Gleichgewicht

Das (strukturelle) Gleichgewicht des menschlichen Körpers

Definitionsannäherungen

Gleichgewicht ist der Zustand eines Körpers, in dem sich alle angreifenden, aus Bewegung, Trägheit, Reibung und externen Einflüssen resultierenden Kräfte beziehungsweise Drehmomente gegenseitig aufheben und die Summe aller wirkenden Kräfte Null ist.
Auf den menschlichen Körper übersetzt heisst das: Die Kräfte, die von aussen auf uns wirken (Schwerkraft und Normalkraft) sind „im Gleichgewicht“ mit den Kräften, die in uns wirken (Muskelkraft, Elastische Spannkraft des Bindegewebes, Turgor = Innendruck unserer Säfte).
In statischen Haltungen, wie Stehen und Sitzen befinden wir uns in einem labilen Gleichgewicht: Es ist ein dynamisches Kreisen um einen Nullpunkt. Am besten macht man auch daraus eine feine Bewegung, also z.B. im Stehen ein leichtes Hin- und Herfalten in der Zickzacklinie. Auch unsere Sitzstellung sollten wir immer wieder mal verändern.
Gleichgewicht ist also in der Bewegung leichter zu finden.

Was ist nun das Neue in der „Normal Function“  (NF) im Rolfing?

Dazu Hans Flury (ausführlicher in meinem Interview mit ihm):
„Wie entsteht Bewegung?“ Dafür braucht es eine Kraft, und aus Erfahrung (!) sagt dann jeder, dass Muskeln arbeiten müssen.
Bei einem ruhenden Körper oder einem, der sich gleichmässig und gradlinig bewegt sind alle Kräfte im Gleichgewicht und neutralisieren sich. Die richtige Antwort lautet also: das Gleichgewicht der Kräfte muss gestört werden. Dann taucht eine Nettokraft (schönes Wort!) auf, die bewegt. Wir können das Gleichgewicht der Kräfte nur über die Muskeln stören, vom ökonomischen Gesichtspunkt aus aber auf zwei entgegengesetzte Weisen: wir erhöhen aktive Spannung, oder wir vermindern sie. Im ersten Fall verbrauchen wir mehr Energie, im zweiten sparen wir Energie ein. Damit war das Prinzip von NF formuliert und die „Nettokräfte“, die Bewegung auslösen oder verändern, sind zudem immer die Schwerkraft oder die elastische Kraft der Faszien oder beide. Das passt dann sehr schön dazu, dass dies die „zwei fruchtbaren Ideen“ sind, die Ida Rolf in die Betrachtung des Körpers einbrachte.
Das Gleichgewicht hat also auch etwas mit (maximaler) Ökonomie zu tun.
Die Ausarbeitung der speziellen Bedingungen war bei dieser Ausgangslage dann relativ einfach.

Es existieren gewisse Regeln (hier anhand des Menschen in Bewegung erklärt):
Die (maximale) Ökonomie der Bewegung – eine allgemeine Bedingung (oder Prinzip) und 3 Merkmale als Folge davon:
(Grundlage der strukturellen Bewegungslehre – u.a. in der Strukturellen Integration nach Ida Rolf)

Die allgemeine Bedingung oder das allgemeine Prinzip:
Jede Bewegung wird durch selektive Reduktion von aktiver Spannung ausgelöst.

  1. Bewegung wird durch Muskelentspannung ausgelöst statt durch Muskelkontraktion.
    Dass Agonisten „ökonomisch“ bewegen können, sollten auch die Antagonisten zuerst loslassen (When flexors flex, extensors extend.)
    >>> Gewicht spüren (Schwerkraft).
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  2. Zu Beginn einer Bewegung wird die Mittellinie (der Innenraum des Körpers) länger statt kürzer.
    >>> Dehnung spüren (Elastische Spann- oder Federkraft gedehnter Faszien – statt Stauchung).
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  3. Das Gleichgewicht (balance und support) wird in der Bewegung besser statt schlechter.
    >>> Gestütztwerden spüren (Stützkraft der Erde: „Sich setzen“ wie eine vorsichtig hingestellte Einkaufstasche).

Also: „Gratiskräfte“ benützen: Schwerkraft und Stützkraft  oder Normalkraft der Erde, elastische Spannkraft des Bindegewebes und nicht primär und nur minimal die Muskelkraft und wenn, dann v.a. die intrinsischen, tiefen, achsennahen Kernmuskeln. Zuviel Muskelarbeit („active tension“) staucht und verkürzt (tonische Anteile). Ökonomische Bewegung ist ruhig, schwingend und geschmeidig (katzenartig).

