist schädlich, und dies unabhängig von der Zuckerart.

Weitere Massnahmen, die sich leicht angehen lassen:

Der Hausarzt sollte unbedingt den Blutdruck und die Blutfette (Cholesterin, etc.) und auch die Nierenwerte kontrollieren und (ev. auch medikamentös) behandeln.

Das Fettgewebe als endokrines Organ

In den letzten Jahren hat sich immer deutlicher gezeigt, dass das Fettgewebe nicht einfach nur ein Energiespeicher, sondern vielmehr ein endokrines, also hormonell aktives Organ ist, das proportional zur Menge der Fettzellen verschiedene Substanzen in die Zirkulation abgibt. Dazu gehören Moleküle wie etwa der Tumor-Nekrose-Faktor- (TNF-), Leptin, Resistin, Adipsin oder Adiponectin, die über den Appetit und den Energieumsatz Körpergewicht und Fettdepots steuern. Weiter beeinflussen sie die Blutgerinnung, den Tonus der Gefässe sowie die Insulinempfindlichkeit der verschiedenen Zielgewebe. Die bei Fettleibigkeit erhöhte Konzentration dieser hormonähnlichen Substanzen steht deshalb in engem Zusammenhang mit der Entwicklung von Bluthochdruck, der Insulinresistenz sowie Störungen der Blutgerinnung – alles Symptome, die mit dem metabolischen Syndrom assoziiert sind.
Ist viel Fettgewebe vorhanden, werden zudem grosse Mengen an Fettsäuren freigesetzt und nicht nur in die normalen Fettdepots der Unterhaut, sondern auch in Muskulatur und Leber eingelagert. Wie Tierversuche und Magnetresonanz-Untersuchungen an adipösen Probanden gezeigt haben, wird dadurch die Insulinwirkung auf diese Gewebe gestört. Die im Rahmen der Nahrungsaufnahme anfallende Glukose, aber auch Fette und Aminosäuren können von den Muskelzellen nicht mehr verwertet werden; in der bei fettleibigen Personen nahezu immer verfetteten Leber wird die endogene Glukose-Produktion durch Insulin nicht mehr unterdrückt – der Blutzuckerspiegel steigt an.
Weiter lassen neuere Arbeiten vermuten, dass vorab im Bauchfett eine lokal angekurbelte Kortison-Synthese für die Insulinresistenz eine verhängnisvolle Rolle spielen könnte. Offenbar ist in übermässig vorhandenem Fettgewebe die Aktivität eines Schlüsselenzyms der Kortison-Produktion gesteigert und führt – so die Beobachtung an Mäusen – zur vermehrten Freisetzung von Fettsäuren und zu einer verminderten Adiponectin-Synthese. 

Bewege ich mich genug?

Dass es für einen gesundheitsfördernden Effekt keineswegs nötig ist, Spitzensport zu betreiben, zeigen die jüngsten Empfehlungen der amerikanischen Centers of Disease Control and Prevention, wonach Erwachsene an möglichst vielen Wochentagen mindestens 30 Minuten «moderat körperlich aktiv» sein sollen.
Als einfache Regel kann 3in3 gelten: im Minimum 3 Stunden wöchentlich, verteilt auf mindestens 3mal!
Ein Werkzeug zur schnellen Berechnung der eigenen Bewegungs- oder körperlichen Aktivitätsleistung wurde in einer Studie mit englischen Hausärzten entwickelt (Br J Sports Med 2005;39:294-297, A L Marshall, brief physical activity assessment for use by family doctors):

Zählen Sie die Punkte zusammen, welche für Sie zutreffen:

  • A) Wieviel mal pro Woche führen Sie üblicherweise 20 Minuten schwere körperliche Tätigkeit aus, die Sie zum Schwitzen bringt (z.B. Jogging, Gewichtheben, Aerobic, schnelles Velofahren, etc.)
    – mehr als 3mal in der Woche: 4 Punkte
    1 bis 2mal die Woche : 2
    – Nie! 0
  • B) Wieviel mal pro Woche führen Sie üblicherweise 30 Minuten leichte körperliche Tätigkeit aus, die Ihre Atmung schneller werden lässt (z.B. Velofahren, Wandern, leichte Gewichte Tragen, etc.).
    – 3 bis 4mal in der Woche: 3 Punkte
    – 1 bis 2mal pro Woche: 1
    – Nie! 0

Total: 

Total = Score A + Score B:
höher als 4: genügend körperliche Aktivität!  >>> Machen Sie weiter so!
0 bis 3: ungenügend körperliche Aktivität! >>> Versuchen Sie mehr zu tun!

