Angst und Panik

„Wir haben gelernt, keine Angst zu haben. Jetzt bitten wir den Rest von Ihnen, keine Angst zu haben.“
Oleksij Resnikow, Verteidigungs­minister der Ukraine, 2022

„In meinem Leben habe ich unvorstellbar viele Katastrophen erlitten.
Die meisten davon sind nie eingetreten.“ Mark Twain

Was kann ich sofort gegen meine Angst tun?!

  • Entspanne Dich! Mach die Kurzform der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson: Leg Dich ins Bett (geht auch im Sitzen, z.B. im Flugzeugsitz!), spanne die Gesässmuskeln an, balle die Hände ganz fest zu Fäusten und drücke den Kopf ins Kissen. Zähle auf 30 und entspanne dann alle Muskeln wieder. Das Ganze wiederhole etwa fünf bis sechs Mal.
  • Komm ins Hier und Jetzt! Achte auf 5 Dinge um Dich, die Du im Moment siehst. Dann auch 3 Dinge, die Du jetzt riechst. Und auch 5 Dinge, die Du um Dich abtasten kannst! Achte auf Deinen Atem – und mache ihn ruhiger, langsamer. Atme länger aus als ein! Leg Dein Smartphone weg und schalte es aus – und nimm Deine Airpods aus den Ohren!

Die Angst als Überbleibsel unserer Evolution

Angst ist vielleicht das älteste Gefühl der Menschheit. Ohne sie überlebt niemand. Die erste Antwort auf Gefahr ist bei keinem einzigen Tier der Kampf. Sondern immer die Flucht. Angst ist also etwas extrem Physisches – der Körper macht sich bereit zur Flucht. Das Herz pumpt. Der Atem geht schneller. Man scheisst – und wird dabei buchstäblich leichter. Der präfrontale Kortex schaltet ab. Angst ist deine beste Freundin in Gefahr. Panik hast du ab dem Moment, an dem die Angst nicht mehr funktional ist. Etwa wenn du erstarrst oder in die falsche Richtung rennst. Sie ist eine übersteigerte Angst, die in Schockstarre oder Aktionismus kippen kann.
Bei Angst und Panik erlebt man eine Notfallreaktion. Die ist extrem sinnvoll, wenn Sie von einem Löwen gejagt werden. Nur leider zündet sie bei uns häufig im falschen Moment: Es gibt Fehlalarme.

Die Rauchmelder-Erklärung verändert, wie Menschen über ihre Angststörung denken. Sie kooperieren viel besser in der Therapie, wenn ihnen erklärt wird, dass ihre Emotionen in anderen Situationen sinnvoll sein können, aber dass sie einfach zu viel davon haben.

Und tatsächlich ist es so, dass Menschen, die mehrere Panikattacken haben, oftmals erleben, wie die Schwelle sinkt – dass schon kleinere Reize ausreichen, um eine Attacke auszulösen. Dass hilft mir zu erklären, warum angsthemmende Mittel wichtig sind. Wenn sie die Feedbackschleifen blockieren und verhindern, dass es in den nächsten sechs Monaten zu einer Attacke kommt, wird das ganze System unempfindlicher.

„Unangenehme“ Gefühle?

„Gefühle wie Enttäuschung, Verlegenheit, Irritation, Groll, Wut, Eifersucht und Angst sind, anstatt schlechte Nachrichten zu sein, eigentlich sehr klare Momente, die uns lehren, wo wir uns zurückhalten. Sie lehren uns, aufzustehen, wenn wir das Gefühl haben, dass wir lieber zusammenbrechen und uns zurückziehen würden. Sie sind wie Boten, die uns mit erschreckender Klarheit genau zeigen, wo wir feststecken. Genau dieser Moment ist der perfekte Lehrer, und, zum Glück für uns, ist er bei uns, wo immer wir sind.“ Pema Chödrön

Die drei grossen Ängste des Menschen

  • Angst vor dem Tode
  • Angst, Verlassen zu werden
  • Angst, nichts wert und bedeutungslos zu sein

Alle drei sind unter sich verbunden – und das Zepter führt wohl immer die Todesangst. Alle drei begleiten uns auch durch unser ganzes Leben, mehr oder weniger. Sie sind immer irgendwie präsent. Wir sind trotz aller Sicherheitsmassnahmen extrem verwundbar. Wir können unser Leben nicht wirklich kontrollieren. Corona-Pandemie, die Klimakrise, Kriege und letztlich unsere Sterblichkeit sind soviel stärker, als wir das wahrhaben wollen. Wir haben verlernt, mit dieser Grundunsicherheit und Angst zu leben. Wie wäre es, wenn wir jetzt beginnen uns mit dieser Angst und dem Nicht-Wissen anzufreunden. Sie macht uns wach und hellhörig und sensibel füreinander. Diese drei Ängste können dich auch, wie liebe Freundinnen, immer wieder darauf hinweisen, dass ein „höheres Selbst“, welches über unser Ego hinausgeht, nicht sterben kann – auch nie verlassen werden kann und auch immer einen grossen Wert besitzt, ein grosses Licht, das wir nie verlieren! Der Körper ist im Geist – und nicht umgekehrt.

Das „höhere Selbst“, Demut, Mystik

Der Philosoph Ernst Tugendhat hat uns Menschen (in seinem Buch «Egozentrizität und Mystik») als Ich-Sager beschrieben: Wir können als sprachliche Wesen nicht anders, als von uns aus auf die Welt zu blicken. Drei Möglichkeiten macht er aus, um uns von dieser Ich-Fixierung auf die eigene Gegenwärtigkeit zu lösen. Eine erste, wenn wir lebensklug planend von aktuellen Bedürfnissen Abstand nehmen, um uns zukünftige eigene Wünsche erfüllen zu können. Eine zweite, wenn wir von uns absehen, um die legitimen Perspektiven anderer zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das nennt man dann Ethik. Und Demut oder Mystik nennt er eine dritte Perspektive: Wenn wir unser Ich in Relation setzen zu etwas, was uns schlechterdings übersteigt. Was grösser ist als wir, wie zum Beispiel der gestirnte Himmel über uns, an den uns schon Kant erinnerte. Oder die Jahrtausende der Erdgeschichte, gegen die unser Leben sich wie ein Nichts ausnimmt. So könnte man das, was uns das Coronavirus über das Leben lehrt, sehen und dafür den Ausdruck «Demut» verwenden. Aber hat das alles wirklich diese grundsätzliche Dimension? Ja, die Dinge entgleiten uns, das ist schon ein sehr bestimmendes Gefühl. Es ist, als wären wir in Treibsand geraten. Oder in eine Nebelbank, wo die Orientierung plötzlich weg ist. Mir scheint, das tatsächlich sehr gefährliche Virus verstärkt eine fiebrige Befindlichkeit, die schon da war. Diese demütige Haltung zeigt eindrücklich und mit viel Erfolg der Schweizerische Fussballnationalmannschaftstrainer: Dies, nachdem er eben den Fussballgott Italien aus der direkten WM-Qualifikation rausgeschossen hat – notabene mit mindestens 7 fehlenden Stammspieler…

Sind Stress und Angst Gewohnheiten wie Rauchen oder schlechte Ernährung?

Kann ich mir Angst abgewöhnen wie Rauchen, fragt sich Theresa Bäuerlein im Krautreporter: Angst kann man auch als ein Gefühl von Nervosität oder Unruhe denken, dieses Unbehagen, das man fühlt, wenn man sich etwas vorstellt, das man nicht unter Kontrolle hat. Dieses Gefühl löst dann ein bestimmtes Muster aus. Zum Beispiel fängt man an, sich Sorgen zu machen und verstrickt sich immer mehr in grübelnde Gedanken.
Dieses Verhalten wird zur Gewohnheit. Wir bekommen für dieses Muster eine „Belohnung“, nämlich das Gefühl, etwas zu tun. Wir bekommen die Illusion, dass wir die angstauslösende Situation besser kontrollieren können.
„Wenn wir ein unangenehmes Gefühl haben, löst es gewohnte Muster aus, mit denen wir das Gefühl schwächen oder auslöschen wollen. Wir fangen zum Beispiel an, zu grübeln und uns Sorgen zu machen. Das kann sich anfühlen, als würden wir tatsächlich etwas tun, um mit der Situation umzugehen. In Wirklichkeit lenkt es uns ab und gibt uns ein Gefühl von Kontrolle, auch wenn wir eigentlich keine haben.“
Der Psychiater und Neurowissenschaftler Judson Brewer meint, dass dieses Muster deshalb so erfolgreich ist, weil es uns davon abhält, die Angst wirklich zu spüren. Der Preis dafür ist jedoch, dass sich die Ängste weiter steigern können. Man kann sich Fragen stellen, zum Beispiel: „Was habe ich davon, wenn ich mir Sorgen machen?“ und so ein wirksames Gegengift gegen die Spirale aus Angst und Sorgenmachen aktivieren: die Neugier. Wichtig dabei, so Brewer, sei es, den ganzen Körper mit einzubeziehen.
„Der Körper wird sehr unterschätzt. Unser Kopf ist ziemlich laut, deshalb kriegt er die ganze Anerkennung für alles. Währenddessen zieht unser fühlender Körper hinter den Kulissen die Hebel für unser Verhalten. Als Nächstes können wir uns also fragen: Was fühlt sich besser an? Hier kommt Neugier ins Spiel.“
Mithilfe dieser beiden Ressourcen – die Angst fühlen und neugierig sein – lässt sich das eingeübte Muster nach Brewers Erfahrungen abgewöhnen, so wie eine schlechte Angewohnheit. (Quelle: Silke Jäger in piqd.de)
Weiterlesen: walserblog.ch/2022/03/05/angst-aufsuchen/
dr-walser.ch/angst-surfen.pdf

Habe ich wirklich schon eine „Angststörung?“

Jede zehnte Person, die sich an den Hausarzt wendet, schlägt sich mit einer Angststörung herum. Doch nur zur Hälfte wird die Angstkrankheit vom Arzt auch wirklich erkannt, da die Patienten selten von sich aus über ihre Angstgefühle sprechen, sondern in der Regel über körperliche Symptome berichten. Doch bereits mit vier einfachen Screening-Fragen kann der Hausarzt einer Angststörung auf die Spur kommen:

  • Fühlten Sie sich in letzter Zeit angespannt, nervös, angetrieben?1 Punkt
  • Machten Sie sich viel unnötige Sorgen oder ängstigten Sie sich sehr?1 Punkt
  • Waren Sie in letzter Zeit sehr reizbar?1 Punkt
  • Hatten Sie starke Mühe, sich zu entspannen?1 Punkt

Falls mindestens 2 dieser Fragen bejaht werden, können noch weitere 5 Screening-Fragen beantwortet werden:

  • Haben Sie in letzter Zeit sehr schlecht geschlafen?1 Punkt
  • Hatten Sie regelmässig Kopf- oder Nackenschmerzen?1 Punkt
  • Hatten Sie regelmässig folgende Beschwerden: Zittern, Kribbelgefühle, Schwindelgefühle, Schwitzen, Druck auf der Brust, Atemnot, häufiges Wasserlassen, Durchfall?1 Punkt
  • Haben Sie sich unnötige starke Sorgen um Ihre Gesundheit gemacht?1 Punkt
  • Hatten Sie starke Mühe mit Einschlafen?1 Punkt

>>> Beträgt das Total 6, so kann bereits zu fünfzig Prozent eine Angststörung vorliegen. Mehr als 6 Punkte vergrössern diese Wahrscheinlichkeit.

Angst und Depression

Die Zukunft macht uns Angst die Vergangenheit hält uns fest deshalb können wir die Gegenwart nicht geniessen. Angst vor dem Kommenden, vor der Zukunft – und Niedergeschlagenheit angesichts des Gewesenen, vor der Vergangenheit: Die Angst und Depression sind zwei Seiten derselben Medaille, ängstliche Menschen sind nicht selten auch depressiv und umgekehrt. Im Persönlichkeitsmodell der „Big Five“ sind Ängstlichkeit und Niedergeschlagenheit zwei Facetten ein und derselben Grundeigenschaft, des „Neurotizismus“, der emotionalen Labilität. Besonders frappant ist die Verkoppelung bei der „generalisierten Angststörung“, bei der sich die Angst verselbständigt hat und frei von Auslösern kommt und geht, wie sie will. Meist kommt erst die Angst im Leben, und wenn sie nicht vergehen will, gesellt sich in späteren Jahren die Depression hinzu. Auch Studien haben nun ergeben, dass Menschen während einer Depression ihr Denken auf die Vergangenheit fokussieren. Haben Menschen hingegen Angst, so gehen ihnen vor allem zukünftige Ereignisse durch den Sinn, die sie als Bedrohung empfinden. Vergangene Dramen stimmen also eher depressiv, künftige ängstlich! (A.Pomeranz, P.Rose: Is depression the past tense of anxiety? Int Journal of Psych, DOI: 10.1002/ijop.12050). Therapeutische Folgerungen zeigen zeitlich in die Mitte: Das achtsame Fokussieren auf die Gegenwart, auf das, was gerade in diesem Moment, im Hier und Jetzt geschieht, hilft sowohl gegen Angst als auch gegen die Depression!  Die verschiedensten Meditationsformen sind dazu häufig ein wirksames Instrument: Erst kürzlich (2023) berichteten US-Wissenschaftlerinnen im Fachblatt «Jama Psychiatry», dass das Meditationsprogramm «Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion» (MBSR) bei bestimmten Angsterkrankungen ebenso erfolgreich sein kann wie das Antidepressivum Escitalopram. Das gleiche Programm wurde schon mit besserer Schmerzregulation und mit Linderung von Migräne in Verbindung gebracht.
Speziell die Yoga-typische Kombination aus Bewegung, Atemübungen und/oder Meditation scheint sich auf leichte und moderate Depressionen oder Angstzustände positiv auszuwirken, zumindest als ergänzende therapeutische Massnahme.

Soziale Phobie

Durch unsere evolutionäre Entwicklung und Biologie kann man sinnvoll die Soziale Angst erklären. Die Biologin Mary Jane West-Eberhard sagt dazu, dass unsere Fähigkeit zur Moral uns einen evolutionären Vorteil gebracht hat, weil sie uns bessere Partner verschafft.
Wir alle suchen unentwegt nach den bestmöglichen Partnern für unsere Gruppe, unsere Projekte und natürlich die Liebesbeziehung. Und wir wollen jemanden, der gut ist, ehrlich, vertrauenswürdig, empathisch und der viele Ressourcen hat, die er mit uns teilen kann. Das ist soziale Selektion, sie führt zur Fähigkeit, moralisch zu handeln, zu lieben und sich zu binden.

Und sie führt dazu, dass es uns sehr wichtig ist, was andere über uns denken… Dies wiederum zieht oft eine erdrückende soziale Angst nach sich.

„All die Jahre habe ich mich gefragt, warum zum Teufel sich Menschen mit sozialer Angst so viele Sorgen darüber machen, was andere über sie denken. Die Antwort ist, dass die Evolution uns derart geformt hat: Wir denken sorgfältig und unentwegt darüber nach, was andere über uns denken, und versuchen, es anderen recht zu machen. Früher habe ich zu meinen Patienten mit Angststörung gesagt: Andere Leute denken gar nicht so viel über Sie nach! Warum sind Sie eigentlich so ichbezogen? Als ich es besser wusste, begann ich zu sagen: Sie sind eine sehr sensible Person, und das ist etwas Wunderbares. Es gibt Menschen, die es nicht interessiert, was andere über sie denken. Die sind das Problem, nicht Sie. Augenblicklich fingen meine Patienten an zu sehen, dass sie etwas Wertvolles an sich hatten und nicht fehlerhaft waren.“ (Randolph Nesse, Mitbegründer der evolutionären Medizin in Der Zeit, 12/23)

Achtung: Disease Mongering!

In der Bevölkerung sind Angststörungen weit verbreitet. Grosse Studien zeigen, dass jede vierte befragte Person in ihrem Leben schon an einer Angststörung litt. Hier ist Achtsamkeit angebracht, um nicht dem „Disease Mongering“, meint: der Problem- und Mengenausweitung zu unterliegen. Krankheiten werden ins Gespräch gebracht und dann „verkauft“… Von der Pharmaindustrie in letzter Zeit massiv betrieben – so auch bei der „Sozialen Phobie“! Dasselbe gilt auch beim ADHS, der Glatze, Schüchternheit, Restless-Legs-Syndrom und der Impotenz… Bereits ein simpler Namenswechsel von der altbekannten „Schüchternheit“ zur „Sozialen Phobie“ hat weitreichende Folgen für die Einschätzung der „Krankheit“! So glaubten Teilnehmer einer Studie (M.E. Young et al.: The role of medical language in changing public perception of illness. PLoS ONE, 3/12, 2008, e3875) nicht nur, dass etwa „Hyperhidrosis“ oder „Androgenetische Alopezie“ sehr viel ernster zu nehmende Krankheiten seien, als ihre alltäglichen Namensvettern, sondern sie befürchteten obendrein, dass die mit medizinischen Fachausdrücken beschriebene Wehwehchen auch noch besonders selten sind. Ältere, bereits etablierte medizinische Fachbegriffe hatten diesen Effekt allerdings nicht (hier also „übermässiges Schwitzen“ oder „männlicher, genetischer Haarausfall“). Neuerdings hat sich also die Soziale Phobie als häufigste Angststörung entpuppt. Hauptsächlich das Sprechen in der Öffentlichkeit oder vor einer Gruppe fällt den Betroffenen extrem schwer, da sie eine Riesenangst vor den kritischen Blicken und dem vermeintlich vernichtenden Urteil ihrer Zuhörer haben. Auch die Kontaktaufnahme für Gespräche mit anderen Personen ist schwer beeinträchtigt, weil Patienten mit Sozialer Phobie befürchten, Dummheiten zu sagen und sich lächerlich zu machen. Es handelt sich um ein stilles Leiden, auf das sich nicht selten noch eine Depression aufpfropft. Es ist wichtig zu wissen, dass Betroffene der „wahren“ Sozialen Phobie vermehrt Suizidgedanken haben und gehäuft Suizidversuche unternehmen. Die Soziale Phobie kann mit zentralen Beziehungskonflikten des Menschen zusammenhängen. Dieser Beziehungskonflikt hat drei Komponenten: Die erste ist der Wunsch, „Ich möchte mich zeigen und Bestätigung bekommen.“ Dieser Wunsch, sich vor anderen zu bewähren, ist den Betreffenden meist gar nicht bewusst, weil in diesen Situationen die Angst dominiert. Der Wunscherfüllung steht eine bestimmte Erwartung – die zweite Komponente – entgegen: „Die anderen werden schlecht von mir denken.“. Daher rührt die Vermeidung, die dritte Komponente. In der Therapie geht es deshalb zentral darum, den verschütteten Wunsch nach sozialer Bestätigung wieder bewusst zu machen und ihn in einen Zusammenhang mit der sozialen Angst zu bringen.

Klimaangst: Panik oder Verleugnung!

Immer häufiger begegnet mir bei Mitmenschen (wie auch bei mir) eine neue Angst, eine neue Art Weltschmerz, ein enormes Ohnmachtsgefühle durch die Klimakrise, die immer deutlicher und bewusster wird. Diese Angst ist primär eine sehr reale Angst (wie die, wenn ein wirklicher Löwe vor uns stehen würde) – sie steigert sich nun aber bei nicht wenigen in eine Panik – oder eben ins Gegenteil, in die Verleugnung.

Manche Forscher sehen übrigens inzwischen einen Zusammenhang zwischen unserem Individualismus, dem zu mehr Konsum führenden Versprechen auf Selbstverwirklichung und der Umweltkrise. Es kann nun sogar sein, dass herkömmliche Psychotherapie-Ansätze Teil des Problems sind. Damit wurde auch mit geholfen, eine Kultur des Egoismus und der monströsen, mit fossilen Brennstoffen betriebene Wirtschaft, von der diese Kultur abhängig ist, zu erschaffen.