Die Stabilität und gleichzeitig Beweglichkeit unseres Körpers wächst mit der Länge des Gewebes und nicht mit der Stärke der Muskeln (was zur Verkürzung und Steifigkeit führen kann): Sie entsteht also besser aus der elastischen Spannkraft der „Bindegewebshülle“ (Lesen Sie dazu meinen Blogbeitrag über das „Body Stocking“!).

Einschub: Raubtiere, Katzen bewegen sich vor allem aus dem Bindegewebe!

Zum Beispiel lassen Katzen sich beim Springen zuerst in das elastische Netz (oder die Feder) ihres Bindegewebes fallen und lassen sich dann spielend, leicht hinauskatapultieren >>> schön sichtbar auf diesem Youtube-Video:

Es resultieren drei Eigenschaften des Gleichgewichts:

  1. Tiefenaktivität oder Kernstabilisierung und Oberflächenentspannung
    – auch Stabilität durch Länge und aus dem Bindegewebe (siehe „Body Stocking“!)
    Es ist für unser Gleichgewicht förderlich, wenn tiefe Strukturen in unserem Körper aktiv werden und die Stabilisierung übernehmen und oberflächlich gelegene sich entspannen können. Diese tiefen Strukturen nennt man auch „tiefe Rumpfstabilisatoren“, „lokale Muskeln“ oder „Core“ (Psoasmuskel, Beckenboden = M. Pubococcygeus, M. Transversus abdominis, Mm. Multifidi und Mm. Rotatores, M. Serratus, M. Longus colli,…).
    Siehe dazu auch „Die Segmentale Stabilisation“!
    Jede optimal ausgeführte Alltagsbewegung und -haltung beginnt mit der Aktivierung des sog. lokalen Systems, also der tiefen Rumpfstabilisatoren. Erst wenn diese aktiv sind, können die globalen, oberflächlichen Hüllmuskeln ökonomisch und entspannt arbeiten!
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  2. Hüftgelenksaktivität oder „Hüftachse hinter dem Lot“
    Für das Gleichgewicht ist es wichtig, dass das Hüftgelenk  primär benützt wird und aktiv wird (dies im Vergleich zum Knie, welches häufig bei uns schon sprachlich im Vordergrund steht: „in die Knie gehen“, „Kniebeuge“…).
    Als schönes Beispiel hierfür gilt die „halbe Hocke“, die vor allem aus den Hüftgelenken kommt. Mit ihr kann man wunderbar entspannt (ein grösseres und auch kleineres) Gewicht heben.Dann die Federung aus der Hüfte beim Gehen (Hüftachse hinter Schulterachse) – oder die leichte Faltung beim Stehen, etc..
    Zu optimalem Stehen und Gehen im Gleichgewicht lesen Sie in Kurzform hier (und mit mehr Anspruch hier: „Ökonomie der Bewegung“).
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  3. lange Mittellinie mit vorne konvexer Form
    Förderlich für die zwei obigen Qualitäten und das Gleichgewicht ist dann eine lange Mittel- und Frontallinie des Rumpfs (von Kinn bis Schambein), was auch ein langer Innenraum des Oberkörpers bewirkt, den man immer durch eine vorne konvexe Mittellinie erreicht (also durch ein senkrechtes Brustbein und ein Schambein, das hinter dem Lot liegt: Schultergürtel und Kopf können ruhig auf diesem Rumpf balancieren).
    Man weiss auch aus Studien, dass die Wirbelsäule aufrichtenden Mm. Multifidi erst aktiv werden können, wenn sich die Mittellinie des Rumpfs in der vorne konvexen Form befindet. Beim Rundrücken (hinten konvex – Becken vor Lot) sind sie inaktiv!

Diese drei Regeln oder Merkmale bedingen und fördern sich gegenseitig.

Einschub: Wir besitzen noch den Oberkörper der Vierbeiner mit all seinen Nachteilen, weil wir aufrecht stehen!

Wir Menschen neigen im Leben zur steten Verkürzung im Oberkörper an der Vorderseite und entwickeln im Alter häufig einen Rundrücken, da wir noch immer den Oberkörper eines Vierbeiners besitzen. Diese haben sinnvollerweise die Hinterwand des horizontalen Oberkörpers verstärkt (Wirbelsäule und starker Rippenkasten hinten), da dort dann all seine Organe aufgehängt sind.