Wie steht es um meinen Fitnessstand?

 Die norwegische Uni Trondheim hat einen Fitness-Kalkulator aus einer grossen Studie erschaffen, der ganz einfach aus 5 Faktoren (Geschlecht, Alter, Bewegungsquantität und -qualität, Bauchumfang, Ruhepuls) errechnet wird. Bestimmen können Sie dabei auch gleich Ihr Fitness-Alter, was dann vielleicht in etwa Ihrem “Biologischen Alter” entspricht (mit Vorsicht zu geniessen!):
www.ntnu.edu/cerg/vo2max

Die AMPK – ein universeller Energiesensor

AMPK (5-Adenosin-Monophosphat-aktivierte Proteinkinase) ist ein Enzym mit sehr interessanten Wirkungen in unserem Körper: Es verbessert die Blutfett- und Zuckersituation und wirkt auch antiproliferativ, also krebshemmend!

Folgende Stoffe pflanzlicher Herkunft aktivieren alle die AMPK:

Vollbildansicht

>>>weiterführender Artikel über die AMPK hier auf dieser Website!

Veröffentlicht am 13. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
27. Juni 2023

Midlife-Boomer

Glück mit Falten

Was man/frau schon lange weiss: Die 50-plus-Generation hat solidere und reifere Beziehungen (und den “besseren” Sex!). Die Selbstverwirklichung steht auf stabilen Beinen, die Konflikte, die bei Karriere und Kindern kaum zu vermeiden waren, sind Vergangenheit. Vielleicht wird es in Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein, das Leben der Erwachsenen in zwei Phasen zu begreifen: in einer ersten, in der wir eine Familie gründen und Turbokarrieren starten (die sogenannte Rushhour des Lebens) – und in einer zweiten, in den wir mit uns viel Zeit und Energie für die Beziehung reif und “für immer” binden.

Eine Million Studien belegen es: Älter werden macht Spass:

Das neue U-Bild des Lebens

zitiert nach Margaret Heckel aus Das Magazin 44/2012

Eine Frau, die im Jahr 1950 geboren wurde, darf sich freuen. Als Schweizerin dieses Jahrgangs hat sie die höchste Lebenserwartung weltweit. Durchschnittlich 22 weitere Jahre warten auf sie — und mit jedem Jahr werden es mehr.
Ihre Enkel, die im 21. Jahrhundert geboren werden, haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, 100 Jahre alt zu werden — jeder dritte mindestens, vielleicht sogar jeder zweite.
Was werden die Menschen mit dieser Lebensspanne anfangen? Wie gestaltet man ein 100-jähriges Leben? Noch gibt es kaum Antworten auf diese Frage. Die demografischen Veränderungen in Europa sind schleichend, doch unabwendbar. Wir werden älter. Wir werden weniger. Und wir werden vielfältiger.
Nicht nur Europa, auch die Schwellenländer altern. Schon im Jahr 2026 wird sich in China der Anteil der über 65-Jährigen von 7 auf 14 Prozent verdoppelt haben. In Brasilien ist es im Jahr 2032 so weit, in Singapur schon 2019. Für das Jahr 2069 prognostiziert die UNO für China die stolze Zahl von einer Million 100-Jähriger.
Das hat Folgen. Vor allem brauchen wir ein neues Bild vom Altern. Zu viele Menschen glauben noch, dass es vom 50. Geburtstag an abwärts geht. Mit dem Leben. Mit der Karriere. Mit der Gesundheit. Mit dem Glück.
Das aber ist ein Trugschluss, wie neue Studien zeigen. Sie deuten darauf hin, dass die Menschen ab 50 glücklicher und zufriedener werden. Die Glückskurve stellt sich als U-Form heraus, mit einem statistischen Tiefpunkt im Alter von 46. Auch die Lebenszufriedenheit ist im Alter noch weit höher als in der Phase der frühen Erwachsenenzeit.
Hinzu kommt der demografische Wandel. Menschen um die 50 werden künftig gefragt sein, weil sich der Mangel an Facharbeitern kontinuierlich verschärft. Wer als Firma attraktiv sein will, muss künftig Arbeitszeitmodelle anbieten, die dem Arbeitnehmer mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten als früher einräumen.
Kein Bereich der Personalpolitik wird sich so stark ändern wie der Umgang mit älteren Mitarbeitern. Schon in wenigen Jahren wird es keine Frage mehr sein, dass Arbeitnehmer bis weit ins sechste Lebensjahrzehnt geschult und fortgebildet werden. Altersgemischte Teams werden normal sein.
In den Fabriken werden die Arbeitsabläufe und Maschinen optimiert sein, die Mitarbeiter können körperschonend wie nie zuvor arbeiten — egal, ob sie alt oder jung sind. Es wird noch immer Bereiche harter körperlicher Arbeit geben, doch die Unternehmen werden sie schon aus Eigeninteresse so weit wie möglich reduzieren.
Der Dachdecker, der immer als Beispiel herhalten muss, wird nach seinem 50. Geburtstag in andere Tätigkeiten hineinwachsen — in die Büroarbeit, in die Beratung von Kunden oder die Ausbildung anderer Mitarbeiter. Auch wenn er nicht mehr auf dem Dach steht, wird er im Arbeitsleben bis an die Schwelle des 70. Geburtstages gebraucht werden.
Dieses Gebrauchtwerden ist der Paradigmenwechsel. Es löst ein Vierteljahrhundert ab, in dem der ältere Arbeiter in der Politik, der Wirtschaft und den Medien als ersetzbar, nicht mehr belastbar und verbraucht beschrieben wurde. Diese Abwertung menschlicher Leistungsfähigkeit ist noch schlimmer als die immens hohen Kosten, die uns die fatale Frühverrentungspolitik seit Ende der 80er-Jahre beschert hat.
Noch gibt es nur wenige Unternehmen, die offensiv Angebote für ihre älter werdende Belegschaft machen. Noch seltener gibt es Vordenker, die konsequent Schlüsse ziehen aus der Tatsache, dass der Mensch älter wird.
Eine davon ist Laura L. Carstensen, die Leiterin des Center on Longevity der Stanford University in Kalifornien. «Wir sollten unsere Leben so planen, dass die Menschen mit 50 noch einmal aufbrechen. Sehen Sie es als ein 50 : 50-Modell», schreibt sie in ihrem Buch «A Long Bright Future». Die ersten 50 Jahre eigneten wir uns «eine Fülle an Wissen und sozialem Know-how an, um es die nächsten 50 Jahre an unsere Umgebung und die Gesellschaft zurückzugeben».