Eine neue Art Psychotherapie sollte zunächst  klar machen, dass es darum geht, „die Ungewissheit auszuhalten“, die das Problem hervorruft, also über die „Reptilienhirn“-Reaktionen von Panik oder eben Verleugnung der Klimakrise hinauszukommen.

Es tut uns nicht gut, diese Angst zu ersticken. Es tut uns nicht gut, vorzugeben, sie sei nicht existent. Stattdessen schauen wir uns an, was dahinter steckt. Und was hinter dieser Panik steckt, ist die Angst vor Verlust.

Der Wendepunkt ist die Anerkennung meiner eigenen Sterblichkeit und dann auch der Sterblichkeit meiner Umgebung, meines Umfelds. Es ist die existentielle Angst vor dem Tod. Menschen neigen in der Folge dazu, sich zu öffnen, wenn sie sich den Themen Tod und Katastrophe stellen. Sie werden weniger panisch und sie können wieder produktiv aktiv werden und (gemeinsam) etwas gegen die Klimakatastrophe in Angriff zu nehmen. Denn es wird eine enorme kollektive Anstrengung nötig sein, die ohne all die individuellen nicht zu denken ist.

Ted-Talk über Umgang mit der Klimaangst >>> verwandt: Angst in Zeiten des Coronavirus

Ängste nach der Krebsdiagnose

Mit der Angst ist es so eine Sache. Sie wird kleiner, je mehr man sich ihr nähert. Deshalb lohnt es sich, behutsam auf das zuzugehen, vor dem man sich fürchtet: Was genau macht mir Angst? Sind es die nächsten Behandlungsschritte, die anstehen? Nebenwirkungen, die nach der Chemotherapie oder Bestrahlung auftreten könnten? Graut es mir vor allem davor, anderen zur Last zu fallen? Oder fürchte ich insgeheim, mich äusserlich zu verändern?
Was hilft, ist, sich den bedrohlichen Gedanken zu stellen. Nimmt die Angst überhand, sollte man sich dafür psychotherapeutische Unterstützung holen. Eine meiner Patientinnen fürchtete sich am meisten davor, sie könnte eines Tages tot in ihrer Wohnung liegen und niemand findet sie. Dabei ruft ihre Schwester täglich an und würde sofort merken, wenn sie nicht ans Telefon geht. Die Frau musste das Szenario gezielt zu Ende denken, um ihm den Schrecken zu nehmen. Es ist immer besser, den Scheinwerfer in die Dunkelheit zu richten und sich das, wovor man sich fürchtet, einmal genau anzusehen.

Bei den meisten weckt eine Krebserkrankung Gedanken an die eigene Endlichkeit – selbst wenn die Prognose gut ist. Erstaunlich vielen gelingt es, die Angst vor dem Tod zu bewältigen. Einigen hilft es, die eigene Beerdigung zu planen. Es gibt aber auch Menschen, die sich nicht mit dem Thema befassen möchten.

Manche können durch einen veränderten Bewusstseinszustand existenzielle Ängste bewältigen: An der Johns Hopkins University im US-amerikanischen Baltimore nahmen Krebspatienten begleitet von einem Psychotherapeuten den Wirkstoff Psilocybin ein, der in sogenannten magic mushroomsenthalten ist, also psychoaktiven Pilzen. Ähnliche Studien wurden in der Schweiz bereits mit LSD durchgeführt. Durch die Substanz schafften es die Patienten, eine neue Perspektive einzunehmen. Sie konnten die Widrigkeiten, die mit der Krankheit kamen, besser akzeptieren – und das auch noch Monate später. Einige kamen auf ihrem psychedelischen Trip sogar zu Einsichten, die ihre Einstellung zum Tod von Grund auf veränderten. Es geht aber auch weniger radikal: Hypnose kann ebenfalls erwiesenermaßen Ängste bei Krebspatienten lindern.

Weiterlesen >>>

Generalisierte Angststörung (GAD)

Das Generalisierte Angstsyndrom (monatelang ununterbrochen anhaltende Angst und unnötige Sorgen) kommt einher mit eigentlichen Panikattacken, d.h. abgegrenzte, plötzliche Perioden mit Ängstlichkeit oder Furcht (ohne klare Ursache oder Phobie) mit diversen körperlichen Symptomen während der Attacken: Atemnot, Herzklopfen oder -rasen, Schmerzen oder Unwohlsein in der Brust, Erstickungs- oder Beklemmungsgefühlen; Übelkeit, Durchfall, Reizdarm; Benommenheit, Schwindel oder Gefühl der Unsicherheit oder der Unwirklichkeit, Kribbeln in Händen oder Füssen, Hitze- und Kältewellen, Schwitzen, Schwäche, Zittern oder Beben, Furcht zu sterben, verrückt zu werden oder während einer Attacke etwas Unkontrolliertes zu tun. Gemäss DSM-IV bzw. -V handelt es sich bei der GAD um eine übermässige Angst und Sorge (bezüglich mehrere Ereignisse oder Tätigkeiten), die während mindestens sechs Monaten an der Mehrzahl der Tage auftraten. Die Person kann die Sorgen nur schwer kontrollieren. Mindestens drei der folgenden Symptome kommen hinzu:
1. Ruhelosigkeit
2. Leichte Ermüdbarkeit
3. Konzentrationsschwäche oder Leere im Kopf
4. Reizbarkeit
5. Muskelspannungen
6. Schlafstörungen

Obwohl sie die Angst im Namen trägt, zeigt sich die GAD meist nicht primär mit diesem Symptom! Körperliche Symptome, Schmerz, Schlafstörungen und Depression (in 90% bei der GAD auch vorhanden!) zeigen sich prominenter und zuerst! Deshalb wird die GAD in der Hausarztpraxis zu selten erkannt.

Angst als Teenagerproblem

Angststörungen haben Depressionen in den USA als häufigstes Teenager-Problem überholt. Was, wenn man es positiv sieht, auch damit zu tun haben  könnte, dass Teenager Hilfe suchen, wenn sie Angst haben. Diese  beruhigende Erklärung ist aber zu einfach, meinen Schulpsychologen: Wahrscheinlich liegt der Anstieg wirklich daran, dass mehr Teenager ernsthaft überfordert sind. „Es gibt nie den Punkt, an dem sie sagen können: Jetzt habe ich genug getan, jetzt kann ich aufhören“, sagt Suniya Luthar, Psychologie-Professor an der Arizona State University.
Gleichzeitig wird Angst als Krankheit immer noch stärker unterschätzt als Depression, weil Angst – nun, normal und nachvollziehbar scheint. Es gibt wahrlich genug Gründe, aus denen Menschen sich fürchten können, und die Grenze zur Störung ist manchmal nur hauchdünn. Wenn man Glück hat und wie Jake in einer privilegierten Umgebung aufwächst, landet man als Angstpatient in einer behutsam geführten Institution mit Maltherapie und Achtsamkeitsübungen. Angstgeschüttelte Teenager aus schwächeren Schichten müssen einfach klarkommen oder sind Lehrern sogar willkommen, weil sie als schüchtern gelten und weniger Ärger machen.
Smartphones und Social Media sind weitere Faktoren, die Ängste schüren. Smartphones geben eine Illusion von Kontrolle, aber  Facebook, Instagram etc sind das perfekte Medium, um sich ständig mit anderen zu vergleichen.

Phobien

Weitere häufige Angststörungen sind die einfachen Phobien (z.B. Furcht vor Sessel- oder Seilbahn, vor Tieren, vor dem Anblick von Blut), die Agoraphobie (Furcht vor Menschenmengen), etc..

Therapie

Angst ist primär ein lebenswichtiges Gefühl. Dies vor allem immer dann, wenn sie reale Gefahren anzeigt. Manchmal trauen sich die Menschen nicht, die reale Gefahr zu sehen, z.B. vor einer Trennung, einem Tod, einem atomaren Unfall. Man kann versuchen, Angst nicht mit allen „Huchs“ und „Achs“ zu zelebrieren, sondern auf etwas zu beziehen, um in ihrer Bedeutung erkannt zu sein. Angst kann immer auch als Impuls zum Nachdenken, zum Suchen genutzt werden. Also nicht gegen die Angst etwas tun, sondern aus ihr etwas machen: Um die Angst herumgehen, sie von allen Seiten angucken, ihr zuhören. Die besten drei Faustregeln sind:  Nicht versuchen, die Angst wegzumachen. Die Angst im Körper spüren. Herausfinden, was die Angst beschützen will. Was ist das Dümmste, was man tun kann? Zu sagen, sie sollen keine Angst haben. Ihnen irgendwelche Zahlen vorlesen und sagen, es sei gar nicht so schlimm.  (z.B. der Coronavirus…).

Kann ich mir die Angst abgewöhnen, da sie nur eine Gewohnheit ist? >>>

Angst-machende oder -verstärkende Drogen absetzen!

Beispiel Delilah: Die 16-Jährige wird von ihren Eltern zu Anna Lembke geschickt, weil sie zu viel kifft. Im Eingangsgespräch offenbart sie einen bestürzend umfangreichen Mix an Substanzen, die sie konsumiert. Ihr eigentliches Problem aber sei ein anderes: „Ich kiffe, weil ich Angst habe, und wenn Sie etwas gegen meine Ängste tun könnten, bräuchte ich das Gras nicht.“ Die Autorin befürchtet zunächst, das Mädchen werde sich gar nicht erst auf ihre Therapie einlassen, denn sie verlangt von der Jugendlichen Abstinenz – für mindestens vier Wochen. Lembke erläutert, warum: „Jede Droge, die die Belohnungspfade in unserem Gehirn so stimuliert wie Cannabis , verfügt über das Potenzial, in unserem Gehirn die Grundlinie, ab der wir Angst verspüren, zu verändern.“ Was sich beim Konsum von Cannabis so anfühle, als ob es Angstzustände lindere, könne in Wahrheit das Gefühl sein, eine Linderung der Entzugserscheinungen nach der Einnahme der letzten Dosis zu verspüren. Somit sei Cannabis die Ursache der Angstzustände und nicht ein Mittel, sie zu beheben. Vielleicht war diese Ansage genau das, was Delilah brauchte. Sie schaffte das „Dopaminfasten“ und befreite sich im Laufe der Therapie von ihren Ängsten.
(Anna Lembke: Die Dopamin-Nation. Balance finden im Zeitalter des Vergnügens. Unimedica, 2022)

Wann ist Angst vernünftig? Wann nicht?

Das ist exakt die falsche Frage. Dafür ist es exakt der Punkt: Dass Menschen unfähig sind, ihre Gefühle wahrzunehmen, hat damit zu tun, dass sie von klein auf lernen, dass ein Gefühl wie Angst nicht sein darf. Aber wir brauchen die Angst, sie weist uns auf Gefahr hin. Beispielsweise: nicht auf die Strasse zu rennen, wenn ein Auto kommt. Doch wenn die Angst nicht sein darf, wenn wir sie unterdrücken, nimmt sie eine hinderliche Dynamik an. Wenn wir zum Beispiel einem kleinen Kind sagen: „Du musst keine Angst haben“ führt das nicht dazu, dass es sich beruhigt. Sondern dazu, dass es sich fragt, was es falsch gemacht hat. Das gilt für Kinder. Aber sollte man sich als Erwachsener nicht zusammenreissen? Im optimalen Fall sind Gefühle ein Hinweis darauf, etwas zu ändern. Wenn das aber nicht mehr funktioniert, wenn wir anfangen, Gefühle zu unterdrücken, schlägt Angst in Panik um. Oder in Gewalt. Oder in Depressionen. Gefühle sind ein schlaues Warnsystem unseres Körpers. Sie weisen darauf hin, dass etwas nicht in der Balance ist. Nur hat unsere Gesellschaft einen tragischen Umgang mit unangenehmen Gefühlen wie Angst, Trauer oder Verzweiflung. Weil es für uns schwierig ist, sie auszuhalten, versuchen wir sie auszuschalten, indem wir relativieren, beschwichtigen oder uns ablenken. Und machen so alles schlimmer. Was sagt man in dem Fall seinen Kindern, wenn sie Angst haben? „Du hast Angst, und ich verstehe das. Ich habe manchmal auch Angst.“ Diese zu benennen, ist wichtig, dem Kind zu versichern, dass es okay ist, dass es Angst hat, und dass man bei ihm bleibt. (teilweise zitiert von Tanja Walliser aus der Republik vom 07.03.20)

Nicht WAS wir erleben, sondern WIE wir wahrnehmen was wir erleben, macht unser Schicksal aus!

Wir sind keine „Opfer“ unseres Schicksals. Nicht WAS wir erleben, sondern WIE wir wahrnehmen was wir erleben, macht unser Schicksal aus! Man darf sogar – analog unserer Wut (Niemand kann dich wütend machen, ausser Du selbst!) – von unserer Angst oder unserem Glück behaupten: Niemand kann dich ängstlich oder glücklich machen, nur du dich selbst. Doch… Konstruktivismus erklärt nicht alles! Es ist immer auch ein Mischmasch zwischen einer „realen Wirklichkeit“ (der Coronavirus!) und dem Konstruierten, Projizierten… Meine Lieblings­definition der Wirklichkeit stammt vom kanadischen Philosophen Charles Taylor (*1931): „Real ist das, womit man fertig werden muss, was nicht allein deshalb verschwindet, weil es nicht den eigenen Vorurteilen entspricht. Aus diesem Grund ist das, was man im Leben unweigerlich in Anspruch nehmen muss, etwas Reales bzw. etwas so annähernd Reales, wie man es zurzeit erfassen kann.“ (Aus: Charles Taylor, «Quellen des Selbst», S. 117)
Davon gibt es eine Populärversion von John Lennon: «Life is what happens to you while you’re busy making other plans.» Nach diesen Definitionen ist das Coronavirus ungemein wirklich. Wir müssen mit ihm fertig werden, obwohl wir andere Pläne hatten.
(Daniel Strassberg, 31.3. in der Republik)

Welche Psychotherapierichtungen?

„Die Angst, die es uns im Leben so schwer macht, entspringt nicht nur unserem biologisch-genetischen Substrat (ein pharmazeutisches Modell), nicht nur unserem Kampf mit unterdrückten instinktiven Trieben (ein Freudscher Standpunkt), nicht nur wichtigen, von uns verinnerlichten Erwachsenen, die vielleicht nicht mitfühlend, nicht liebevoll oder neurotisch waren (eine objektbezogene Position), nicht nur gestörten Denkformen (eine Position der kognitiven Therapie), nicht nur Scherben vergessener traumatischer Erinnerungen oder aktueller Lebenskrisen, die die Karriere und die Beziehung zu bedeutsamen Mitmenschen involvieren, sondern auch der Konfrontation mit unserer Existenz.“ (aus „In die Sonne schauen“ von Irvin D. Yalom).

Es ist wichtig, zu verstehen, wie therapeutische Modelle Menschen Möglichkeiten bieten, sich selbst zu beschreiben. Diese Modelle sind aber keine objektiven Beschreibungen der Psyche, sondern Hilfsmittel, um sich an ihr abzuarbeiten. Das funktioniert aber nur, wenn man an bestimmte Konzepte glaubt.
Haben wir wirklich „Kernüberzeugungen“? Sind wir wirklich von unseren „automatischen Gedanken“ geprägt? Allein dadurch, dass wir solche Vorstellungen äussern, können wir sie fast wahr machen. Indem wir an die Beschreibungen glauben, ermöglichen wir es der Therapie, von der Theorie in die Praxis zu gleiten. 

Gesprächstherapie kann eine Begleitung zu aktiverem, bewussterem Leben sein.

Die Verhaltenstherapie: „Hören Sie auf, sich die Szene vorzustellen – und entspannen Sie sich!“ (Joseph Wolpe. 1915-97). Hintergrund: Wer entspannt ist, kann nicht zugleich Angst empfinden – d.h., Menschen können nicht zwei entgegengesetzte Gefühle gleichzeitig fühlen. Also: Wer Tiefenentspannung als konditionierte Reaktion auf ein gefürchtetes Objekt erlernt hat, kann nicht zur selben Zeit Angst empfinden!
„Problem Solving Treatment“ ist eine Kurzform einer kognitiven Therapie. Sie fokussiert auf dem Hier und Jetzt und hilft Patienten ihre eigenen Fertigkeiten und Ressourcen besser zu nutzen. Es wird ihnen erklärt, dass ihre Beschwerden mit psychosozialen Problemen zusammenhängen. Gelingt es diese Probleme zu lösen, könnten sich ihre Symptome bessern. Problem Solving erfolgt in folgenden Schritten:  Klärung und Definition des Problems, Wahl erreichbarer Ziele, Lösungsoptionen generieren, Wahl bevorzugter Lösungen, Implementierung bevorzugter Lösungen, Evaluation. Wirksamkeitsstudie hier>>>

Kritische Gedanken zur Kognitiven Verhaltenstherapie

Die Vorstellung, dass wir unsere automatischen Gedanken in Frage stellen und anpassen können, wie in der kognitiven Verhaltenstherapie eingeübt, gibt uns das Gefühl, die Kontrolle zu haben, aber das ständige Ringen mit unseren Gedanken kann selbst zu einer schlechten mentalen Angewohnheit werden: Wenn Sie sich ängstlich fühlen, besteht die beste Herangehensweise vielleicht nicht darin, Ihre ängstlichen Gefühle zu hinterfragen oder einen rationalen Gegenangriff zu starten, sondern einfach die Angst zu bemerken und sie dann vorübergehen zu lassen. Sie verschwindet von selbst. Wenn man sie wegschiebt oder sich mit ihr beschäftigt oder sich mit ihr herumschlägt, wird sie wachsen.

Ich bin deshalb mittlerweile ein überzeugter Vertreter einer von Achtsamkeit geprägten Theorie der persönlichen Veränderung, die ihre Wurzeln in der sogenannten buddhistischen Psychologie hat.

Ein Therapeut mit Wissen von den „Existentiellen, Letzten Fragen“ des Lebens greift die Angst vor dem Tod, die Freiheit zur Verantwortung und die Isolation im Leben direkt auf. Wenn man aber auf die Sinnlosigkeit trifft, kann der Therapeut dem Patienten dabei helfen, „von der Frage wegzuschauen“: Lösungen für das Engagement zu suchen, statt in das Problem der Sinnlosigkeit einzutauchen und durch dieses hindurchzuschwimmen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist, wie Buddha uns gelehrt hat, nicht erbaulich. Besser wäre es, in den Fluss des Lebens einzutauchen und die Frage davonschwimmen lassen. (Lesen Sie dazu das fantastische  Buch „Existentielle Psychotherapie“ von Irvin D. Yalom)

Achtsamkeitstraining, z.B. die Mindfulness-Based-CognitiveTherapy (MBCT) kann den Betroffenen einen Weg weisen, ihren Ängsten und depressiven Episoden entgegenzutreten, sich selbst aus den düsteren Gedankenzirkeln zu befreien und vor Rückfällen zu schützen. Achtsamkeit hilft, statt im Tun-Modus, im Sein-Modus offen zu sein für die Erfahrung im jeweiligen Augenblick, ohne sie verändern zu wollen. Literatur dazu: Petra Meibert: Der Weg aus dem Grübelkarussel. Achtsamkeitstraining bei Depression, Ängsten und negativen Selbstgesprächen. Das MBCT-Buch. Kösel, 2014.
Siehe dazu auch die zeitliche Zusammenhang zwischen Depression und Angst – und der Ausweg über die „Mitte“, über das „Hier und Jetzt“.