Ein Körperteil, der lange Zeit aufrecht ist, verstärkt sein Gleichgewicht mit einem zentralen Pfeiler. Wir sind noch zu wenig lang auf zwei Beinen – und deshalb liegt unsere Wirbelsäule im Brust- und Bauchraum noch immer hinten (als viel ökonomischer in der Mitte – was im Hals übrigens bereits geschehen ist, da die Hälse bereits im Tierreich immer aufrecht sind).
Bei uns Zweibeiner wird deshalb die Vorderseite und – verheerender – der ganze Innenraum im Bauch und Brustraum gestaucht (viele Hohlräume, Luft und Wasser!). Damit wird u.a. unsere Bauchwand nach aussen gedrückt und muss ständig durch eine angespannte äussere Bauchwand gehalten werden, was wiederum unsere Vorderseite massiv verkürzt! Ein „Kampf“ im Teufelskreis, der immer verloren geht und im unansehnlichen Spitzbauch endet.
Deshalb kann ein schöner, wohl geformter, flacher Bauch nur erreicht werden, wenn vor allem der Rektus-Bauchmuskel entspannt und lang bleiben kann: siehe dazu mein spezieller Blogbeitrag.

Auf dieser Abbildung sieht man links eine normal geschwungene Wirbelsäule und rechts eine Hyperkyphose der Brustwirbelsäule. Bei diesem Rundrücken rechts fehlen alle drei obigen Kriterien eines Gleichgewichts!

Sehr verkürzt und prägnant könnte man sagen: Bei einem Becken, das etwas hinter dem Lot liegt und der Kopf obendrauf balanciert, sind die wichtigen, tiefen Core-Muskeln aktiv. Beim Becken vor dem Lot, welches auch einen Kopf, der nach vorne hängt, verursacht, sind diese tiefen Rumpfstabilisatoren inaktiv – und der ganze Oberkörper, inklusive Wirbelsäule sind gestaucht und verkürzt!

Prüfen, ob man im Gleichgewicht ist:

Wie kann ich prüfen, ob ich mich im Gleichgewicht befinde?

  1. globale Anzeichen sind
    – Gefühl der inneren Aufrichtung ohne Anstrengung.
    – viel Innenraum im Rumpf: tiefere Atmung möglich, Energie fliesst ungehindert von den Beinen bis in den Kopf.
    – wache Sinne (Augen, Ohren, Sensibilität in Fusssohlen, aber auch im übrigen Körper).
    – allgemein belebter, sehr wach und präsent.
    – „in seinem Zentrum ruhen“
    – „leichter sein, sich leichter bewegen“
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  2. Im Stehen ist der Schwerpunkt in mir und über den Füssen. Das Gewicht spüre ich in der ganzen Fusssohle gleichmässig verteilt (hinten + vorne + aussen + innen).
    Das Becken befindet sich unter dem Schultergürtel oder dahinter (Hüftgelenksaktivität). Die oberflächlichen Muskeln vor allem des Oberkörpers sind entspannt – auch die Kiefermuskeln, der Nacken und die Zunge – und auch die Füsse (Tiefenaktivität).
    Siehe auch „Normal Stance“ auf Seite 2 der „Ökonomie der Bewegung“:
    1. Füsse beckenbreit und parallel, Sohlen entspannt, Boden spüren.
    2. Gewicht innen & vorne auf dem Fuss
    3. Knie leicht nach innen
    4. Becken wie Schublade nach hinten gleiten lassen.
    Schambein hängt zwischen den Beinen.
    Becken ist hinter der Mittellinie.
    5. Bauch, Gesäss und Hüfte sind locker.
    6. Brustbein schwebt hoch und vorne. (NICHT hochziehen. Wie drittes Auge dort, das auch gerade nach vorne blicken kann.)
    7. Schultern hängen frei, sind nicht nach hinten gezogen.
    8. Kopf sitzt frei oben drauf – wie Boje. Blick nicht fixiert, sondern offen. Auch Ohren offen und wach.
    VON UNTEN BEGINNEN!
    Das Gleichgewicht im Stehen ist labil – machen Sie durch feine Bewegungen etwas Dynamisches daraus.
    Testen Sie als gutes Beispiel das optimal ökonomische Stehen am Stehpult.
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  3. Im Gehen und Laufen spüre ich, wie mich das Gewicht des Oberkörpers nach vorne zieht (der Schwerpunkt ist etwas vor dem Körper,…).
    Brustbein gleitet waagrecht nach vorn; das Gewicht des Oberkörpers ist der Motor; Oberkörper und Becken bewegen sich gleichmässig und ruhig; die Beine schwingen von selbst aus dem Bauch, wie aufgehängt am Rippenbogen; die Füsse werden ohne Zutun von der Ferse bis zu den Zehen federartig gespannt.
    >>> ansonsten alle Punkte wie unter Stehen!