Für die Psychologin ist das «eine radikale Abwendung von dem alten Lebensplan, der alles nach 50 als Abstieg und Niedergang sieht». Sie plädiert leidenschaftlich für ein neues Modell der Lebensspannen: «In diesem neuen Skript wird es ab 50 erst richtig interessant, und man kommt in eine Phase, in der man wirklich etwas beitragen kann, sei es in der Familie, bei der Arbeit oder in der Gesellschaft.»
Dafür aber brauchen wir ein radikal neues Bild vom Altern — und ein neues Drehbuch für unser Leben. «Als Gesellschaft haben wir keine Vorstellung davon, wie sich ein glücklicher, gesunder 100-Jähriger fühlt. Niemand hat ein Konzept dafür, was es bedeutet, wenn sich die Zeit des Ruhestandes über 40 Jahre hinzieht», argumentiert die Psychologin, die bald 60 wird. Lebensabschnitte sind für sie «soziale Konstrukte, keine absoluten Realitäten».
Die Geschichte des langen Lebens muss erst geschrieben werden. Wir brauchen eine «neue Landkarte des Lebens», meint die Anthropologin Mary Catherine Bateson. Sie zu füllen könnte ganz analog zur Erfindung der Adoleszenz vor über 100 Jahren geschehen: Bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kinder einfach als kleine Erwachsene wahrgenommen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich mit den Jahren der Ausbildung etwas Neues in diese Abfolge schob: die Adoleszenz, eine Phase des Erwachsenwerdens, die gut eine Dekade umfasst.
Der Soziologe Peter Laslett hat schon 1989 vier Lebensphasen beschrieben: als erste die der Kindheit und Jugend, danach das Erwachsensein und die berufliche Karriere und am Schluss das erneute Abhängigsein im hohen Alter und der kommende Tod. Dazwischen aber gebe es eine neue Phase zwischen dem Ende der elterlichen Pflichten sowie dem vermeintlichen Höhepunkt der beruflichen Karriere und dem Einsetzen der letzten Phase.
Laslett nennt diese neue Phase das «dritte Alter». «Es ist eine Zeit, wo Individuen sich von den praktischen Notwendigkeiten der mittleren Jahre befreien können und noch Jahrzehnte vom hohen Alter entfernt sind. Es ist eine Gelegenheit für neue Entdeckungen, für Lernen und persönliches Wachstum, für vielleicht die wichtigsten Beiträge zu seinem eigenen Leben.» Für das, was im englischen Sprachraum Middle Ages, Life: Take 2 genannt wird, existiert kein deutscher Begriff. Aber es gibt viele Versuche, diese Phase mit kreativen Ideen zu füllen, überall haben sich Trendsetter, Kreative, Unerschrockene und Innovative aufgemacht, diese Landkarte des langen Lebens zu beschreiben. Sie sind dabei, das Alter neu zu definieren.
Ich nenne sie die Midlife-Boomer: eine zahlenmässig starke und gut ausgebildete Generation um die 50, deren Erfahrungen und Qualitäten auch morgen gefragt sein werden. Die Volksweisheit «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» ist nämlich Unsinn, wie wir heute wissen. «Das menschliche Gehirn bleibt bis ins hohe Alter veränderbar», sagt Ursula Staudinger, die an der Jacobs University Bremen forscht. Sie ist überzeugt davon, dass Ältere «im sozialen Miteinander die verlässlicheren und stabileren Menschen sind». Sie sind imstande, ebenso viel zu lernen wie die Jungen, aber sie lernen anders.
So hat die Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach beispielsweise eine Pflegelehrerin eingestellt, die über 40-Jährige bei ihrer Ausbildung zu «staatlich geprüften Hauswirtschafterinnen» begleitet. Dass Frauen nach der Familienphase noch einmal eine Ausbildung machen und Unternehmen die Möglichkeit dazu eröffnen, ist in Deutschland noch ungewöhnlich. Doch die Sozial-Holding profitiert davon: Die Motivation der älteren Frauen sei aussergewöhnlich, sagt Geschäftsführer Helmut Wallrafen-Dreisow. Der Altersschnitt seiner ungewöhnlichen «Lehrlinge» liegt bei 45, eine Frau war bei Ausbildungsbeginn 57 Jahre alt.