2023 berichteten US-Wissenschaftlerinnen im Fachblatt «Jama Psychiatry», dass das Meditationsprogramm «Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion»  (MBSR) bei bestimmten Angsterkrankungen ebenso erfolgreich sein kann wie das Antidepressivum Escitalopram. Das gleiche Programm wurde schon mit besserer Schmerzregulation und mit Linderung von Migräne in Verbindung gebracht. Speziell die Yoga-typische Kombination aus Bewegung, Atemübungen und/oder Meditation scheint sich auf leichte und moderate Depressionen oder Angstzustände positiv auszuwirken, zumindest als ergänzende therapeutische Massnahme.

Aber Achtung: Viel hilft viel, das mag für Sonnencremes gelten, aber nicht für die „Achtsamkeit“! Vielmehr kann zu häufiges oder zu lang andauerndes Training negative Effekte haben (Willoughby B. Britton: Can mindfulness be too much of a good thing? The value of a middle way. Current Opinion in Psychology, 2018. DOI: 10.1016/j.copsyc.2018.12.011).
Die dabei auftretende Selbstfokussierung kann Ängste und Depressionen nach sich ziehen. Man sieht hier ein interessantes Phänomen (wie häufig bei Medikamenten auch), dass Nebenwirkungen ähnliche Bilder wie die Indikationsdiagnose selbst produzieren kann. Auch hier gilt also „Alles mit Mass!“, was schon im Fries vom altgriechischen Tempel zu Delhi stand…

Wie beruhigt man jemanden mit Panik?

Hat ein Mensch Panik, bleiben drei Möglichkeiten:

    • Hat die Person noch rationale Impulse – dann liefere ihr den Realitätscheck. Frage nach, was genau sie fürchtet. Frage weiter nach. Frage sie, was alles eintreten wird. Lass sie alle Schreckensszenarien zu Ende denken. Tu das, weil bei Panik das Denken stecken bleibt. Beharrt das Gegenüber auf dem schwärzesten Szenario, lass es Alternativen denken. Zuhören. Nicht urteilen, keine Ratschläge, nicht relativieren – einfach nur zuhören. Und bei Bedarf Nachfragen stellen.
    • Als Angehöriger hilft: umarmen und festhalten. Bei Kindern nennt man das die Bärenumarmung. Aber es klappt auch bei Erwachsenen. Je fester, desto besser. (Aus dem gleichen Grund wird Schlachtvieh zusammengepfercht – Enge beruhigt.) Mit Vorteil ist man dabei grösser und stärker als die andere Person – falls nicht, mach dich so gross wie möglich. Denn jemand Grösseres und Stärkeres gibt Sicherheit.
    • Sei streng. Bei Panik sollte man scharf einfahren – das ist immer auch ein Beziehungsangebot. Aber man muss aus der Opferrolle rauskommen – und das ziemlich rigid. Befiehl der Person zu atmen, die Füsse auf den Boden zu stellen, schick sie unter die heisse Dusche, hol sie wieder heraus, mach einen Tagesplan. (Angst richtet sich immer auf die Zukunft; zurück auf den Boden kommt man durch basismässige, körperliche Dinge.) . Dazu zwei Zusatztipps:
    • Bei Paaren spielt gelegentlich die Paardynamik. Und der Partner ist die letzte Person auf Erden, die einen beruhigen kann. In diesem Fall hilf es, eine vernünftige Nachbarin zu rufen: Denn je fremder eine Person ist, desto erwachsener werden wir.
    • Angehörige sollten die Erlaubnis zur Wut haben. Wenn sie sagen: „Jetzt reicht’s!“ Nicht zuletzt, weil Wut eine andere Energie hat. Denn Angst spielt sich, wie gesagt, in der Zukunft ab; bei Streit bist du sofort zurück in der Gegenwart.
      .
      Das Dümmste, was du tun kannst:
    • dich von der Angst anstecken zu lassen. (Die gesunde Antwort auf Angst heisst: Mut.)
    • zu gehen. Etwa mit einem Satz wie: „Ich kann dein irrationales Gerede nicht mehr hören…“ Selbst unkontrolliertes Anschreien ist besser als Gehen.
      .
      Wie beruhigst du dich selbst? Falls die Panik dich erwischt, hast du ähnliche Möglichkeiten wie oben. Etwa:
    • Entspanne Dich! Mach die Kurzform der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson: Leg Dich ins Bett (geht auch im Sitzen, z.B. im Flugzeugsitz!), spanne die Gesässmuskeln an, balle die Hände ganz fest zu Fäusten und drücke den Kopf ins Kissen. Zähle auf 30 und entspanne dann alle Muskeln wieder. Das Ganze wiederhole etwa fünf bis sechs Mal.
    • Komm ins Hier und Jetzt! Achte auf 5 Dinge um Dich, die Du im Moment siehst. Dann auch 3 Dinge, die Du jetzt riechst. Und auch 5 Dinge, die Du um Dich abtasten kannst! Achte auf Deinen Atem – und mache ihn ruhiger, langsamer. Atme länger aus als ein! Nimm Deine Airpods aus den Ohren. leg Dein Smartphone weg und schalte es aus!
    • Sei streng mit dir. Komm aus der Opferrolle! Befiehl dir, eine alltägliche Sache nach der andern zu tun: aufstehen! Heisse Dusche! Kaffee machen! Et cetera. Es ist auch hilfreich, wenn du auf dich wütend wirst.
    • Beruhige dich wie ein Kind. Sei geduldig mit dir. Denn Angst ist etwas Natürliches.
    • Ruf jemanden an. Angst isoliert. Sie schrumpft, wenn man sich verbindet. Denn was in Notlagen wirklich hilft, ist Gemeinschaft. Angst trennt. Aber Gemeinschaft hebt Angst auf. (zitiert von Dorothee Wilhelm aus der Republik vom 07.03.20)

Es existieren auch organische Krankheiten, die eine Angstsymptomatik zur Folge haben:

Organische Angstursachen

Gemäss einer Untersuchung (Arch Intern Med, März 97) litten über die Hälfte der Patienten mit der Diagnose „Panikattacke“ unter einer Herzrhythmusstörung mit schnellem Puls, der sog. paroxysmalen supraventrikulären Tachykardie, die während Jahren nicht erkannt worden war! Dann kann das Ganze natürlich auch durch Einnahme von Drogen oder auch von Arzneimitteln verursacht sein!

  • Kaffee und Koffein in jeglicher Form ist eine der Drogen, die am stärksten empfindlich auf Ängste macht. Mit Angststörungen sollte man Kaffee meiden!

Was kann man sonst noch tun?

  • Benütze Deine Airpods nur noch daheim gezielt für Onlinemeetings, im Homeoffice oder für YouTube oder einen Podcast – draussen nicht mehr. Dein Kopf wird durch das ständige Tragen von Airpods stets gefüllt. Sie nehmen Dir Deinen inneren Frieden. Du kannst gar nicht mehr zur Ruhe kommen. Alles Dinge, die Deine Angst steigern! .
  • Anregung des Speichelflusses kann eine Panikattacke beenden. Mit Einsetzen einer vermehrten Salivation (z.B. mit Zitronensaft, sauren Bonbons, Kaugummi,…) wird der X. Hirnnerv, der Vagusnerv angeregt. Dieser ist der „Herrscher“ des parasympathischen Teils des vegetativen Nervensystems. Dadurch wird der sympathische Systemteil gehemmt und damit die Panikattacke, die diesem Teil zugehörig ist, leichter.
  • Rennen hilft sehr gut gegen krankhafte Panik – „Wegrennen“ oder Flüchten quasi: d.h. im Anfall sofort losrennen (und damit der Angst und dem schnellen Puls einen „Grund“ geben) und auch zwischendurch viel Lauftraining.
  • Schaukeln hilft: ein bis zwei Stunden täglich im Schaukelstuhl verbringen, beruhigt ungemein (wie der Säugling in den Mutterarmen)!
  • Schafft man es durch ein gewisses mentales Training, während der Attacke positive Tagträume zu initiieren, kann man sich manchmal frühzeitig aus diesem Anfall „ausklinken“.
  • Auch Kava-Kava-Extrakt (Pfefferartige Pflanze aus dem Pazifik) ist zur Behandlung generalisierter und diffuser Angstzustände mit körperlicher und vegetativer Symptomatik geeignet. Organische Ursachen oder endogene Depressionen sollten dabei ausgeschlossen sein. Als Stufenschema kann Kava-Kava im Anschluss an eventuell primär gegebenen Benzodiazepinen genommen werden (nie in der Schwangerschaft). Im Gegensatz zu den Benzodiazepinen weisen Kava-Kava-Extrakte kein Suchtpotential auf, besitzen jedoch vergleichenden Studien zufolge eine ähnlich hohe Wirksamkeit. Eine Sedierung tritt ebenfalls nicht auf. Autofahren oder Arbeiten an Maschinen sind ungestört möglich.

  • Ernährung: Eine grosse Studie scheint hier sehr interessant. Sie liefert zwar auch keine endgültigen Beweise, scheint aber Hinweise zu liefern, dass Menschen, die weniger Kohlenhydrate und mehr Obst essen, weniger unter Ängsten und Depressionen leiden. Was den Forschern ein neues Rätsel aufgibt, weil Kohlenhydrate die Produktion von Serotonin fördern (einer der Gründe dafür, warum Schokolade glücklich macht). Klar scheint immerhin, dass es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Stimmung gibt.

Interessante Literatur zum Thema:

  • David Servan-Schreiber: Die neue Medizin der Emotionen: Stress, Angst, Depression: Gesund werden ohne Medikamente, 2003, Goldmann.
  • Panikattacken – Angst ohne Grund? Ursachen, Therapie, Praktische Hilfe zur Selbsthilfe, Christine Barsch/Inga-Maria Richberg, Mosaik-Verlag, 1996
  • Ängste verstehen und hinter sich lassen. Wie Sie belastende Ängste und Depressionen aufgeben, eigene Stärken entdecken und endlich Ihr Leben leben. Cornelia Dehner-Rau, Harald Rau, Trias, Stuttgart 2007 – sehr gelungen und alltagstauglich! Botschaft: Die Befreiung aus dem „inneren Gefängnis“ ist realisierbar!
  • Da ein „depressiver Zustand“ sehr viel Nähe zu Ängsten hat, lesen Sie auch: www.dr-walser.ch/depression/

Die allgegenwärtige Angst vor dem Tod

Jason, 8jährig auf die Frage, warum wir Angst vor der Dunkelheit hätten:
„Ich habe keine Angst vor der Dunkelheit, sondern vor Sachen in der Dunkelheit. Man weiss ja nie, was um die Ecke springen kann, wenn man nichts sieht. Also haben wir eigentlich Angst vor der Ungewissheit.“ (PhiloMag, 06/2021)

Todesangst und Angst vor der Dunkelheit sind nah verwandt – „Es ist das Unbekannte, das wir fürchten, wenn wir auf den Tod und die Dunkelheit blicken, nichts weiter.“ (J.K. Rowling)

Es ist nicht möglich, das wirklich Unbekannte zu fürchten. Was ich fürchte, ist nicht das Unbekannte, sondern das, was ich mir ausdenke, dass es passieren wird. Im Falle des Todes stelle ich mir vor, wie es wäre, nicht zu existieren; das macht mir eine Heidenangst. Wer wäre ich ohne meine kostbare, selbst geschaffene Identität?

Die Angst vor dem Tod ist meiner Meinung nach allgegenwärtig, fest in uns verankert, prägt den innersten Kern unseres Seins. Sie spielt eine wesentlich grössere Rolle in unserer Psyche als gemeinhin angenommen wird. Ich glaube, dies ist unmöglich ganz auszumerzen. Dennoch können Therapeuten eine grosse Hilfe für Patienten mit übermässiger Todesfurcht sein. Wir können zwei Dinge tun: die Angst vor dem Tod lindern und die Erfahrung, sich des Todes bewusst zu werden als Weckruf nutzen, um auf mannigfaltige Weise persönliches Wachstum zu fördern. Ich werde mich hier kurz auf einige der wichtigsten Ideen konzentrieren, mit denen wir die Angst vor dem Tod vielleicht durch die Macht von Gedanken mildern können.
Das Symmetrie-Argument Dafür stehen uns Therapeuten viele Argumente zur Verfügung, manche von ihnen sind seit über zwei Jahrtausenden Teil des Kanons der abendländischen Zivilisation. Epikur (341- 270 v. Chr.), einer unserer grossen Vorfahren im Geiste, entwickelte eine Reihe davon. Betrachten wir nur eines, das besonders überzeugend ist: Das »Symmetrie-Argument« in dem darauf hingewiesen wird, dass wir uns nach dem Tod im selben Zustand befinden wie vor unserer Geburt. Viele haben diesen Gedanken im Lauf der Jahrhunderte weiter ausformuliert. Keiner aber schöner als Vladimir Nabokov, der russische Romancier, der in seinen Memoiren schreibt, das Leben sei nur ein kurzer Lichtfunke zwischen zwei Ewigkeiten aus Dunkelheit. Diese beiden Ewigkeiten sind identisch und doch betrachten wir sie seltsamerweise ganz unterschiedlich: Voller Angst und Zittern beschäftigen wir uns mit der zweiten Dunkelheit und schenken der freundlicheren, vielleicht sogar tröstlichen ersten Dunkelheit kaum Beachtung.
Ungelebtes Leben und die Angst vor dem Tod
Wenn ich mit Patienten arbeite, die grosse Angst vor dem Tod haben, stelle ich oft schon am Beginn der Therapie folgende Frage: »Können Sie mir sagen, was genau Sie am Tod am meisten ängstigt?« Die Antworten sind sehr unterschiedlich und eröffnen häufig neue therapeutische Wege. Zum Beispiel hört man oft: »All die Dinge, die ich nicht getan habe.« Falls man dieser Entgegnung auf den Grund geht, ergibt sich ein für den Therapeuten sehr aufschlussreicher Gedanke: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Ausmass der Angst vor dem Tod und dem Ausmass, in dem man sich selbst verwirklicht hat. Je mehr Leben das Individuum bei sich selbst für ungelebt hält, desto grösser ist die Furcht vor dem Tod. Daher kann die Linderung dieser Furcht oft darin bestehen, dass der Therapeut dem Patienten hilft, sich zu verwirklichen. »Werde, der du bist«, sagte Nietzsche (und bezeichnete dies als einen seiner »granitenen Sätze«). Ich empfehle, den Gedanken therapeutisch zu nutzen.
Wellen schlagen Wellen schlagen ist das Phänomen, konzentrische Wirkungskreise zu erzeugen, die andere über Jahre, Generationen, unendlich lange beeinflussen können. Ohne bewusste Absicht oder Kenntnis hinterlassen wir etwas von unserer Lebenserfahrung, irgendein Merkmal, eine Spur von Weisheit, eine gute Tat, Anleitung, Trost, etwas, das sich auf andere überträgt, so wie die von einem in den Teich geworfenen Kiesel verursachten Wellen sich ausbreiten, bis sie nicht mehr sichtbar und trotzdem auf einer Nano- Ebene noch wirksam sind. Die Vorstellung, etwas von uns zu vermitteln, auch ohne unser Wissen, ist eine Antwort an diejenigen, die behaupten, unsere eigene Endlichkeit bedeute unweigerlich Sinnlosigkeit und Schrecken. Natürlich meine ich nicht, dass unsere persönliche Identität erhalten bleibt. Der Wunsch danach, so stark er auch sein mag, ist vergeblich: Vergänglichkeit ist ewig. Therapeuten und andere Menschen in helfenden Berufen sind sich des Wellenschlagens oft besonders bewusst, wenn sie feststellen, dass sie nicht nur ihren Patienten helfen, sich zu verändern und zu wachsen, sondern damit auch eine Kettenreaktion von diesen Patienten zu anderen in Gang setzen – zu Kindern, Ehepartnern, Schülern und Freunden. (aus dem „Panamahut“ von Irvin D. Yalom)

Sich selbst gut kennen lindert die Angst vor dem Tod

Eine Studie mit rund 2000 Teilnehmenden zeigte, dass Menschen, die sich selbst gut kennen, weniger Angst vor dem Tod haben. Das Gefühl, dass das Leben sinnvoll ist, hilft auch gegen die Angst vor dem Tod. Die Ergebnisse legen nahe, dass der Zusammenhang zwischen empfundenem Lebenssinn und Todesangst komplexer ist, als bisher angenommen. Die Wissenschaftler arbeiteten mit der These der sozialpsychologischen Terror Management Theory, nach der Menschen sich Sinn fürs Leben schaffen, weil sie dann weniger Angst vor dem Tod haben. In den vier Studien beantworteten die Teilnehmenden Fragen wie, ob sie sich von sich selbst entfremdet fühlten und welche Auswirkungen dies auf ihre Angst vor dem Tod habe. Es zeigte sich, dass diejenigen, die ein Gefühl von Sinn im Leben und eine geringe Selbstentfremdung empfanden, am wenigsten Sorgen über ihren Tod machten.
(Joseph Maffly-Kipp et al: When meaning in life protects against fear of death: The moderating role of selfalienation. Journal of Personality, 2023. DOI: 10.1111/ jopy.12875)

Todesangst bestimmt unsere Kultur

Was lässt uns zu Helikoptereltern werden, warum raffen wir Reichtümer zusammen, warum schreiben wir Bücher oder spritzen uns Botox? Weil wir Angst vor dem Tod haben. Das Wissen um unsere Endlichkeit treibt uns jeden Tag an – selbst beim Shoppengehen. Ich habe, also bin ich (noch). Wir wollen alle nicht sterben, nicht mal die, die für einen gelassenen Umgang mit dem Tod plädieren – wie die Interviewpartner im folgenden Stück. Auch wenn sie ganz darauf vertrauen, dass unser Ende auch der Anfang für etwas Gutes sein kann. Sie haben sich eingehend damit beschäftigt. Wie genau sie die Angst vor dem eigenen Vergehen angegangen sind, bleibt zwar etwas im Nebulösen, aber mir gefällt in erster Linie, dass sie uns wieder einmal darauf hinweisen, warum wir machen was wir tun – jeden Tag. Was all dem zugrunde liegt. Das auch Konsum so ein Todvermeidungsgebaren ist. Klamottenkaufen. Brauche ich wirklich das achte Paar Chucks? Oder gebe ich da nur Geld aus, um mich zu trösten? Sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang ist auch das Buch der Psychologie-Professoren Solomon, Greenberg und Pyszczynski der University of Arizona „Der Wurm in unserem Herzen – Wie das Wissen um die Sterblichkeit unser Lesen beeinflusst“. Interessantes Detail aus den von ihnen zitierten Studien: „Wenige Minuten, nachdem sie sich mit ihrer Vergänglichkeit befasst hatten, verlangte es Männer stärker nach ungeschütztem Sex und nach mehr Partnern oder Partnerinnen.“ Da sage nochmal einer, die Alleingänge unseres Unterbewusstseins wären nicht wahr und totaler Schmarrn! „Todesangst bestimmt unsere Kultur. Das spiegelt sich in Körperkult und Jugendwahn. Gier, Zeitnot, Hektik, das Gefühl, etwas zu verpassen, die Panik, dass einem die Zeit davon läuft, der Druck, dass man unbedingt Kinder bekommen will oder dass man ein Werk schaffen muss – dahinter steckt immer die Angst: Mein Gott, ich werde verschwinden, es muss dringend irgendetwas von mir weiterleben!“ (tabuthema-tod-1.pdf & tabuthema-sterben-2.pdf). Wertvolle Links: kostenlose Onlinetrainings von Universitäten-Gruppe: https://geton-training.de/ www.psychic.de/ Selbsthilfe Ratgeber bei Angststörungen, Panikstörungen und Phobien. www.depression-diskussion.de Forum für Depressionen und psychologische Erkrankungen. Julian Goldie recently created a guide about his experiences with anxiety and top tips for managing it: https://relaxlikeaboss.com/anxiety-sucks/ Zur Klimaangst: Die Dauerbeschallung mit schlechten Umweltnachrichten macht traurig, ängstlich, verzweifelt, wütend – manchmal alles zugleich. Diese Gefühlslage beschreiben viele Menschen, die sich im vergangenen Jahr durch Fridays For Future zum ersten Mal mit der Klima- und Umweltkrise auseinandergesetzt haben. Renée Lertzman fand ihren eigenen Weg aus dem „Tunnel“. Sie ging zurück an die Uni und studierte den Zusammenhang zwischen Trauma, Trauer und Kreativität und ist inzwischen eine anerkannte Umweltpsychologin und Autorin des Standardwerks Environmental Melancholia: Psychoanalytic dimensions of engagement. In diesem Ted Talk stellt sie im Grunde kurz die Kernbotschaft ihres Buches vor. Es ist normal, dass man sich durch den Klimawandel ängstlich oder überfordert fühlt. Lertzman beschreibt auch, dass es die allermeisten Menschen, egal welcher politischen Couleur, beunruhigt. Diese Gefühle müssen uns aber nicht lähmen oder gegeneinander aufbringen, sondern sie lassen sich in etwas Produktives verwandeln. Doch das benötigt psychologisches Geschick. https://www.ted.com/talks/renee_lertzman_how_to_turn_climate_anxiety_into_action

PTBS – posttraumatische Belastungsstörung

Das Gefühl, bedroht zu sein, niemandem vertrauen zu können, begleitet Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) durch ihre Tage und ihre Nächte. Grauenvolle Erinnerungen drängen sich in ihr Bewusstsein. Viele fühlen sich abgestumpft, gefühlstaub. Sie ziehen sich zurück.
Sie gehen dem Gespräch über das Geschehene aus dem Weg.
Oft sind frühe Missbrauchs- und Gewalterfahrungen die Ursache für die Erkrankung.