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  4. Im Sitzen:
    Füsse flach am Boden (eher etwas auseinander und parallel >>> Knie fallen nach innen >>> Sitzbeine gehen auseinander >>> Beckenboden wird passiv gespannt) >>> VOR Sitzbeine sitzen >>> Becken ist entspannte Schüssel mit flachem Boden.
    >>> sonst alles wie im Stehen.
    Auch im Sitzen immer wieder mal die Haltung wechseln und etwas Dynamisches daraus machen.

Warum stehen viele Menschen nicht im Gleichgewicht – mit dem Becken vor dem Lot und dem Oberkörper nach hinten gedehnt (und fallen so immer leicht nach hinten, resp. müssen sich mit oberflächlichen Muskeln (v.a. Bauchwand und vordere Oberschenkel) vor dem Nachhintenfallen retten??
Diese obige Haltung „rastet richtig gehend ein“ (in den oberflächlichen Muskeln und Bändern): Man fühlt sich „stabil“ wie in einem Liegestuhl liegend. Dies ist aber eine „Pseudo-Stabilität“.
Die Gleichgewichtsstellung ist hingegen ein etwas labiles Pendeln um den Gleichgewichtspunkt, ein leichtes Falten (siehe auf Seite 1 der „Ökonomie der Bewegung“.).
Hier ist zu erwähnen, dass v.a. im Stehen und im Sitzen (zwei schwierige Haltungen des Zweibeiners Mensch) die Stellung häufig etwas verändert werden sollte. Dies bringt mehr Leichtigkeit, Bewusstheit und Entspannung in das Ganze.

Leichtigkeit und Gleichgewicht ergibt Inneren Frieden!

Lesen Sie mehr über den „Inneren Frieden“ in meinem Blog: walserblog.ch/2015/10/01/frieden/

Bewegungsmeditation für ein besseres Gleichgewicht (Zentriertheit)

Die „Bewegte Stille“ ist eine vierphasige Bewegungsmeditation, bestehend aus Niederwerfung, Windrose, Wirbeln und einer Hinführung in die Stille. Dabei werden die vier Schlüssel zur Lebendigkeit verwendet: Bewegung, Atem, Stimme und Achtsamkeit:

Slackline

«Slackline»: So heissen die elastischen Bänder, die man immer häufiger in Parks zwischen zwei Bäumen aufgespannt sieht. Darauf zu gehen, fördert die Reaktionsfähigkeit, die Koordination und das Gleichgewicht. Dabei gilt: Je länger die Leine, umso schwieriger wird es, sich möglichst lange darauf zu halten.
Immer mehr vor allem junge Menschen entdecken den Spass auf der langen Leine. Manche entwickeln sich dabei zu wahren Akrobaten: Sie springen darauf wie auf einem Trampolin und machen Saltos. Dabei landen sie entweder wieder mit den Füssen auf dem Band, auf Rücken, Bauch oder Po. Letztes Jahr fanden in Zürich die ersten Schweizer Meisterschaften im «Slacklinen» statt.
In den Schulen werden sie viel häufiger gebraucht, da sich gegenüber früher die koordinativen Fähigkeiten der Schüler drastisch verschlechtert haben. Die elastische Leine ist dafür das passende Trainingsgerät, weil es daneben erst noch Spass macht. Zudem wirkt es erfrischend auf das Gehirn, wenn man zuvor und nachher konzentriert gearbeitet hat. Balancieren auf der Leine hilft beim Abschalten.
Samuel Volery und Tobias Rodenkirch, Studenten der Bewegungswissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, konnten in ihrer Masterarbeit bestätigen: Balancieren auf der «Slackline» fördert auch die Konzentrationsfähigkeit. Sie haben sogar nachgewiesen, dass dieser Effekt einen Monat später noch vorhanden war, auch ohne das Training. Grund: Das Hirn macht einen Lernprozess durch.
Von dem Training profitieren aber auch ältere Menschen: In einer Studie liessen deutsche Wissenschaftler der Uni Osnabrück Senioren im Alter zwischen 60 und 72 zweimal pro Woche während 20 Minuten auf dem Band üben. Mit Erfolg: Schon nach drei Wochen Training stellten die Forscher eine deutlich verbesserte Gleichgewichtsfähigkeit fest. Ein gutes Gleichgewicht ist für Senioren zentral, um im Alter mobil und unabhängig zu bleiben.
• Mehr Infos unter www.mobilesport.ch , www.slacktivity.ch

 

Gleichgewicht bei sportlichen Aktivitäten >>> siehe hier auf dieser Website.
insbesondere beim Joggen!
Lernen des Gleichgewichts durch ROLFING!

Veröffentlicht am 17. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
26. Dezember 2022