Wallrafen-Dreisow sagt, die Vorstellung sei falsch, dass die älteren Leute weniger leistungsfähig oder häufiger krank seien als seine jüngeren Mitarbeiter. «Die Gruppe der über 50-Jährigen hat bei uns mit 4,5 Prozent den geringsten Krankenstand überhaupt», sagt er. In einer Studie mit der Forschungsgesellschaft für Gerontologie hat er 300 ältere Mitarbeiter betreffend Motivation befragen lassen. «Bei älteren Mitarbeitern spielt die Ansprache durch die Vorgesetzten die entscheidende Rolle», sagt der Geschäftsführer der Sozial-Holding Mönchengladbach. «Wenn der Vorgesetzte dem älteren Mitarbeiter sagt: Das begreifst du nie, dann wird das auch nichts — und umgekehrt.»
Die USA sind Europa einen Schritt voraus. Für all jene, die ihre Karriere noch einmal neu starten wollen, gibt es dort den Begriff der Encore-Karrieren. «Encore» heisst übersetzt «Zugabe», kann aber auch vom französischen «noch» abgeleitet werden, bedeutet dann also «noch eine Karriere». Popularisiert wird der Begriff von der Nichtregierungsorganisation Civic Ventures, deren Direktor Marc Freedman als einer der prominentesten Vorkämpfer für den Gedanken der Encore-Karrieren gilt. Ihm ist auch wichtig, wie er sagt, dass das Wort «core», also «Herz, Seele» in dem Begriff steckt. Zehn Millionen Amerikaner haben in der Mitte ihres Lebens eine neue Karriere begonnen, vor allem in der Erziehung, der Gesundheit, in Umweltberufen und sozialen Diensten, sagt Freedman. Viele haben sich selbstständig gemacht. Wie das Magazin «Newsweek» im August 2010 berichtete, gründen über 55-Jährige fast doppelt so oft erfolgreiche Firmen wie 20- bis 34-Jährige.
Dies beeinflusst den Arbeitsmarkt der Zukunft. Die These, die Produktivität und Innovationsfähigkeit einer alternden Gesellschaft sei quasi wie ein Naturgesetz rückläufig, ist nach Ansicht der Altersforscherin Ursula Staudinger nicht zu halten. Thomas Zwick vom Institut für Wirtschaftspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München teilt diese Meinung: «Altersgemischte Teams steigern die Produktivität sowohl für ältere als auch für jüngere Arbeitnehmer, wenn sie geschickt zusammengesetzt sind.»
Der 50. Geburtstag ist allenfalls die Mitte, nicht der Höhepunkt des Lebens. James Vaupel, einer der bekanntesten Altersforscher und Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, ist sich sicher, dass es die klassische Dreiteilung «Ausbildung, Arbeit, Rente» in Zukunft für die wenigsten geben wird. «Heute in Deutschland geborene Kinder werden mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent 100 Jahre alt. Es scheint mir klar, dass die meisten davon nicht schon mit 60 oder 65 Jahren in Rente gehen wollen — sondern viel später. Sie werden vermutlich mehr Jahre ihres Lebens arbeiten wollen, dafür aber weniger Stunden pro Woche. Dann hätten sie zum Beispiel mehr Zeit für die Erziehung ihrer Kinder und für ihre lebenslange eigene Weiterbildung.»
Deshalb war es nie spannender, älter zu werden. Die Midlife-Boomer werden die Trendsetter eines neuen Lebensmodells für diejenigen, die heute Kinder oder Jugendliche sind. Sie brauchen nicht so durchs Leben zu hetzen, wie die Midlife-Boomer es bislang tun mussten. Diese Kinder müssen nicht unbedingt Turboabitur machen und mit Anfang 20 bereits im Arbeitsprozess sein. Sie könnten sich mehr Zeit lassen. Auch die sogenannte Rushhour des Lebens, in der heute zwischen 30 und 45 alles erreicht werden soll, könnte entzerrt werden. Statt dass die Menschen sich hier auspowern und dann mit 40 ausgebrannt sind, muss es in dieser Lebensphase so viel Flexibilität wie möglich geben — Teilzeitangebote, die sich mit Vollzeit abwechseln, kurze und lange Auszeiten, wechselnde Zuständigkeiten innerhalb der Familie.
Zwar würde ein so gestalteter neuer Spannungsbogen des Lebens in dieser Zeit durchaus Einkommenseinbussen bedeuten. Durch die insgesamt längere Lebensarbeitszeit aber kann das kompensiert werden. Zum Beispiel wenn wir dann mit 50 noch einmal richtig durchstarten, eine neue Karriere aufbauen und bis 70, vielleicht aber auch länger, gemäss unseren Zeitwünschen flexibel arbeiten.

MARGARET HECKEL ist freie Journalistin in Potsdam. Ihr Buch «Die Midlife-Boomer: Warum es nie spannender war, älter zu werden» ist in der Edition Körber-Stiftung erschienen.

Veröffentlicht am 13. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
18. November 2017