PTBS: Vielleicht sollten wir viel weniger über unsere Probleme reden

(zitiert von Theresa Bäuerlein in Piqd, 08.01.2024)
Der US-Psychiater Bessel van der Kolk, Jahrgang 1943, ist einer der renommiertesten und bekanntesten Traumatherapeuten. Zu seinen Verdiensten gehört es, den Blick auf die Erkrankung der Postraumatischen Belastungsstörung zu weiten und zu erkennen, dass nicht nur Kriegsveteranen davon betroffen sein können, sondern auch viele Menschen, die in ihrer Kindheit Missbrauch und Gewalt erfahren haben. In diesem Interview geht es um die Frage, was Traumata sind, und warum so viele Menschen in der westlichen Welt fest daran glauben, dass psychische Probleme sich am besten über Gesprächstherapien und Medikamente lösen lassen – und was es für Alternativen gibt.
Schreckliche Ereignisse, so van der Kolk, werden nicht automatisch zu Traumata – es müssen Gefühle von Machtlosigkeit und Verlassenheit dazukommen.
In der Frage der Heilung steht er Medikamenten eher kritisch gegenüber:
„Traditionelle Psychopharmaka können sehr wichtig und hilfreich sein, wenn jemand schwere Symptome hat. Aber sie tun eben nicht mehr, als Symptome zu lindern, sie lösen nichts.“
Ebenso zweifelt er an der Wirksamkeit therapeutischer Gespräche:
„Zu wissen, warum alles falsch gelaufen ist, macht es nicht rückgängig. Es mag hilfreich sein, zu verstehen, welche Fehler man gemacht hat oder was man Schlimmes erlebt hat. Aber gelöst ist dadurch erst mal nichts.
Damit es Menschen besser geht, müssen die Wege im Gehirn verändert werden, damit sie nicht mehr durch kleinste Reize in ihr traumatisches Erlebnis zurückgeworfen werden. Sie müssen körperlich spüren, dass es Vergangenheit ist und dass sie jetzt sicher sind. Das klappt aber meist nicht, indem man nachdenkt und redet (…)  Eine Traumatisierung passiert auf diesem Level, es ist eine sehr primitive Reaktion, weswegen der Verstand hier nur ganz schwer eingreifen kann. Auch nach Hunderten Gesprächen nicht.“
Er empfiehlt eher andere, körperliche Methoden, Yoga zum Beispiel, Kampfsport, Tanzen und Theater. Auf die Frage, warum das funktionieren soll, sagt er:
„Wieso funktioniert darüber sprechen? Ich finde es immer interessant, dass in unserer Kultur überhaupt nicht angezweifelt wird, dass und wie Sprachtherapie funktioniert, während alles andere sich erst einmal rechtfertigen muss. Auch die Wirkung von Medikamenten wird kaum hinterfragt. Die Wirkungsweise von Prozac zum Beispiel, eines der bekanntesten Antidepressiva, sei medizinisch nur teilweise verstanden, werde aber trotzdem gerne von Ärzt:innen verschrieben.“
Deutschland, findet van der Kolk übrigens, habe das Trauma des Zweiten Weltkriegs ziemlich gut verarbeitet.
„Die Deutschen sind viel weniger traumatisiert als noch vor einigen Generationen, auch weil sie ihre Kinder ganz anders behandeln als früher. Kinder bekommen heutzutage viel Aufmerksamkeit, ihnen wird zugehört. Eltern bemühen sich sehr, Sicherheit zu vermitteln, anstatt ständig zu drohen und zu strafen. Die ganze Kultur des Lernens hat sich völlig verändert, zum Glück. Und auf diese Weise ist die ganze Gesellschaft viel freier und freundlicher geworden.“

MDMA bei PTBS

Nun weckt auch eine Partydroge neue Hoffnung: MDMA, in den 1980er-Jahren der Hauptbestandteil von Ecstasy (heute enthalten die Pillen oft auch andere Substanzen). Das Kürzel steht für Methylendioxymethylamphetamin. Der Stoff macht die Psychotherapie von PTBS wirksamer, das zeigte jetzt ein Forschungsteam um die Neurologin Jennifer Mitchell von der University of California. 2023 veröffentlichte es seine Ergebnisse in der Fachzeitschrift Nature Medicine. Die Patienten hatten zusätzlich zu einer Psychotherapie dreimal MDMA bekommen. Nach 18 Wochen waren 71 Prozent der Teilnehmenden so weit genesen, dass sie die Diagnosekriterien für PTBS nicht mehr erfüllten. In der Kontrollgruppe, die zusätzlich zur Psychotherapie ein Placebo-Mittel bekam, war das nur bei 48 Prozent der Fall.
Zugleich wurden andere Nebenwirkungen wie eine körperliche Abhängigkeit nicht beobachtet.

Im Sommer 23 bereits hatte die australische Zulassungsbehörde die Traumabehandlung mit MDMA erlaubt – als erste weltweit. Zugleich genehmigte sie die Therapie von Depressionen mit Psilocybin, dem Wirkstoff aus psychoaktiven Pilzen.

Was sonst starkes Eingreifen des Therapeuten erfordert, geht mit MDMA oft fast wie von allein. Das Mittel wirkt wie ein Katalysator. Es löst die Angst vor der Erinnerung und, wichtiger noch, die Hemmung, darüber zu sprechen.

Was genau dabei im Körper der Patienten vor sich geht, ist noch nicht vollständig erforscht. Klar ist, dass MDMA die Ausschüttung der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin im Gehirn erhöht und, besonders wichtig, die von Oxytocin. Jenem Hormon also, das Bindung und Vertrauen fördert. Der Stoff erleichtert den Patienten also die harte Arbeit der Konfrontation mit ihren Erlebnissen. Die Substanzen öffnen ein Fenster, das man in der Psychotherapie dann noch weiter aufdrücken kann.

Weltschmerz

In einer Zeit, in der wir mit Nachrichten über Kriege, politische Veränderungen und Konflikte konfrontiert werden, kann sich ein Gefühl der Überforderung und des Unbehagens breitmachen. Besonders in Zeiten des Rechtsrucks und der Eskalation des Nahost-Konflikts scheint alles zu viel zu sein. Dieses Gefühl, das viele von uns kennen, hat einen Namen: Weltschmerz.
Kann man ihn heilen? Darüber hat Salon5, die Jugendredaktion von CORRECTIV mit der Psychotherapeutin Marlene Huemer gesprochen. Sie zeigt auch verschiedene Möglichkeiten auf, wie man mit Weltschmerz umgehen kann. In einem Beitrag auf Instagram präsentieren die jungen Menschen von Salon5 einige dieser Möglichkeiten. Ihr wichtigster Tipp: Weniger Zeit in den Sozialen Medien verbringen. Und, auch wenn es zu einfach klingt: Spazieren gehen!

Veröffentlicht am 17. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
11. Januar 2024

Depression

Was ist eine „Depression“?

„Die grösste aller Gefahren, sich selbst zu verlieren, kann sich in der Welt ganz leise ereignen, als ob es gar nichts wäre. Kein anderer Verlust kann so leise eintreten; jeder andere Verlust – ein Arm, ein Bein, fünf Euro, eine Frau, usw. – wird sicher bemerkt werden.“ (Kierkegaard) – Meine neue Lieblingsdefinition von „Depression“ (im Moment).

Das Problem mit der Depression beginnt schon vor der Diagnose, nämlich bei der Definition, was eine Depression ist. Die Krankheit Depression wird aufgrund von Symptomen definiert und kann nicht aufgrund somatischer Marker definiert werden (Ausnahme: Entzündungsmarker?). Es könnte also auch sein, dass Ärzte die diagnostischen Kriterien etwas anders gewichten als die, die diese Kriterien erstellt haben.
Zudem ist es schwierig auf einer kontinuierlichen Skala, die bei jedem Menschen zwischen „überhaupt nicht depressiv“ und „schwerst depressiv“ liegt, den Punkt festzulegen der Depression von Nicht-Depression unterscheidet.

Disease Mongering

Mit der Definition von allen psychischen Krankheiten verhält es sich ähnlich. 2013 enthielt das neue DSM 5, die international geltende «Bibel der psychischen Erkrankungen», zahlreiche zusätzliche Leiden und hatte bei vielen anderen die Hürde für eine Diagnose gesenkt. ADHS zum Beispiel erforderte nicht mehr sechs Symptome, sondern nur noch fünf. Dass sich psychische Erkrankungen fast immer nur an Symptomen orientierten und diese dann auch noch subjektiv interpretiert würden, komme «so in kaum einem anderen Bereich der Medizin vor», kritisiert der langjährige Direktor des amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH), Thomas Insel, seit Jahren. Er spricht gar von «Zuständen wie in vorwissenschaftlichen Zeiten».

Tatsächlich gleichen viele Diagnosen eher eine Art Definitionsfrage. Und so wird aus der herkömmlichen Schüchternheit eine soziale Phobie oder aus der Trauer, die nach dem Tod eines nahestehenden Menschen länger als zwei Wochen andauert, eine Depression. Denkt man diese Entwicklung konsequent weiter, ist – überspitzt formuliert – irgendwann überhaupt niemand mehr psychisch gesund.

Dass bereits eine „Miese Stimmung“ eine „Depression“ und damit krankhaft sein soll, davon ist hier also nicht die Rede. Ich plädiere dezidiert gegen das Diktat des „positiven Denkens„! Ich glaube sogar, dass diese „miese“ Stimmung zu einem grossen Teil durch das „positive Denken“ einer ganzen Kultur mitverursacht wird. Ich meine hier nicht nur die Methode des positiven Denkens, sondern gesellschaftlich immer weiter verbreitete Werte wie Spass, Fröhlichkeit, Zwangs-Optimismus (siehe dazu auch das sehr aktuelle Buch von Arnold Retzer (Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken. S.Fischer, Frankfurt 2012).

Auch der neue Hype des sogenannten „Manifestierens“ beschönigt die gleiche verblendete Logik, die behauptet, Armut sei eine Wahl, und die vielen politischen Desinformationen zugrunde liegt. Wenn die Realität nur das ist, was wir aus ihr machen, dann werden die Skrupellosesten die meiste Macht haben, die Zukunft zu gestalten. Weiterlesen >>>

Menschen suchen nach Glück und Zufriedenheit. Doch auch Trübsinn hat Vorzüge:
„Das Vergnügen traurig zu sein!“.

Was tun? >>> direkt zu den Therapieansätzen

Wie die Evolution unsere Biologie formt

 Oder: In welchen Situationen ist eine gedrückte Stimmung nützlich?

Randolph Nesse gilt als Mitbegründer der evolutionären Medizin. Der Psychiater erforscht, wie die Evolution den Menschen geformt – und für bestimmte Krankheiten anfällig gemacht hat. Er schrieb ein Buch mit dem bekannten Evolutionsbiologen George Williams, war Gründungsdirektor des Centers for Evolution and Medicine an der Arizona State University. Mit ZEIT ONLINE spricht er 12/2022 über sein neuestes Buch „Good Reasons for Bad Feelings„.
zeit.de/gesundheit/2022-12/mentale-gesundheit-depression-angst-evolution-randolph-nesse

Seiner Ansicht nach kann Niedergeschlagenheit ein Hinweis darauf sein, dass wir gerade Energie verschwenden. Zum Beispiel, wenn wir ein Ziel verfolgen, das nicht zu unserer Lebenslage passt. Oder wenn das Erreichen des Ziels aussichtslos erscheint, wir aber nicht davon lassen können. Wenn wir in einer Sache blockiert sind. 

Er plädiert dafür, auch mal aufzugeben und nicht verbissen an etwas festzuhalten, das uns offensichtlich gar nicht guttut: „In meiner Karriere gelangen mir allerdings einige der größten Heilungen, als ich Menschen geholfen habe zu realisieren, dass sie etwa seit fünfzehn Jahren an dieser Ehe arbeiten, aber eigentlich gar nicht mehr daran glauben, dass sie sie noch retten können. Dass sie jetzt den Status quo entweder akzeptieren müssen oder unter Schmerzen einen Schlussstrich ziehen. Im Aufgeben liegt oftmals der Schlüssel, um eine Depression zu überwinden.“

Nur gute Menschen werden depressiv!

Im Ansatz der Persönlichkeitstheorie tönt dies so:
„Damit sich natürliche Traurigkeit in eine Depression verwandelt, muss man sich nur selbst die Schuld an dem Unglück geben, das einem widerfahren ist!“ (Dorothy Rowe)

Wenn wir damit aufhören könnten, uns selbst die Schuld für schlimme Ereignisse in unserem Leben zu geben, würde die Depressionsrate rapide sinken, lautet Dorothy Rowes Prämisse. Und ihre Therapieerfolge sprechen für sich. Normalerweise wachsen wir in der Überzeugung auf, dass es in der Welt gerecht zugeht und uns Gutes widerfährt, wenn wir uns entsprechend verhalten. Doch was bedeutet das im Umkehrschluss? Wenn wir davon überzeugt sind, dass die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden, kommen wir zwangsläufig zu dem Schluss, dass wir für alles Schlechte in unserem Leben selbst verantwortlich sind.
In solchen Situationen fragen wir oft: „Warum passiert das ausgerechnet mir?“ Wir blicken zurück, um herauszufinden, was wir beigetragen haben, selbst wenn es um eine Naturkatastrophe geht. Irrationale Schuldgefühle, Hilflosigkeit und Scham entstehen, eine Depression kann die Folge sein. Rowe ist der Ansicht, dass wir unsere Überzeugungen selbst erschaffen. Sobald uns das klar geworden sei, könnten wir uns von dem Glauben an eine gerechte Welt verabschieden und negative Erfahrungen, z.B. einen Jobverlust, rationaler verarbeiten. Katastrophen widerfahren uns nicht, weil wir zum Unglück verdammt sind oder sie verdienen. Wir sollten damit aufhören, Ereignisse persönlich zu nehmen, und uns darüber klar werden, dass Schlimmes einfach geschieht! (Nur gute Menschen werden depressiv – aus „Das Psychologie-Buch“, Dorling Kindersley, London, 2012)

Weiterlesen: Auch „Einsamkeit“ muss nicht zur Depression führen.

Ursache ist wohl schwache Plastizität unseres Hirns und nicht ein Mangel an Botenstoffe (v.a. Serotonin)

Dauerstress und Depression

Auf diesen starken Zusammenhang kam Forscher nun wieder bei der Enträtselung der antidepressiven Wirkung der psychedelisch wirkenden Drogen, wie Ketamin. Diese Droge verbessert die Übertragung von Informationen zwischen den Hirnzellen, stellten die Forscher fest. Sie lässt sogar neue Verbindungsstellen, Synapsen, entstehen. Herkömmliche Antidepressiva tun das auf Umwegen auch. »Plastizität« nennen Fachleute dieses Phänomen. Es ist entscheidend für das Lernen.
Eine neue Hypothese war geboren: Depressionen entstünden, wenn diese Plastizität unseres Hirns sinke. Erhöhe man sie, lasse sich die Krankheit lindern.

Für diese Vermutung spricht einiges, denn Stress senkt die Plastizität. Und Stress entsteht durch akute oder chronische Überlastungen genauso wie durch frühe Traumata – alles bekannte Ursachen von Depressionen. Wenn Menschen aber nicht mehr so gut Neues lernen können, bleiben sie leichter in Grübelschleifen hängen, ziehen sich zurück. Die Verbindungen (Synapsen) im Gehirn leiden, die Verbindungen im Leben ebenfalls.

Eine weitere Erklärung für den Zusammenhang von Dauerstress und Depression führt über unseren Darm und sein Mikrobiom: Der Stress lässt unsere Darmflora massiv verarmen, was wiederum zur Depression führen kann (siehe weiter unten).

Mangel an Botenstoffe?

Lange Zeit glaubte man, dass ein Mangel an Botenstoffen, insbesondere an Serotonin, die Ursache für Depressionen sei. Diese Annahme beruhte auf der Wirkweise herkömmlicher Antidepressiva, die die Konzentration von Serotonin zwischen den Hirnzellen erhöhen. Obwohl sie vielen Patienten helfen, wirken sie nicht bei allen. Inzwischen ist klar, dass diese Serotonin-Hypothese nicht ausreicht. Vor mehr als 20 Jahren fiel Ärzten auf, dass es manchen depressiven Menschen nach einer Operation unter Vollnarkose mit dem Mittel Ketamin deutlich besser ging. Anfang des Jahrtausends bestätigten erste Tests an Patienten mit Depressionen die Wirkung des Stoffs. Es zeigte sich, dass Ketamin die Übertragung von Informationen zwischen den Hirnzellen verbessert und sogar neue Verbindungen – Synapsen – spriessen lässt. Fachleute nennen diesen Mechanismus “Plastizität”. Die neue Hypothese besagt, dass Depressionen dadurch entstehen, dass ebendiese Plastizität sinkt. Ein Gehirn, das sich nur noch wenig verändern kann, wird krank. Wenn bei Menschen mit Depressionen dieser Prozess gestört ist, lernen sie nicht mehr so gut Neues und bleiben in den immer gleichen Grübelschleifen hängen. Dazu passt, dass typische Auslöser einer Depression wie frühe Traumata und akute oder chronische Überlastung Stress verursachen – und dass Dauerstress wiederum die Plastizität senkt (siehe weiter oben).

Ketamin gegen Depression

Ketamin ist ein vielversprechendes Mittel gegen Depressionen. Die dissoziative Wirkung von Ketamin ist nicht entscheidend für seinen antidepressiven Effekt. Eine Übersichtsarbeit von 2020 ergab, dass nur in drei von acht Studien überhaupt ein Zusammenhang zwischen dissoziativen Symptomen und der antidepressiven Wirkung bestand. Und auch in diesen Fällen erklärten die rauschhaften Erfahrungen nur 12 bis 21 Prozent der Unterschiede in der Wirkung auf die Depression. Das unterscheidet Ketamin wahrscheinlich von psychedelischen Drogen wie Psilocybin und MDMA; bei ihnen ist der Rausch tiefgreifender und deshalb wohl wichtiger für die Wirkung.

Plastizität an sich hilft aber noch nicht. Sie schafft nur die Möglichkeit, dass sich etwas ändert. Ob es besser wird oder sogar schlechter, hängt von der Umwelt ab. Damit Menschen mit Depressionen von der wiedergewonnenen Flexibilität im Hirn profitieren, brauchen sie hilfreiche Erfahrungen, wohltuende Begegnungen – und meist eine Psychotherapie.

Symptome einer Depression

„Wahre“ Schwere Depressionen gehören zu den quälendsten Leiden überhaupt: Kranke, die den jähen Schmerz eines Herzinfarkts und eine Depression erlebt hatten, hielten im Nachhinein die Depression für weitaus unangenehmer.
Gemeinsam ist fast allen Depressionen die gedrückte, traurige Grundstimmung, die die Zukunft meist sehr schwarz und negativ aussehen lässt. In vielen Fällen ist der Zustand des Kranken in den Morgenstunden am schlechtesten – Sie können auch frühmorgendlich zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit erwachen. Abends hellt sich die Stimmung wieder etwas auf.
Nur wenige Depressive denken überhaupt nicht an Selbstmord.
Interessenverlust, Unzufriedenheit, Lustlosigkeit und Freudlosigkeit, verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle, Gefühle der Wertlosigkeit, Negativ-pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidale Gedanken oder Handlungen, Ein- bzw. Durchschlafstörungen mit Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf, Müdigkeit und Energielosigkeit, Appetitlosigkeit – auch mit Gewichtsverlust (mehr als 5% des Körpergewichts im letzten Monat), deutlicher Libidoverlust,  Entscheidungsschwierigkeiten, Leere und Reizbarkeit. Psychomotorisch kann eine Hemmung oder eine Agitiertheit bestehen.

Jedes der folgenden Symptome verdoppelt etwa die Wahrscheinlichkeit einer Depression: Schlaflosigkeit (Insomnie), Müdigkeit, chronische Schmerzen, Veränderung in den Lebensumständen, ungeklärte physische Symptome, mäs­sige bis schlechte ­Gesundheit in Selbsteinschätzung der Patienten.

Es gibt viele Screening-Methoden, der PHQ-9 («Patient Health Questionnaire-9») scheint am weitesten verbreitet zu sein und gute Qualitätscharakteristika aufzuweisen (Sensitivität/Spezifität bei je 85%). > www.depressionscreening100.com/phq

Berechneter SkalensummenwertSchweregrad der Depression
1-4Minimale depressive Symptomatik
5-9Milde depressive Symptomatik
10-14Mittelgradige depressive Symptomatik
15-27Schwere depressive Symptomatik

…und für Männer bestehen zudem oder alternativ noch andere Symptome: siehe hier

Körperliche Symptome, die eine Depression maskieren können (sogenannte „larvierte Depression“)

  • Kopfschmerzen
  • Nacken-Schulterschmerzen (siehe gleich unten)
  • Rückenschmerzen
  • Atembeschwerden
  • Herzbeschwerden
  • Magen-Darm-Beschwerden
  • Rheumatische Beschwerden
  • Unterleibsbeschwerden

Steifer Nacken, trübe Gedanken?

Können unelastische Faszien zu Depressionen führen? Forschende haben den Zusammenhang in zwei Studien untersucht.

Gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem Fasziengewebe im Nacken- und Schulterbereich und der Neigung zu negativen Gedanken? Für diese Frage interessierten sich der Forscher Johannes Michalak und sein Team von der Universität Witten-Herdecke in zwei Studien. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34955570/)

Das Ergebnis: Womöglich haben Menschen mit Depressionen steifes, unelastisches Fasziengewebe. Das könnte es ihnen erschweren, negative Gedankenschleifen zu beenden.

Für die erste Studie wurde zunächst die Steifigkeit des Fasziengewebes von 80 Depressiven und Nichtdepressiven gemessen. An der zweiten Studie nahmen 69 Personen teil, bei denen eine Depression festgestellt worden war. Rund die Hälfte massierte sich 30 Sekunden lang selbst Schultern und Nacken, indem sie über eine Faszien-Schaumstoffrolle hin und her rollten. Die Kontrollgruppe legte sich mit Nacken und Schultern auf die gleiche Rolle und bewegte sich nur auf und ab, sie massierten sich also nicht richtig.

Anschliessend wurde allen eine Liste mit positiven und negativen Begriffen vorgelesen, die sie sich merken sollten. Diejenigen, die Schultern und Nacken mit der Schaumstoffrolle „geknetet“ hatten, merkten sich deutlich mehr positive Wörter. Die Autorinnen und Autoren betonen, dass es eine kurze Behandlung und ein vorübergehender Effekt war.
(Susanne Ackermann, 15. Sep 2023 in PSYCHOLOGIE HEUTE)

Angst und Depression

Angst vor dem Kommenden, vor der Zukunft – und Niedergeschlagenheit angesichts des Gewesenen, vor der Vergangenheit: Die Angst und Depression sind zwei Seiten derselben Medaille, ängstliche Menschen sind nicht selten auch depressiv und umgekehrt. Im Persönlichkeitsmodell der „Big Five“ sind Ängstlichkeit und Niedergeschlagenheit zwei Facetten ein und derselben Grundeigenschaft, des „Neurotizismus“, der emotionalen Labilität. Besonders frappant ist die Verkoppelung bei der „generalisierten Angststörung“, bei der sich die Angst verselbständigt hat und frei von Auslösern kommt und geht, wie sie will.
Meist kommt erst die Angst im Leben, und wenn sie nicht vergehen will, gesellt sich in späteren Jahren die Depression hinzu.
Auch Studien haben nun ergeben, dass Menschen während einer Depression ihr Denken auf die Vergangenheit fokussieren. Haben Menschen hingegen Angst, so gehen ihnen vor allem zukünftige Ereignisse durch den Sinn, die sie als Bedrohung empfinden. Vergangene Dramen stimmen also eher depressiv, künftige ängstlich!
(A.Pomeranz, P.Rose: Is depression the past tense of anxiety? Int Journal of Psych, DOI: 10.1002/ijop.12050).

Ängste sind wie Rauchmelder, die zu sensibel eingestellt sind. Sie schrillen schon bei sehr wenig Rauch los und stellen uns auf Alarm – bis zur Panikattacke.

Therapeutische Folgerungen zeigen zeitlich in die Mitte: Das achtsame Fokussieren auf die Gegenwart, auf das, was gerade in diesem Moment, im Hier und Jetzt geschieht, hilft sowohl gegen Angst als auch gegen die Depression!  Die verschiedensten Meditationsformen sind dazu ein fantastisches Instrument, jedoch auch Yoga, Tanzen, Singen und Spaziergänge in der Natur.

Demütigungen und Kränkungen

Neuere Studien zeigen, dass Demütigungen und Kränkungen zu den häufigsten Ursachen von Depressionen zählen.
Wie schaff ich in solchen Situationen „Distanz zu mir“?

Macht mein verarmtes Mikrobiom im Darm mich depressiv?!

In diesem interessanten Zusammenhang wird die Ernährung und die Entzündung bei der Depression immer wichtiger: Lesen Sie dazu weiter unten!
Dies übrigens eine weitere Erklärung für den Zusammenhang von Dauerstress und Depression: Auch der Stress lässt unsere Darmflora massiv verarmen, was wiederum zur Depression führen kann.

Besonderes bei der Frau

Während der depressiven Episoden treten bei Frauen häufiger chronische Müdigkeit, gesteigerte Schläfrigkeit und eine psychomotorische Verlangsamung auf.
Literatur: Kelly Brogan: „Die Wahrheit über weibliche Depression. Warum sie nicht im Kopf entsteht und ohne Medikamente heilbar ist.“ >> daraus: Die Depression ist ein Symptom. An irgendeiner Stelle im Körper gibt es eine Unausgewogenheit…

Besonders bei Frauen hilft eine Ernährung, die reich an Gemüse und Ballaststoffen ist und Fleisch, Fast Food und Zuckerprodukte minimiert.
Frau sollte aber ihr Eisen und Vitamin B12 im Blut messen lassen: zu tiefe Werte können auch depressive Symptome (Müdigkeit…) verursachen.

Besonderes beim Mann

Männer hingegen berichten eher von Schlaflosigkeit, motorischer Unruhe und gesteigerter körperlicher Erregbarkeit (auch chronische Schmerzen gehören hier dazu).
„Male Depression“: Eine Depression äussert sich bei Männern oft untypisch. Männer, die ihre Depression „externalisieren“, versinken weder in Schwermut, noch wirken sie niedergeschlagen oder ziehen sich zurück. Sie nehmen zwar einen starken inneren Druck wahr, fühlen sich aber nicht psychisch krank. Vielmehr fallen sie auf, weil sie plötzlich und uncharakteristisch für ihren Charakter verärgert und gereizt sind, rasch die Be-herr-schung verlieren oder hohe Risiken eingehen, etwa im Strassenverkehr. Solche Auffälligkeiten werden – wenn überhaupt – als Persönlichkeitsstörung oder Neurose fehlinterpretiert. Männer kompensieren häufig durch verstärkten Konsum von Suchtmitteln wie Zigaretten und Alkohol, auch Sex und auch durch starke körperliche Aktivitäten wie Sport. Männer drücken ihr gesundheitliches Befinden weniger differenziert aus, verarbeiten ihre Beschwerden weniger introspektiv, funktionieren weiterhin im Alltag und suchen seltener Hilfe als Frauen.

  • vermehrter sozialer Rückzug, der oft verneint wird.
  • berufliches Überengagement, das mit Klagen über Stress maskiert wird.
  • Abstreiten von Kummer und Traurigkeit.
  • zunehmend rigide Forderungen nach Autonomie (in Ruhe gelassen werden).
  • zunehmende Intensität oder Häufigkeit von Wutanfällen, Impulsivität.
  • Hilfe von anderen nicht annehmen: das „Ich kann das schon allein“-Syndrom.
  • ab- oder zunehmendes sexuelles Interesse.
  • vermehrter bis exzessiver Alkohol- und/oder Nikotinkonsum.
  • anderes Suchtverhalten: TV, Sport, Glücksspiel, Internet etc..
  • ausgeprägte Selbstkritik, bezogen auf vermeintliches Versagen, Versagensangst.
  • andere für eigene Probleme verantwortlich machen.
  • verdeckte oder offene Feindseligkeit.
  • Unruhe und Agitiertheit
  • Chronische Schmerzen (siehe dazu diesen eindrücklichen Bericht bei Piqd www.piqd.de/gesundheit/manner-suchen-seltener-nach-hilfe-das-muss-sich-andern „Frauen suchen Hilfe – Männer sterben!“ Das ist der beunruhigende Titel einer Forschungsarbeit an der Universität Innsbruck. Dahinter steckt die These, dass Depressionen bei Männern oft nicht erkannt werden, weil Männer seltener Hilfe suchen.

    Männliche Vegetarier könnten ein höheres Risiko für Depressionen haben als Männer, die Fleisch essen! Darauf deutet eine Studie der USamerikanischen National Institutes of Health (NIH) mit mehr als 9.600 Männern hin: Vegetarische Kost bei Männern mit mehr Depressionen assoziiert.

    Ein Beispiel männlicher Depression: Nick Kyrgios und seine Ausraster!
    Der australische Tennisstar spricht in einem Interview 10/2020 über den ständigen Druck auf der Profi-Tour.

Tennisspieler Nick Kyrgios hat seine Ausraster auf dem Platz mit seinem Kampf gegen innere Dämonen erklärt. Er habe Probleme mit Depressionen, sagte der 25-Jährige. «Ich bin eines Tages in Schanghai aufgewacht, es war vier Uhr am Nachmittag, und ich lag immer noch bei gezogenen Vorhängen im Bett. Ich wollte das Tageslicht nicht sehen», berichtete Kyrgios, der für sein temperamentvolles Verhalten berüchtigt ist. Er sei «an einem einsamen, dunklen Ort» gewesen. «Ich fühlte mich, als wäre niemand an mir als Person interessiert. Alle sahen mich nur als Tennisspieler und wollten mich benutzen. Ich verlor die Freude am Spiel und geriet ausser Kontrolle.» Der ständige Druck habe ihn in die Depression getrieben. Zuletzt im 2020 war Kyrgios im Tennisgeschäft die Stimme der Vernunft im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Er verzichtete auf die Teilnahme an den US und den French Open.

Und seine emotionale Wendung:
Im Verlaufe des Frühjahrs 2022 begann er konstanter zu spielen. «Ich hatte es einfach satt, die Leute im Stich zu lassen», sagte er nun. «Ich war sehr egoistisch. Ich war deprimiert, bemitleidete mich die ganze Zeit. Das wollte ich ändern. Ich schaute die Menschen um mich herum an, ich wollte sie nicht mehr enttäuschen. Jetzt mache ich sie stolz. Jetzt werden nicht mehr so viele negative Dinge über mich gesagt. Ich wollte das Narrativ verändern.»
Die Liebe spielt dabei eine wichtige Rolle. Seit vergangenem Dezember ist er mit einer wunderbaren Frau zusammen. Nach seinen Matchs lässt er kaum eine Chance aus, sich bei ihr im Platzinterview zu bedanken.
Der Unterschied zu früher ist bei Kyrgios, dass er es nun schafft, sich nach seinen Wutausbrüchen und Schimpftiraden wieder schnell zu beherrschen. Er verliert die Kontrolle nicht mehr. Der Ärger geht nicht mehr tief.

Genau dies berichtet auch der Dalai -Lama, dass selbst er manchmal Ärger verspürt – diesem aber keinen grossen Platz gewährt, so dass dieser nicht tief gehen kann und schnell wieder weg ist.

Weiterer prominenter Mann: Kevin-Prince Boateng

Der frühere Fussballprofi fiel während seiner Karriere in eine Depression. Er sagt, wie er diese erlebte – und wie er seinen Stolz beiseitelegen musste, um sie zu überstehen.

Copyright Tagesanzeiger

„Solche psychischen Probleme sind natürlich tricky, weil sie sich ganz langsam in dein Leben schleichen. Es gibt nicht den Moment, in dem du sagst: Hier habe ich die Depression gefühlt. Sie kommt langsam, nimmt dir Kraft und Energie oder deinen Willen, irgendetwas zu tun. Und irgendwann sass ich dann da und war komplett leer.“

Ausdruck einer anderen Krankheit oder einer Medikamenten-Nebenwirkung?!

Immer muss ausgeschlossen werden, dass diese depressive Symptomatik nicht durch organische Erkrankungen bzw. die Einnahme von Arzneimitteln (Anabolika, Interferon, Isotretinoin, Kortikosteroide, Antibabypille, Antiepileptika) oder Drogen  (Alkohol, Amphetamine, Barbiturate, Benzodiazepine, Kokain, Halluzinogene, Narkotika) verursacht werden.

Abzugrenzen ist (v.a. beim älteren Menschen) eine Demenz (Alzheimer z.B.), die auch obige Symptome aufweisen kann. Die Orientierung ist bei der reinen Depression jedoch meist normal und in der Demenz gestört. Und die Psychomotorik ist beim Depressiven oft verändert und bei der Demenz meist normal (Genaueres dazu siehe auch hier).
Ein sehr hilfreiches Instrument dazu ist die Cornell-Skala. Dieser Test umfasst 19 Items, welche Veränderungen der Stimmung, des Verhaltens, vegetativer Funktionen wie Appetit und Schlaf sowie weitere Störungen erfassen. Von anderen Depressionsskalen unterscheidet sich die Cornell-Skala dadurch, dass sie nicht nur durch ein Gespräch mit dem Patienten erhoben wird, sondern sich vor allem auf Beobachtungen der Pflegenden stützt, die im Zeitraum von einer Woche erhoben werden.

Dann auch Neurologische Erkrankungen wie Zerebrovaskuläre Erkrankungen, Epilepsie, Hydrocephalus, Infektionen (inkl. HIV und Neurosyphilis), Migräne, Morbus Huntington, Morbus Parkinson, Morbus Wilson, Multiple Sklerose, Narkolepsie, Neoplasmen (Krebs), Schlafapnoe, Neurologisches Trauma.

Dann Internistische Erkrankungen:
Endokrinologische: Hyperaldosteronismus, Hyper- bzw. Hypoparathyreodismus, M.Cushing, M.Addison, PMS, Schilddrüse (Hypo-, Hyperthyreose).
Infektionen und rheumatische Erkrankungen: Borreliose, HIV, Hepatitis B, Lues; Rheumatoide Arthritis; Polymyalgia rheumatica; Sjögren Syndrom, Systemischer Lupus Erythematodes; Tuberkulose.
Diverse: Porphyrie, Urämie; Vitamindefizite (C, B12, Folsäure, Niacin, Thiamin), Eisenmangel.

Depression (MDD) scheint durch Entzündungen mitverursacht oder verschlechtert (Entzündungsmarker sind regelmässig pathologisch).
(J Neurol Neurosurg Psychiatry 2012;83:495-502: Depression: an inflammatory illness? Rajeev Krishnadas, J.Cavanagh; a review)
Bei der Depression findet man auch meist eine Neuroinflammation, eine Entzündung der Nerven und des Hirns, was in einer grösseren Reizbarkeit für Schmerzen, in Hypersensibilitätszustände mündet. Deshalb findet man zusammen mit depressiven Zuständen auch häufig somatische Symptomenkomplexe, wie Reizdarm, Reizblase, Unterleibschmerzen (Beckenschmerzen), Kopfschmerzen – also Schmerzzustände aller Art.
Man kann sich mit der Neuroinflammation auch erklären, weshalb mässige, aber regelmässige Bewegung die Depression stark bessert, da durch die Muskeltätigkeit ausgelösten Stoffwechselvorgänge die Neuroinflammation wesentlich vermindern.

(Copyright Prof. Jürgen Sandkühler, Zentrum für Hirnforschung, Medizinische Universität, Wien; http://chr.meduniwien.ac.at)

Dein Smartphone macht Dich depressiv.

Generation „Kopf unten“ aufgepasst. Wer sein Smartphone häufig benutzt (also fast jeder), riskiert ernsthafte Depressionen.
Das haben Forscher der University of Auckland festgestellt.
Der Grund ist ganz einfach: Wer viel textet und surft, lässt auch viel den Kopf hängen. Buchstäblich.

Wir bekommen nicht nur bei Selbstwertproblemen und mieser Stimmung eine schlechte Körperhaltung, sondern auch anders herum – eine schlechte Körperhaltung krümmt unseren Geist und dämpft unser Selbstwertgefühl.
Nichts anderes passiert, während wir aufs Handy schauen: Kopf runter, Schultern runter. Nimm einem, der so da steht, das Smartphone aus der Hand und er sieht aus, als wäre er verdammt deprimiert. Dem Gehirn reicht diese Haltung als Signal, es zieht seinen Schluss aus dieser Haltung.
Diese Körperhaltung ruiniert neben der Laune auch unser Selbstvertrauen und unsere Leistungsfähigkeit in Tests sowie die generelle Produktivität, ausserdem fällt es uns so schlechter, uns an gute Dinge zu erinnern, während sich die schlechten nur so aufdrängen.
Über die Therapie dieser Haltungsstörung siehe hier auf dieser Website!

Und… zum Digital-Detox hier in meinem Blog

Die Arbeitswelt macht depressiv

Die Welt des Lebendigen mit seinen Rhythmen und Zyklen (Atmung, Puls, Tag/Nacht, Jahreszeiten…) steht im Widerstreit mit dem modernen Projekt des linearen Fortschritts und des unaufhörlichen Wachstums unserer Wirtschaft, also mit unserer Arbeitswelt. Dies kann depressiv machen und in ein Burnout führen.
Es braucht einen neue Versöhnung dieser gegensätzlichen Prinzipien, eine Arbeitswelt, in der auch die zyklische Regeneration von uns Menschen, aber auch der Natur um uns Platz hat.
Vertiefen >>> Sternstunde Philosophie, 01/24 mit Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph

Spätaufstehen macht depressiv

Um 23% liesse sich das Risiko einer Depression verringern, wenn Spätaufsteher eine Stunde früher aufstünden (und zu Bett gingen). Zu diesem Ergebnis kommen Forscherinnen und Forscher nach der Auswertung von Daten aus mehreren Studien. Würden Spätaufsteherinnen es schaffen, zwei Stunden früher aus dem Bett zu kommen, liesse sich das Risiko weiter senken. Sie sollten tagsüber möglichst viel Licht bekommen. (Iyas Daghlas u.a.: Genetically proxied diurnal preference, sleep timing, and risk of major depressive disorder. JAMA Psychiatry, 2021)

Antibabypille und Depression

Spätestens seit 2016 wird die Depression bei jungen Frauen untrennbar mit der Pille verbunden. Damals zeigte eine grosse Untersuchung aus Dänemark, dass Frauen, die mit der Pille verhüteten, ein um 80 Prozent höheres Risiko hatten, in eine Depression zu rutschen. Die Selbstmordrate war sogar dreimal so hoch wie in der Kontrollgruppe (die absoluten Suizidzahlen lagen mit 71 Fällen unter den 500.000 Befragten allerdings auf sehr niedrigem Niveau).
Den negativen Einfluss auf die Stimmung bestätigte aber zuletzt im Juni 2023 nochmals eine grosse Studie mit britischen Daten: Hier war das Risiko depressiver Symptome bei Patientinnen, die sich in ihrer Jugend für die Pille entschieden hatten, um 130 Prozent erhöht.

Diagnostik-Test

Sich selber testen: PHQ-Test!

…und eher für Fachkräfte:

Sehr hilfreich zur Abgrenzung gegen eine Demenz (Alzheimer) ist die oben beschriebene Cornell-Skala, die sich vor allem auf Beobachtungen der Pflegenden stützt.

Die Hamilton-Skala (Hamilton Rating Scale of Depression – HRSD) ist ein standardisiertes diagnostisches Instrument für den Arzt zur Beurteilung des Schweregrades einer Depression. Die Hamilton Skala dient insbesondere dazu, die Wirksamkeit verschiedener Therapien, z.B. von Medikamenten in Zulassungsstudien, zahlenmässig exakt zu erfassen. Die Skala wurde 1960 von dem deutschstämmigen englischen Psychiater Max Hamilton (”Himmelschein”) eingeführt.
In der ursprünglichen, auch heute noch oft verwendeten Fassung, werden 21 Symptomenkomplexe systematisch vom Untersucher mit Punkten bewertet.
Untersuchungspunkte sind z.B. die depressive Stimmung (Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Wertlosigkeit), Schuldgefühle, Selbstmordgedanken, Schlafstörungen, körperliche Beschwerden, Sexualität, Gewichtsverlust.
Die Bewertung erfolgt aus dem Punktetotal. Je höher die Punktzahl, um so stärker ist die Depression. 66 ist die höchste, 0 die niedrigste erreichbare Punktzahl. Es gibt keinen “Normalwert”, aber es hat sich eingebürgert, ab 10 Punkten von einer leichten, ab 20 von einer mittelschweren und ab 30 von einer schweren Depression zu sprechen.
Die Hamilton Scale in Englisch zum Download – Testinstrument für Ärzte, ungeeignet zur Selbstdiagnose!

Kardiovaskuläre Erkrankungen und Depression

Diese zwei Krankheiten scheinen häufig gekoppelt zu sein. Nach einem Herzinfarkt besteht ein 6-fach erhöhtes Risiko für eine Depression und nach Hirnschlag ein 3-faches oder höher (Lesperance et al. Psychosomat Med 1996; Morris et al. Am J Psychiatry 1993).

Depression fördert gestörte Schmerzwahrnehmung im Darm und damit den Reizdarm

Depression und Angststörungen sind häufige, d.h. in etwa 40% Komorbiditäten des Reizdarmsyndroms. Aktuelle Daten weisen nun in Richtung einer gestörten Verarbeitung viszeraler Schmerzreize in den Gehirnen von IBS-Patienten (Neuroinflammation). Diese Auffälligkeiten sind umso ausgeprägter, wenn Patienten deutlichere Anzeichen einer Depression zeigen. Sie sind weniger gut in der Lage, Schmerzsignale aus dem Darm zentral zu unterdrücken.

Zudem gibt es einen klaren Zusammenhang einer verarmten Darmbesiedlung (ungünstiges Mikrobiom) mit der Depression: siehe hier: Mikrobiom-und-Depressionen.pdf!

Es existiert aber das Paradoxon!
Männliche Vegetarier könnten ein höheres Risiko für Depressionen haben als Männer, die Fleisch essen! Darauf deutet eine Studie der USamerikanischen National Institutes of Health (NIH) mit mehr als 9.600 Männern hin:
Vegetarische Kost bei Männern mit mehr Depressionen assoziiert.pdf

Familiär gehäuft

Es gibt Dispositionen zur Depression (gehäuft in Familien). Es existiert dann der Aspekt einer sog. Vererbung. Ich sage „sogenannt“, da genauso bei einer familiären Situation das Erleben der Nichtkontrolle von Unangenehmen eine Verringerung der Motivation, eine Passivität, eine Hilflosigkeit hervorrufen kann (also doch keine „Vererbung“).

Das erschöpfte Selbst

Die heutige Häufung von Depressionen und Suchtkrankheiten aller Art führt man auch auf die Überforderung des heutigen Menschen zurück, in Erfüllung des Versprechens der autonomen Persönlichkeit jederzeit für alles selbst verantwortlich sein zu sollen. Depressiv wird der Mensch demnach nicht, weil ihm Möglichkeiten verwehrt bleiben, sondern weil er die Illusion ertragen muss, dass ihm alles möglich ist. Unter diesem Druck fällt er empfindungslos zusammen und explodiert in der Sucht nach Reizen.
Drückte Menschen früher eher die Tatsache nieder, dass sie keine (oder kaum eine) Wahl hatten – wobei sie eben darin Statussicherheit, eventuell auch Seelenruhe finden konnten – wird nunmehr die Wahl die Norm und die Unsicherheit ihr Preis.

Bewegungsarmut und Depression

Sicher 40% aller leichten Depressionen kommen ursächlich aus einem Bewegungsmangel im Alltag! Das Risiko ist um das Dreifache verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung erhöht. Weiterlesen >>>

Endogen?

„Endogene“ Depression (also von innen kommend) heisst vorerst mal: nicht induziert (z.B. durch andere schwere psychische oder körperliche Krankheit), nicht postinfektiös (nach schwerer Infektionskrankheit), nicht traumatisch (z.B. frühkindliche Trennung) – nicht „reaktiv“ also.
„Endogen“ wurde auch wieder populär, da der Hirnstoffwechsel von Depressiven offensichtlich anders funktioniert und dies der Ansatz der antidepressiven Medikamente ist, die diesen Stoffwechsel wieder normalisieren und damit der Mensch überhaupt wieder fähig ist, die Denkmuster zu verändern. Diese Hirnstoffwechselstörung als Ursache und nicht als sekundäres Phänomen zu sehen, ist aber rein hypothetisch.
Wir als Betreuer müssen die Hoffnung übernehmen, weil wir wissen, das Medikamente und Psychotherapie helfen können. Wir müssen die Frequenzen wieder etwas zum schwingen bringen („es gilt das Herz zu rühren, des Königs steinern Herz…“). Denn die Sinne etwas wahrzunehmen, sind beim Depressiven immer noch offen – im Gegensatz zum Geist.

Burnout und Depression

Es ist umstritten, wo die Definition eines „Burnout“ beginnt und wo die einer „Depression“ aufhört. Überschneidungen sind gross – Unterscheidung nur partiell möglich. Die Prophylaxe beider Zustände ist ähnlich – die Therapie zum Teil und betrifft beim Burnout häufiger in Arbeitssituationsverbesserungen: siehe dazu die eigene Seite über das „Burnout“ auf dieser Website.

Therapieansätze

Was tun?

Als Hausarzt interessiert mich zuerst mal:
Wie steht es um Ihre engsten Beziehungen?
Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Wohnsituation?
Und wie am Arbeitsplatz?
Dies wären die drei wichtigsten Bereiche des Lebens, die zu körperlicher und seelischer Gesundheit beitragen. Stimmt es hier nicht, kann eine Depression die Folge sein.
Es sind auch vor allem in obigen drei Dingen die eigenen Bedürfnisse, der „Innere Ruf“, deren Nicht-Befolgen in eine Depression münden kann!

Bei einer Depression kommt es darauf an, sich gerade gegenteilig zu verhalten wie mit Depression. Also etwa so:

  • Kopf rauf. Blick nach vorn.
  • Sorgfältige Kleidung tragen. Sich schön machen.
  • Musik. Singen unter der Dusche – und ausserhalb (siehe unten).
  • Sport. Rausgehen.
  • Mit allen möglichen Leuten zu Spaziergängen abmachen.
  • Ein Internet/Social Media welches mir dient und von dem ich nicht beherrscht werde!

Chorsingen hilft gegen Depressionen. Dies zeigt eine Übersichtsstudie der University of Queensland, Australien. Die Forscher analysierten dazu sieben Studien und fanden heraus: Durch das Gruppensingen fühlten sich die Teilnehmer weniger psychisch belastet. Regelmässiges Chorsingen macht Menschen emotional stärker und gibt ihnen Lebenssinn.
(„The European Journal of Health“, 2018)

  • Immer sollten persönliche, soziale Missstände aufgedeckt, angeschaut und verändert werden. Auch deshalb ist eine Gesprächs- oder andere Psychotherapie (auch eine Paartherapie kann sehr förderlich sein) bei einem Psychologen/-In oder psychotherapeutisch ausgebildeten Psychiater oder Hausarzt sehr erlösend. Ihr Hausarzt kennt gute Adressen oder kann Ihnen auch selbst mit Gesprächen und ev. sogar Medikamenten helfen. Er sollte auch seltene Ursachen, die zu denselben Symptomen führen können, ausschliessen (z.B. Veränderungen des Hirns).
    Schwerpunkte der Paartherapie bei Depression ist die Förderung der Kohäsion des Paares, der gegenseitigen Unterstützung, der Kommunikation der Partner, der gegenseitigen Akzeptanz und der Unabhängigkeit/Autonomie – aber auch der Abbau von ambivalentem Verhalten, Drohungen bezüglich Trennung, abschätziger Kritik/Abwertung, inadäquater Unterstützung und der Monotonie in der Beziehung (siehe auch meine Seite über „besseren Sex“!).
    Zur Persönlichkeitstheorie siehe hier oben >>>
    .
  • Bezwingen Sie negatives Denken:
    Alle Menschen haben die Tendenz, mehr über schlechte Erfahrungen nachzudenken als über positive. Das ist eine evolutionäre Anpassung – das Überwinden von gefährlichen oder verletzenden Situationen, die uns im Laufe des Lebens begegnen (Mobbing, Trauma, Verrat), hilft uns, sie in Zukunft zu vermeiden und in einer Krise schnell zu reagieren.
    Aber das bedeutet, dass Sie etwas härter arbeiten müssen, um Ihr Gehirn zu trainieren, negative Gedanken zu überwinden. Und so geht’s:
    Versuchen Sie nicht, negative Gedanken zu stoppen.
    Wenn Sie sich sagen: „Ich muss aufhören, darüber nachzudenken“, werden Sie nur noch mehr darüber nachdenken. Machen Sie sich stattdessen Ihre Sorgen zu eigen. Wenn Sie sich in einem negativen Kreislauf befinden, benennen Sie ihn: „Ich mache mir Sorgen um Geld.“ „Ich bin besessen von den Problemen auf der Arbeit.“ Behandeln Sie sich selbst wie einen Freund.
    Wenn Sie sich selbst gegenüber negativ eingestellt sind, fragen Sie sich, welchen Rat Sie einer Freundin geben würden, die niedergeschlagen ist. Versuchen Sie nun, diesen Rat auf sich selbst anzuwenden. Stellen Sie Ihre negativen Gedanken in Frage.
    Sokratisches Hinterfragen ist der Prozess des Hinterfragens und Änderns irrationaler Gedanken. Studien zeigen, dass diese Methode Depressionssymptome reduzieren kann. Das Ziel ist, Sie von einer negativen Denkweise („Ich bin ein Versager.“) zu einer positiveren zu bringen („Ich habe in meiner Karriere viel Erfolg gehabt. Dies ist nur ein Rückschlag, der nicht auf mich zurückfällt. Ich kann daraus lernen und besser werden.“) Hier sind einige Beispiele für Fragen, die Sie sich stellen können, um negatives Denken herauszufordern. Schreiben Sie zunächst Ihren negativen Gedanken auf, z. B. „Ich habe Probleme bei der Arbeit und zweifle an meinen Fähigkeiten.“
    Fragen Sie sich dann: „Was sind die Beweise für diesen Gedanken?“
    „Beruht er auf Fakten? Oder auf Gefühlen?“
    „Könnte ich die Situation falsch interpretieren?“
    „Wie könnten andere Menschen die Situation anders sehen?
    „Wie würde ich diese Situation sehen, wenn sie jemand anderem passiert wäre?“ Die Quintessenz: Negatives Denken passiert uns allen, aber wenn wir es erkennen und dieses Denken hinterfragen, machen wir einen grossen Schritt in Richtung eines glücklicheren Lebens.

    Dann machen Sie die »Was gut gelaufen ist«-Übung:

    Es gibt gute evolutionäre Gründe dafür, dass die meisten von uns nicht annähernd so geübt darin sind, der guten Ereignisse eingedenk zu sein, wie sie im Analysieren unglücklicher Vorfälle sind. Jene unter unseren Vorfahren, die viel Zeit damit verbracht haben, sich im Sonnenschein angenehmer Ereignisse zu räkeln, während sie sich besser auf Schlimmes vorbereitet hätten, haben die Eiszeit nicht überlebt. Um also die natürliche Neigung unseres Gehirns, sich auf Katastrophen einzustellen, überwinden zu können, müssen wir an der Fähigkeit des Denkens an Dinge, die gut gelaufen sind, arbeiten und sie einüben. Nehmen Sie sich in den folgenden Wochen jeden Abend, bevor Sie ins Bett gehen, zehn Minuten Zeit für diese Übung. Schreiben Sie drei Dinge auf, die heute gut gelaufen sind und warum sie gut gelaufen sind. Sie können ein Tagebuch oder Ihren Computer dazu verwenden, diese Ereignisse festzuhalten, aber es ist wichtig, dass Sie eine greifbare Aufzeichnung besitzen. Die drei Dinge müssen nicht weltbewegend wichtig sein (»Mein Mann hat heute auf dem Heimweg mein Lieblingseis zum Nachtisch besorgt«), aber sie können das natürlich auch sein (»Meine Schwester hat heute einen gesunden Jungen zur Welt gebracht«). Beantworten Sie nach der Benennung des positiven Ereignisses auch die Frage: »Warum ist es dazu gekommen?« Wenn Sie zum Beispiel geschrieben haben, dass Ihr Mann Eiscreme besorgt hat, dann notieren Sie: »Weil mein Mann manchmal sehr aufmerksam ist« oder »Weil ich daran gedacht habe, ihn anzurufen und ihn daran zu erinnern, in den Supermarkt zu gehen«. Oder wenn Sie geschrieben haben: »Meine Schwester hat gerade einen gesunden Jungen zur Welt gebracht«, dann könnten Sie als Grund angeben: »Weil der liebe Gott es gut mit ihr meint« oder »Weil sie während der Schwangerschaft alles richtig gemacht hat«.

    Darüber zu schreiben, warum die positiven Ereignisse in Ihrem Leben geschehen sind, mag sich zuerst seltsam anfühlen, aber bleiben Sie eine Woche lang dabei. Es wird immer leichter werden. Es ist wahrscheinlich, dass Sie nach etwa sechs Monaten geradezu süchtig nach dieser Übung sind und weniger deprimiert und glücklicher sein werden.
    (aus:
    Flourish – wie Menschen aufblühen: Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens, Martin Seligmann)

  • Das beste antidepressiv wirksame Medikament ist die ERNÄHRUNG!
  • Nichts bringt besser positive Gefühle zum Vorschein als Essen, das mit Liebe gekocht wurde.
  • Vegetarische Ernährung verbessert stark unser Mikrobiom (Darmbesiedlung mit Bakterien) und damit eine Depression! Dies gilt vielleicht für Männer nicht!
    Dabei aber das Eisen und Vitamin B12 im Blut im Auge behalten, da eine Mangel Depressions- ähnliche Symptome (Müdigkeit…) machen kann.
  • Kurzfasten, optimal als 16:8 wirkt antidepressiv, wahrscheinlich über eine stark antientzündliche Wirkung (gegen die Neuroinflammation).
  • Viel Fisch, aber auch Walnüsse, Oliven-, Raps- und Leinöl in der Ernährung stabilisiert auch die Seele. Ein niedriger Omega-3-Fettsäuren-Spiegel führt zu Serotoninmangel, was depressive Störungen hervorrufen kann.
    Ein Therapieversuch mit Fischöl-Kapseln jedoch scheint nach neusten Studien sogar kontraproduktiv! Eine Studie mit rund 18 ​000 Probanden aus dem Jahr 2021 gezeigt, dass bei über 50-jährigen Personen, die Omega-3 mit Fischölkapseln supplementierten, das Risiko einer Depression anstieg.
    V.a. in der Schwangerschaft hat die Mutter einen besonders hohen Omega-3-Bedarf – das Depressionsrisiko ist dann auch massiv erhöht. Fettiger Meerfisch und Leinöl (jeden Tag ein bis zwei Esslöffel) sind also in der Schwangerschaft sehr wichtig.
  • Eine Mediterrane Diät (Vollkornprodukte, Gemüse, Hülsenfrüchte, Früchte, Fisch, low-fat und ungesüsste Milchprodukte, mageres rotes Fleisch, Geflügel, rohe ungesalzene Nüsse, Eier, Olivenöl, …), bis 2 Gläser Wein pro Tag) wirkt prophylaktisch und auch therapeutisch gegen eine Depression! (http://www.evimed.ch/journal-club/artikel/detail/therapie-einer-depression-mit-diaet/)
  • Wer im Alter Depressionen vorbeugen möchte, sollte grünen Tee trinken – vier Tassen pro Tag halbieren das Risiko nahezu! (Takahashi H, Am J Clin Nutr 2009; 90: 1615-1622)
  • Dunkle Schokolade: Neuere Studien zeigen eine klar antidepressive Wirkung. „Das Problem ist, wenn man Menschen sagt, dunkle Schokolade sei gut, dann essen sie wahrscheinlich eine Menge dunkler Schokolade anstelle von Obst und Gemüse. Vor allem ist aber Bewegung und eine gute, ausbalancierte Ernährung wichtig“, betont Riba im Begleittext der Studie.
  • Mehr über Ernährung und Depression hier in meinem Blog: http://walserblog.ch/2015/10/09/brainfood/ !
    .
  • Depressionen und psychodelische Drogen wie Ketamin!
    .
  • Der Verzicht auf die eigene Bedürfnis kann in eine DEPRESSION führen!
    Fragen nach den Ausnahmen: kein Problem ist ständig da oder immer gleich stark. Also Fragen nach problemfreien oder problemarmen Zeiten…
    Hier ist besonders wichtig, welche Teile des Lebens noch gelingen, wo es Inseln des Erfolges und der Zufriedenheit gibt. Was macht trotz Depression noch Freude oder was hat früher Freude bereitet (Freudentagebuch!)?!
    Welche positiven Effekte hat die Depression im System, im Lebenszusammenhang?
    z.B. Ich bekomme eine Pause, wenn ich überfordert bin… ich werde in Ruhe gelassen…
    Ich werde endlich beachtet und ein wenig versorgt… die anderen verlangen nicht mehr soviel von mir…
    Ich kann erleben, wer wirklich für mich da ist, wer mich wirklich so liebt, dass er auch so zu mir steht…
    Depressives Verhalten führt oft dazu, dass andere mehr Verantwortung übernehmen, mehr Rücksicht nehmen… So tritt Entlastung für den Leidenden auf…
    Eine Art Notbremse, ein Frühwarnsystem…
    Normalerweise kann ich nicht Nein sagen – jetzt geht es nicht anders…

Lösungsorientiert ist auch die „Wunderfrage„: Wenn über Nacht ein Wunder passieren würde und das Problem würde wie weggezaubert aus dem Leben verschwinden: Was wäre morgen anders?
Woran würdest Du nach dem Aufwachen als Erstes bemerken, dass das Problem weg ist? Ganz konkret?
Was würdest du am Morgen danach als Erstes tun? Was dann?
Wer würde als Erster bemerken, dass das Problem weg ist? Wer dann?
Was würdest du am meisten vermissen in deinem Leben, wenn das Problem plötzlich weg wäre?
Wenn du einen Grossteil der Probleme bewältigt hast, wie sehe dann dein Leben aus, was würdest du anders machen als heute?
Woran würden die anderen eine Behebung/Verbesserung des Problems festmachen?
Wer würde am meisten überrascht sein?
Wer würde stark, wer schwach und wer gar nicht darauf reagieren, wenn es weg wäre? Wie stark würde jeder reagieren? Kannst du dies auf einer Skala von 1 bis 10 einschätzen (je höher der Wert, desto grösser die Reaktion)?
.

.

  • Achtsamkeitstraining, z.B. die Mindfulness-BasedCognitiveTherapy (MBCT) kann den Betroffenen einen Weg weisen, ihren Ängsten und depressiven Episoden entgegenzutreten, sich selbst aus den düsteren Gedankenzirkeln zu befreien und vor Rückfällen zu schützen. Achtsamkeit hilft, satt im Tun-Modus, im Sein-Modus offen zu sein für die Erfahrung im jeweiligen Augenblick, ohne sie verändern zu wollen.
    Literatur dazu: Petra Meibert: Der Weg aus dem Grübelkarussel. Achtsamkeitstraining bei Depression, Ängsten und negativen Selbstgesprächen. Das MBCT-Buch. Kösel, 2014.
    Siehe dazu auch die zeitliche Zusammenhang zwischen Depression und Angst – und der Ausweg über die „Mitte“, über das „Hier und Jetzt“!
    .
  • Sicher 40% aller leichten Depressionen kommen ursächlich aus einem Bewegungsmangel im Alltag! Das Risiko ist um das Dreifache verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung erhöht.
    Hier wird auch immer als zentrales Thema, die Besserung einer Neuroinflammation durch Bewegung angesehen.
    Was also bei Depressionen immer auch positiv wirkt sind tägliche Waldläufe, Wanderungen oder andere körperliche Betätigungen (Joggen: siehe hier!) (30 Minuten täglich, gemäss British Journal of Sports Medicine, Bd.35, S.114 – siehe auch Lawlor DA, Hopker SW. BMJ 2001; 322: 763-7).
    Die Dosis macht‘s! Sport scheint die seelische Gesundheit deutlich zu verbessern – doch zu viel bewirkt das Gegenteil! In einer Querschnittsstudie zeigten 3 bis 5 Trainingseinheiten mässiger Intensität pro Woche zu je 45 Minuten die besten Ergebnisse. (Sammi R. Chekroud und Kollegen in Lancet Psychiatry, 2018). Mehr war viel schlechter!
    Bei 44% aller leichten Depressionen ist der Bewegungsmangel sogar die Ursache!
    .
    Eine Metaanalyse mit 218 Originalarbeiten (14 170 Teilnehmende, 495 Behandlungsarme) verglich den antidepressiven Effekt verschiedener Sportarten gegenüber herkömmlichen Behandlungsoptionen (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer [SSRI], Psychotherapie). Den besten Erfolg zeigten Spazieren («walking»), Joggen, Yoga und Krafttraining, wobei die Wirksamkeit mit der Intensität der Aktivität korrelierte. Insgesamt waren die erzielten Behandlungseffekte vergleichbar mit psychotherapeutischen und pharmakologischen Ansätzen, auch schnitt die Kombination von SSRI und Aktivität besser ab als die isolierte medikamentöse Therapie. Die Studie unterstreicht damit den wichtigen Stellenwert körperlicher Aktivität in der Behandlung einer Depression. (BMJ. 2024, doi.org/10.1136/bmj-2023-075847)
  • Schaukeln hilft auch: Es sollten aber schon ein bis zwei Stunden täglich sein (Schaukelstuhl, etc.
  • Yoga ist nicht nur gut für den Körper, sondern es ist auch gleich wirksam wie eine Psychotherapie. Zu diesem Ergebnis kommen Psychologen der Universität Jena. Sie werteten 25 Studien mit über 1300 Personen aus. Alle von ihnen machten klassisches Hatha-Yoga mit Atem- und Körperübungen, um psychische Störungen wie Depression, Süchte oder Ängste zu behandeln.(Deutsches Ärzteblatt,2016 – Studie aus Jena)
  • Neu wird auch wieder „partieller Schlafentzug“ als äusserst erfolgreich beschrieben: Während der zweiten Nachthälfte müssen sie wach bleiben (d.h. Wecker auf 2 – 3 Uhr stellen, falls sie um 22 oder 23 Uhr ins Bett gehen). In einer Woche wiederholen sie dies in drei Nächten und stoppen dann wieder. Dies ergibt bereits in 2/3 aller Fälle eine anhaltende Besserung. Bereits nach der ersten Nacht merken sie übrigens genau, ob diese Methode bei ihnen anschlägt, denn schon dann sollte eine klare stimmungsaufhellende Wirkung vorhanden sein.
    Der Nachteil dieser Therapie liegt auf der Hand: die Müdigkeit.
    An der Freiburger Uniklinik wird deshalb ein anderes Verfahren erprobt: der Schlafentzug mit anschliessender Schlafphasenverschiebung. Nach einer vollständig durchwachten Nacht dürfen die Patienten täglich sieben Stunden schlafen, allerdings zu vorgezogenen Zeiten: in der ersten Nacht von fünf Uhr nachmittags bis Mitternacht, in der zweiten von sechs bis eins usw., bis sie nach einer Woche wieder gewöhnliche Schlafenszeiten erreicht haben.
    Bei Depressiven scheint in irgendeiner Weise die Synchronisierung von Schlaf-Wach-Zyklus und inneren Rhythmen gestört zu sein. Dafür gibt es verschiedene Anhaltspunkte: Viele Patienten fühlen sich morgens besonders mies und abends relativ gut. Diese Leute sprechen übrigens besonders gut auf Schlafentzug und Schlafphasenverschiebung an!
    Ausserdem wirkt der partielle Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte etwas besser als in der ersten. Und Vormittagsnickerchen nach einer durchwachten Nacht führen häufiger zu einem Rückfall in die Depression als Nachmittagsnickerchen.
    Dies alles bestätigt eine Hypothese, dass es in den frühen Morgenstunden eine kritische Phase gibt. Schläft ein depressiver Mensch zu diesem Zeitpunkt, wird eine Art Schalter umgelegt, der die Stimmung verschlechtert. Bleibt er hingegen in der kritischen Phase wach, umgeht er den Absturz in die Schwermütigkeit.
    .
  • Lichttherapie: Winterdepressionen, d.h. depressive Verstimmungen in der sonnen- und lichtarmen Jahreszeit (auch saisonale Depression genannt, seltener existiert also auch eine Sommerdepression!) kann durch morgendliches (zwischen 5:30 und 9:00) anstrahlen von 2’500 (für ein bis zwei Stunden) bis 10’000 (während 30 Minuten) Lux-Lampen (weisse Leuchtstoffröhren) sehr positiv beeinflusst werden. Bereits nach 10 bis 14 Tagen hebt sich die Stimmung. Es wird empfohlen, eine Lichttherapie solange durchzuführen, bis die Frühjahrssonne wieder mehr Licht liefert. (z.B. Archives of general Psychiatry, Vol. 58, No.1 (2001), S.69 – 75).

    Eine Möglichkeit „natürlicher“ Lichttherapie besteht darin, dass die Morgendämmerung simuliert wird: noch während die Betroffenen schlafen, wird ein Licht eingeschaltet und über ein bis zwei Stunden langsam heller gemacht, bis zur ungefähren Aufwachzeit die volle Lichtstärke erreicht ist.
    Winterdepressionen sind (im Gegensatz zur selteneren Sommerdepression) häufig von so genannten atypischen Depressionssymptomen begleitet; dazu gehören zum Beispiel vermehrter Schlaf und verstärkter Appetit (vor allem für Süsses) mit Gewichtszunahme.
    Auf www.chronobiology.ch findet sich eine Liste, welche die Schweizer Institutionen angibt, in denen eine Lichttherapie möglich ist. Diese Seite liefert auch weitere nützliche Infos, wie z.B. Adressen von Firmen, die Tischgeräte für die Heim-Lichttherapie vertreiben.
    Gemäss neueren Studien hilft die Lichttherapie aber auch sämtlichen über 60jährigen mit Major Depression: 1 Stunde morgens mit ca. 7500 Lux! (Arch Gen Psychiatry 68(1):61-70, January 2011 © 2011 to the American Medical Association; Bright Light Treatment in Elderly Patients With Nonseasonal Major Depressive Disorder-A Randomized Placebo-Controlled Trial. Ritsaert Lieverse, Eus et Al.)
    .
  • Botulinumtoxin unter die Haut zwischen die Augen gespritzt, dort wo sich die Zornesfalten bilden, kann eine (auch schwere) Depression stark verbessern.
    Als Begründung wird die sogenannte Facial-Feedback-Hypothese angesehen, eine gegenseitige Wechselwirkung von Emotionen und der Mimik (die umgekehrte Abhängigkeit ist ja altbekannt). Als Beispiel sind die Versuche bekannt, dass Menschen Comics anschauen und dabei einen Stift nur mit den Zähnen und nicht mit den Lippen im Mund halten. Diese Aktivierung der Lachmuskeln macht, dass die Comics lustiger empfunden werden!
    Diese Rückkoppelung vermag Botulinumtoxin nun offenbar zu unterbrechen.
    (J Psychiatr Res. 2012 Feb, Facing depression with botulinum toxin: A randomized controlled trial. Wollmer)
    .
  • Bei älteren Menschen mit Depression wirkt auch sehr gut:
    – mehr Kinobesuche
    – mehr Konzerte, Opern, Theater,…
    – mehr Kunstausstellungen!
    .
  • Medikamente Antidepressiva:
    Antidepressiv wirkende Medikamente (SSRI) können allein genommen oder mit Psychotherapie kombiniert werden. Sie sind laut umfassenden und neueren Studien leider nicht so wirksam, wie sie dargestellt werden. Psychotherapie ist bei leichten und mittelgradigen Depressionen wirksamer, als Medikamente es sind. Das gilt nicht unbedingt für die Akutbehandlung, wohl aber für die Wirkung auf lange Sicht.. Medikamente führen nach Absetzen häufiger zu einem Rückfall. Das Risiko für eine erneute depressive Episode steigt nach erfolgreicher Behandlung durch ein Medikament allein um das Drei- bis Fünffache. Bei frühzeitiger psychotherapeutischer Behandlung sinkt aber das Risiko für weitere Depressionen (Robert DeRubeis, Nature Review Neuroscience).
  • Antidepressiva können die Plastizität erhöhen – unter bestimmten Bedingungen:
    Auch herkömmliche Antidepressiva erhöhen die Plastizität im Gehirn, wie Forscher beim Ketamin gefunden haben, und zwar, indem sie an Kalzium-Kanäle von Nervenzellen andocken. Sie binden ausserdem – genauso wie Ketamin – an spezielle Rezeptoren der Hirnzellen und verändern deren Gestalt, sodass ein bestimmter Wachstumsfaktor besser andocken kann. Er sorgt dafür, dass mehr dieser Rezeptoren in die Hülle der Nervenzellen eingebaut werden und verstärkt so die Übertragung von Signalen (Cell: Casarotto et al., 2021).
    Und schliesslich könnte die neue Hypothese sogar eine Erklärung dafür liefern, warum Antidepressiva kein Allheilmittel sind und nicht in jedem Fall helfen. Dass sich Hirnzellen besser verschalten, ist nämlich nur die Grundbedingung für die Genesung. Medikamente können ein Fenster öffnen. Aber damit sich wirklich etwas zum Guten verändert, muss es draussen etwas Neues zu sehen geben.
    Zum Umlernen braucht es beides, Plastizität im Hirn und neue Erfahrungen: Aktivitäten, die Freude bereiten; Menschen, die einem guttun. Und manchmal eine Psychotherapie.
    Tatsächlich wirkt die Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie besser als jede der Behandlungen allein, das zeigen verschiedene Metaanalysen (World Psychiatry: Cuijpers et al., 2020,Depression and Anxiety: Cuijpers et al., 2009, Psychological Medicine: Kamenov et al., 2017 ). Diese Situation wird mit einer Autopanne verglichen: Antidepressiva können das Auto reparieren, aber welche Richtung die Patienten danach einschlagen, hängt von vielen Faktoren ab. Eine Psychotherapie wirkt wie eine Beschilderung, die den Weg zur Genesung zeigt.
  • Die Erkenntnisse der Forscher fügen sich allmählich zu einem neuen Bild der Depression – und der Effekte von Antidepressiva: Die Medikamente wirken vermutlich gar nicht per se stimmungsaufhellend, sondern ermöglichen vor allem Veränderung, indem sie Menschen empfänglicher für Einflüsse von aussen machten.
    Das würde auch den merkwürdigen Befund der Wissenschaftlerinnen vom Istituto Superiore di Sanità erklären: Wenn das soziale Umfeld stabil ist, können die Medikamente dessen positiven Wirkungen verstärken. Wenn aber Beziehungen und Sicherheit fehlen, dann können die Pillen auch diese negativen Einflüsse verschärfen!
    Umso wichtiger ist es also, dass besonders Patientinnen und Patienten in schwierigen sozialen Situationen nicht nur Antidepressiva, sondern auch Unterstützung von Psychotherapeuten erhalten. Die Realität sieht jedoch anders aus: Gerade Kranke mit niedrigem Einkommen, einem geringen Sozialstatus und ohne Arbeit bekommen häufiger Psychopharmaka auf Dauer verschrieben. Und wer weniger gebildet ist, nimmt seltener eine Psychotherapie in Anspruch.
    Zudem leiden Menschen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung ohnehin fast doppelt so häufig unter Depressionen wie Menschen mit einem hohen sozialökonomischen Status.
    Diejenigen, die es ohnehin nicht leicht haben, trifft es also gleich dreifach schwer: Sie bekommen eher eine Depression, ihnen helfen Antidepressiva offenbar im Schnitt weniger gut und sie erhalten seltener eine Psychotherapie. Höchste Zeit, nicht ein vermeintliches chemisches Ungleichgewicht zu behandeln – sondern ein soziales.
    (zitiert aus der ZEIT, 28. März 2023, von Stefania Kara)
  • Antidepressiva nützen nur, wenn der Patient diese auch will und sich eine gute Wirkung erhofft!
  • Medikamentöse antidepressive Therapie beginnt man mit niedriger Dosierung, eventuell zusammen mit Tranquilizer oder Hypnotikum, gibt möglichst rasch eine mittlere Dosis und wechselt das Mittel, wenn keine Zustandsverbesserung nach 3-4 Wochen und Maximaldosis während 10-14 Tagen.
    Auch ein hochdosiertes Johanniskraut-Extrakt über mindestens 3 und mehr Monaten eingenommen, kann wesentlich erleichtern. (Achtung: zahlreiche Interaktionen, die wahrscheinlich zum Teil auf Induktion CYP-450-abhängiger Enzyme beruhen, sind inzwischen beschrieben: erniedrigte Plasmaspiegel von oralen Antikoagulanzien, Digoxin, Ciclosporin, Theophyllin und trizyklische Antidepressiva, Durchbruchblutungen unter desogestrolhaltigen Antibabypillen und Symptome eines Serotoninsyndroms bei Kombination mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (neuere Antidepressiva). Zwei Wochen Abstand zwischen Einnahme von Johanniskraut und den Antidepressiva, aber auch vor Operationsnarkosen (!) erscheint ratsam. (arznei-telegramm 1/2000, 15)
  • Psychedelika (Ketamin) gegen Depressionen
    Wie wirkt dies?
    Der Körper wird leicht und schwebt.
    Das unaufhörliche Rasen negativer Gedanken stoppt. Plötzlich kann man sich auf ein Detail im Raum oder einen kleinen Teil seines Körpers konzentrieren.
    Es ist erleichternd, einfach mal eine Pause vom eigenen Kopf zu haben.
    Diese Leichtigkeit, diese Pause zu erfahren, ist wichtig für Patienten, die schon monatelang depressiv sind. Ketamin zeigt ihnen, dass dieses gute Gefühl noch in ihnen steckt, nur durch die Depression verschüttet.
    Man muss verstehen, was eine Depression mit der Lernbereitschaft des Menschen zu tun hat. Lernen ist eine wichtige Aufgabe des Gehirns. Wenn ich viel Französisch spreche, werde ich mit der Zeit immer besser. Das funktioniert, weil sich die Zellen im Hirn neu verdrahten.
    Die Depression dagegen ist eine Fehlfunktion des Lernens. Patienten kreisen immer um das gleiche Problem oder kommen nicht über ein Trauma hinweg. Heilung bedeutet, dass sie lernen, aus diesen Gedankenschleifen auszubrechen und eine andere Sichtweise auf ihr Problem einzunehmen.
    Man nimmt an, dass Psychedelika bei diesem Lernprozess helfen, indem sie die Neuroplastizität erhöhen. Das bedeutet: Die Nervenzellen werden kommunikativer. Ihre Zellfortsätze verlängern und verästeln sich. Sie wachsen zu Bäumchen und nehmen Kontakt mit Nachbarn auf.
    Wenn die Nervenzellen Bäume sind, so sind Psychedelika ihr Dünger. Sowohl Ketamin als auch klassische Psychedelika sorgen dafür, dass die Zellen der äusseren Hirnrinde ein Molekül herstellen, das die Nervenzellen anregt, zu wachsen und sich zu vernetzen. Unklar ist noch, wie lange die erhöhte Neuroplastizität anhält.
    Aber selbst wenn der Patient nur ein begrenztes Zeitfenster gewinnt, um aus der Blockade, die die Depression auslöst, herauszufinden, reicht das, um eine neue Erfahrung zu machen. Traut er sich wieder aus dem Haus, dann hat bereits eine Verhaltensänderung, ein Lerneffekt stattgefunden. Und das motiviert, weiter an der Depression zu arbeiten.
    Man kann sich das auch so vorstellen: Bei einer Depression laufen die Gedanken wie auf einer vorgespurten Loipe im Schnee. Und das immer wieder in der gleichen Spur. Einmal drin, kommt man schwer wieder raus. Psychedelika verwischen diese Loipe. Sie erlauben den Gedanken, neue Spuren durch den Schnee zu finden.

…und dann noch:

  • Viele Internetseiten versprechen Hilfe bei depressiven Störungen. Doch welche wirken? Zu den von der Stiftung Warentest als wirksam getesteten Angeboten zählt moodgym.de.
    Fünf Übungsblöcke auf verhaltenstherapeutischer Basis helfen bei leicht depressiver Symptomatik, neue Wahrnehmung zu trainieren und unterstützendes Verhalten zu lernen, beispielsweise belastende Gedankenmuster durch neue zu ersetzen.
  • Depression & Erschöpfung:
    kostenlose Onlinetrainings von Universitäten-Gruppe:
    https://geton-training.de/: bei Tumorerkrankungen; bei koronaren Herzkrankheiten; bei Diabetes; bei Rückenschmerz und Arbeitsunfähigkeit
  • und ein interessantes Buch zum Thema:
    David Servan-Schreiber: Die neue Medizin der Emotionen: Stress, Angst, Depression: Gesund werden ohne Medikamente, 2003, Goldmann.
  • Liebe und Kunst helfen uns, unsere Melancholie in gute Bahnen zu lenken – das Glück, traurig zu sein: Joke J. Hermsen, Melancholie in unsicheren Zeiten. HarperCollins, Hamburg 2021
  • Randolph Neeses Buch „Good Reasons for Bad Feelings lesen.
  • UNTER DER GLASGLOCKE:
    Depressionen sind eine Krankheit der Lebenswelt, eine des Leibes, des Raumes, der Zeit und mithin der Intersubjektivität. Depressionen haben heisst keine Zukunft zu haben, weder denken noch fühlen zu können, dass sich an der konturlosen Unzeit, die man sein Leben nennt, irgendetwas ändert. Es heisst, sich nicht da-seiend, nicht präsent zu fühlen, die Gegenwart als zähe Dauer zu erfahren – die Zeit zu erleben, anstatt sie zu leben – , und von einer lastenden Vergangenheit bedroht, beschämt und grausam erniedrigt zu werden. Was in vermeintlicher Nähe geschieht, fühlt sich unendlich fern an. Die Welt ist stumm, sie spricht nicht zu dir, oder in bedrohlicher Weise. Das Bewusstsein für jeden Horizont ist zerrüttet, das Angebot, das einem die Welt offeriert, verknappt sich auf radikale Weise. Potentialitäten verheissen nichts mehr, versprechen nur Schlimmeres vom Gleichen.
    (Christoph David Piorkowski veröffentlicht am 29 Juni 2022  in PhilosophieMagazin)

Die beste Nachricht kommt ganz zum Schluss: Depressionen können sehr schwer sein – aber sie sind fast immer heilbar. Den allermeisten Menschen geht es irgendwann wieder gut, auch wenn sie sich das in ihren dunkelsten Tagen nicht vorstellen können.

Das Leben wird wieder hell und leicht.

Veröffentlicht am 17. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
11. September 2024

Kaffee

Unsere Suchtpolitik – das Resultat von Moral, Business und Macht

Falls Sie gerne Kaffee trinken, hätten Sie vor 300 Jahren in Zürich etwas Verbotenes getan. Der Stadtrat verbot „das Trincken von Café by zwänzig Bazen Buss“, da es den Geist verwirre. In Istanbul drohten bei Kaffeekonsum gar Verstümmelung und Todesstrafe.
Dazu einfach einen kurzen Blick auf die heutigen Drogenverbote (Cannabis, Ecstasy, LSD, …), hinter denen statt primär gesundheitliche Überlegungen, vor allem machtpolitisch motivierte Gründe stehen.
Zum Schutz der Bevölkerung – insbesondere der Jugend – und im Sinne der Schadensminderung muss diese Prohibition dringend reformiert werden.

Voltaire und Kaffee

Der französische Philosoph Voltaire war der Legende nach ein sehr gieriger Kaffeetrinker. Er soll mindestens 30 Tassen Kaffee am Tag getrunken haben, manche Historiker sprechen sogar von 50 bis 80 Tassen täglich. Der Philosoph dachte, dass seine Gedanken durch das damals noch exotische Elixier stimuliert würden. Den Kaffee mischte er oft mit Schokolade, damals ebenfalls eine Delikatesse aus einem fernen Land, die ja auch anregend wirkt.
Voltaire lebte trotz ungehemmter Kaffeeleidenschaft und der Warnungen seines Arztes übrigens bis ins hohe Alter von 84 Jahren. Von ihm stammt auch der Satz: »Es gibt keine wahren Genüsse ohne wahre Bedürfnisse.«

Wann Kaffee trinken?

Kaffee beeinflusst unseren inneren Rhythmus gewaltig, falls man ihn irgendwann tagsüber trinkt. Man sollte seinen individuellen täglichen Energie-Rhythmus kennen lernen (Literatur dazu: Verena Steiner, Energiekompetenz) und den Kaffee dann nur in den „Up-Phasen“ vor unseren Energiehochs einnehmen und nie zur (gesundheitlich bedenklichen) Überbrückung unserer „Down-Phasen“! Aus diesem Grund sollte man auch auf den Espresso nach dem Mittagessen verzichten (und erst recht nach dem Abendessen).
Übrigens: Kaffee, ausnahmsweise zum Wachhalten eingesetzt, hilft viel besser, falls man viele einzelne, kleinere Schlückchen über den Tag verteilt einnimmt, als die eine grosse Tasse am Morgen (James Wyatt in Sleep, 27, S.374).

Menschen mit Schlafstörungen sollten nach 12 Uhr keinen Kaffee mehr zu sich nehmen.

Wirkungen und Nebenwirkungen

  • Für Hirn nicht mehr als 3 Tassen/Tag:
    Der tägliche Konsum von mehr als drei Tassen Kaffee beschleunigt den Abbau der kognitiven Fähigkeiten, wie eine gross angelegte Studie zeigt. Die Forscher untersuchten, wie verschiedene Mengen Kaffee und Tee die fluide Intelligenz beeinflussen, also die Fähigkeit, logisch und abstrakt zu denken, Probleme zu lösen und Muster zu erkennen. Personen, die vier oder mehr Tassen Kaffee täglich trinken, zeigen den stärksten Rückgang der fluiden Intelligenz. Dies im Vergleich zu Personen mit moderatem (ein bis drei Tassen täglich) oder keinem Kaffeekonsum.Es ist eine alte Weisheit: Ein Zuviel ist nie gut. Ausgewogenheit ist der Schlüssel. Moderater Kaffeekonsum ist in Ordnung, aber zu viel ist wahrscheinlich nicht ratsam.

    Gleichzeitig deuten die Daten darauf hin, dass mässiger Kaffeekonsum (1-3 Tassen/Tag) als Schutzfaktor gegen den kognitiven Abbau wirken kann.

    Beim Tee zeigte sich ein anderes Muster. Personen, die nie Tee tranken, erlebten einen stärkeren Rückgang der fluiden Intelligenz als solche mit mässigem oder starkem Teekonsum.

  • Wieviel Kaffee täglich ist gesund?
    Heute muss man langsam und auch vorsichtig antworten:
    Sehr wahrscheinlich sind 3-4 Kaffeedosen pro Tag für Herz und Hirn noch gesund, falls man denn nicht Herzsymptome bekommt und nervös oder ängstlich ist. Mehr dagegen wohl eher weniger.
    Ein günstiger Einfluss von regelmässigem Kaffeekonsum auf die Rate kardiovaskulärer Erkrankungen ist bereits häufiger berichtet worden.

  • Im spanischen SUN-Projekt, an dem 2017 rund 20.000 teilnehmen, wurde eine inverse Assoziation zwischen dem Kaffeekonsum und der Gesamtmortalität an Herz-Kreislaufkrankheiten gefunden. Bei Personen, die mindestens 4 Tassen täglich konsumierten war die Mortalität um 65% geringer als bei Personen, die nie oder fast nie Kaffee tranken. Besonders deutlich zeigte sich der Zusammenhang bei über 45-Jährigen. Pro zusätzliche 2 Tassen Kaffee täglich, verringerte sich die Gesamt-Mortalität im rund 10-Jahres-Follow-up um 30%. Auch wer viel Kaffee trinkt, setzt seine Gesundheit nicht aufs Spiel: Das zeigt eine grosse Studie des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung (Floegel A et al; Am J Clin Nutr. 2012 Apr;95(4):901-8.). Bei 43000 Menschen wurden zwei Gruppen verglichen: Vieltrinker, die täglich vier oder mehr Tassen Kaffee tranken, und Wenigtrinker mit weniger als eine Tasse pro Tag. Nach neun Jahren konnten sie für Krebs, Herz-Kreislauf (inkl. Schlaganfall) und auch für Diabetes ein Bonus für die Vieltrinker ausmachen: Ihr Risiko für alle diese Leiden war deutlich tiefer.
    Einerseits steigt das Gesamtcholesterin und LDL-Cholersterin bei über 6 Tassen Kaffee täglich zwar etwas. Anderseits: Bei regelmässigen Kaffeetrinkern bleiben die Halsschlagader elastischer und das Infarkt-Risiko sinkt. Bereits eine bis zwei Tassen pro Tag genügen. Das fanden Forscher der Universität Athen in einer Studie mit 235 Senioren heraus. Förderlich sind vermutlich die Polyphenole und andere gesunde Inhaltsstoffe von Kaffee. (European Society of Cardiology)
    .
  • 09/2024 die Meta-Studie „Habitual Coffee, Tea, and Caffeine Consumption, Circulating Metabolites, and the Risk of Cardiometabolic Multimorbidity“, Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism (JCEM):
    Betrachtet man den Nutzen über das gesamte Spektrum der Einnahme, so sieht man wieder diese U-förmige Kurve, die darauf hindeutet, dass der optimale Wert für den täglichen Konsum bei etwa 3 Tassen Kaffee oder Tee (oder 250 mg Koffein) liegt. Ein Standard-Energydrink enthält etwa 120 mg Koffein.
    .
  • Führt Kaffee zu Rhythmusstörungen?
    Studien im Zusammenhang mit Kaffee – einem der meist konsumierten Getränke überhaupt – üben eine besondere Faszination aus. Anders kann man es sich kaum erklären, dass diese solid durchgeführte, aber doch relativ kleine Studie derart hochrangig publiziert werden konnte.
    Es wurden dazu 100 Probanden (mittleres Alter 39 Jahre, 51% Frauen) während zwei Wochen kontinuierlich hinsichtlich Auftretens von Extrasystolen und zur Messung von Schrittzahl und täglicher Schlafdauer monitorisiert. Die Studienteilnehmenden wurden sodann mittels SMS zufällig angewiesen, an bestimmten Tagen Kaffee zu trinken respektive darauf zu verzichten. Die Anzahl Kammer-Extraschläge veränderte sich durch den Kaffeekonsum nicht signifikant. Gut vereinbar mit diesen Resultaten wiesen ja bereits vorgängige Beobachtungsstudien darauf hin, dass Kaffeetrinkende kein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Vorhofflimmern haben.
    Interessant sind aber auch die Daten zu den sekundären Endpunkten der Studie: An «Kaffeetagen» war die nächtliche Schlafdauer im Schnitt eine halbe Stunde kürzer und die Probanden legten im Mittel 1000 Schritte mehr zurück. Zudem traten deutlich häufiger ventrikuläre Ektopien auf. Ob Letzteres ein Surrogatmarker für Folgekomplikationen ist, muss offenbleiben. Die bisherigen Mortalitätsdaten zum Kaffeekonsum sprechen nicht dafür. Wie die Autorenschaft selber konkludiert, generieren diese Resultate Hypothesen für weitere Studien.

  • Medizinische Studien über Kaffee haben aber auch ihre Tücken – vor allem die, für den Kaffeegenuss negativen. Sorgfältige Arbeiten (z.B. über Kaffeekonsum in der Schwangerschaft und vermehrte Früh- oder Fehlgeburten und untergewichtige Kinder bei der Geburt) zeigen, dass diese Komplikationen meist nur scheinbar mit dem Kaffeekonsum zusammenhängen. Berücksichtigt man nämlich dass sich bei den „schweren“ Kaffeetrinkerinnen (mehr als 4 Tassen täglich) auch die Mehrheit der Raucherinnen und ein Drittel der Alkohol-konsumierenden Frauen, bei den Kaffee-Abstinentinnen aber nur 16% Raucherinnen und 14% Alkoholtrinkende befinden, so liess sich kein erhöhtes, durch Kaffeegenuss bedingtes Risiko mehr feststellen! (The New England Journal of Medicine 343, 1839-1845 (2000))
    Diesen Störfaktor in Studien bezeichnet man als „Confounder“.
  • Dieselben Überlegungen muss man beim vermeintlichen Osteoporoserisiko durch Kaffeekonsum anstellen, denn chronischer Alkohol- und Nikotinkonsum sind dort nachgewiesenermassen ein hohes Risiko. Sonstige Risikofaktoren für die Entwicklung einer Osteoporose im Alter sind auch viel höher einzustufen: Frauen nach der Menopause; enge Verwandte leiden bereits unter Osteoporose; Kalzium- und kalorienarme Ernährung und wenig Bewegung vor 15jährig; Frauen mit früher Menopause, entfernten Eierstöcken und Kinderlosigkeit; aber auch Konsum vieler phosphathaltiger Nahrungsmittel (wie „Soft-Drinks“=Colagetränke, Knäckebrot und bestimmte Wurstwaren, die entsprechend gesalzen sind); und eben chronischer Alkohol-, Nikotin- und möglicherweise Kaffeekonsum.
  • Menschen, die 3 oder mehr Kaffee täglich trinken haben gemäss einer grossen Studie (Bhupathiraju SN, Pan A, Manson JE, et al. Changes in coffee intake and subsequent risk of type 2 diabetes: three large cohorts of US men and women. Diabetologia. 2014;57:1346-1354. Abstract ) 37% weniger Risiko einen Diabetes Typ II zu entwickeln, als diejenigen die nur einen Kaffee täglich tranken.
    Auch konnten die Leute mit eineinhalb Kaffee mehr täglich ihr Risiko um 11% senken.
  • Kaffee hält Gefässe im Hirn fit:
    Frauen, die ein bis vier Tassen Kaffee am Tag trinken, verringern ihr Risiko für einen Schlaganfall um rund einen Viertel. Dies zeigte Susanna Larsson vom Karolinska Institut, die mit ihrem Team die Gesundheitsdaten von mehr als 34000 Frauen analysierte. Eine frühere Studie aus Finnland weist darauf hin, dass Kaffee auch Männerhirne schützt.
    (Larsson SC et al, Coffee consumption and risk of stroke in women; Stroke, 2011 Apr;42(4):908-12. Epub 2011 Mar 10)
  • Hoher Koffeinkonsum ist sogar mit einer signifikant tieferen Wahrscheinlichkeit verknüpft, an Morbus Parkinson zu erkranken (jama.ama-assn.org/issues/v283n20/full/joc91293.html).
    Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass ein moderater Kaffeekonsum die Entwicklung einer Demenz bei älteren Frauen verhindern kann (Neurology 2007;69:536-545 August 7 2007 American Academy of Neurology The neuroprotective effects of caffeine. The Hree City Study. K.Ritchie et al.)
  • Jedoch kann hoher Konsum von Energydrinks Herz und Nieren schädigen.Ein 21Jähriger mit  seit 2 Jahre langem grossen Konsum von Energydrinks wird mit Herz- und Nierenversagen hospitalisiert.
    Der zugrunde liegende Mechanismus der Herzinsuffizienz durch Energydrinks ist nicht vollständig geklärt. Das hoch konzentrierte Koffein in Energydrinks hat positive chronotrope und inotrope Eigenschaften, vor allem durch seine Wirkung als kompetitiver Antagonist von myokardialen Adenosin-Rezeptoren und auf die Katecholamin-Freisetzung.
    Eine chronische sympathische Überstimulation durch exogenen Koffeinkonsum kann also auch eine Stresskardiomyopathie auslösen.
    Es ist auch bekannt, dass Energydrinks den Blutdruck erhöhen und eine Reihe von Arrhythmien wie Vorhofflimmern sowie supraventrikuläre und ventrikuläre Ektopien auslösen können. Im schlimmsten Fall kann es zu Herzversagen kommen.
    Dieser Fall verdeutlicht, wie wichtig es ist, bei Patienten mit Kardiomyopathie unklarer Ätiologie sorgfältig nach einer bestimmten Ursache zu suchen. Dies schließt eine gründliche Anamnese auch zum Konsum von Energydrinks ein.
    Künftige Studien sind notwendig, um herauszufinden, welche Faktoren für schweres Herzversagen oder Herzrhythmusstörungen nach Energydrinks prädisponieren. So könnten dann Risikogruppen identifiziert und entsprechend aufgeklärt werden.
    (univadis.de/viewarticle/s/lebensbedrohliche-kardiomyopathie-durch-energydrinks)
  • Gicht: Je mehr Kaffee Männer trinken, desto seltener erkranken sie an Gicht (Arthritis & Rheumatism). Männer, die vier bis fünf Tassen täglich tranken, hatten ein 40% geringeres Risiko an Gicht zu erkranken wie Männer, die keinen Kaffee tranken. Bei sechs oder mehr Kaffees pro Tag sank das Gichtrisiko sogar um 60%.)
  • Schon mehrere Studien haben gezeigt, dass Kaffee die Leber gesund erhält. Auch Leberkranke profitieren von dem Getränk. In einer Studie von 2009 mit 760 Hepatitis C-Patienten hatten Kaffeetrinker Vorteile: Bei ihnen schritt die Krankheit nur halb so oft fort wie bei den anderen!
  • Krebs: Reichlich Kaffeegenuss bewahrt Frauen möglicherweise vor Brustkrebs. Trägerinnen gewisser Genvarianten, die mindestens zwei Tassen Kaffee pro Tag tranken, erkrankten zu 30% seltener als die anderen (E.Bageman et al., Cancer Epidemiology Biomarkers & Prevention 17: 895-901).
  • Sonstige Nebenwirkungen von Kaffee hingegen sind unbestritten: Pulsbeschleunigung, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Zittern und Muskelschmerzen. Absetzen von Koffein vermag Entzugskopfschmerz auszulösen. Kaffee steigert Angst. (Leute, die unter Ängstlichkeit leiden oder sogar Panikattacken erleben, sollten sicher nicht mehr als 400mg täglich aufnehmen oder besser gleich ganz auf Kaffee verzichten!). Personen mit Leberzirrhose oder Schilddrüsenüberfunktion laufen Gefahr verstärkter Koffein-Störwirkungen.
  • Schon fünf Tassen Kaffee am Tag steigern das Risiko (akustische) Halluzinationen zu bekommen, vorrausgesetzt man hat eine Neigung dazu.
    Australische Wissenschaftler in der Zeitschrift “Personality and Individual Differences” kamen zu diesem erschreckenden Ergebnis. “Koffein und Stress in Kombination steigern das Risiko für Psychose- ähnliche Symptome”, so Studienleiter Simon Crowe von der La Trobe University.
    Die Wissenschaftler haben 92 gesunde Studienteilnehmer in Situationen mit viel oder wenig Stress versetzt. Anschliessend befragten sie die Teilnehmer, wie viel Kaffee sie an diesem Tag getrunken hatten. Man spielte ihnen ein Tonbeispiel mit einem weissen Rauschen vor und bat sie jedes Mal sich zu melden, sobald sie das Lied “White Christmas” von Bing Crosby hörten. Das Lied wurde tatsächlich nie eingespielt, trotzdem glaubten mehrere es zu hören, und zwar vor allem jene, die unter hohem Stress standen und viel Kaffee getrunken hatten.
    Wer in dieser Hinsicht bereits verletzbar ist, kann durch Stimulanzien derart erregt und unruhig werden, dass das Sensorium durchdreht. Ängste, Schlaflosigkeit bis hin zu Halluzinationen im Sehen oder Hören können die Folge sein.
    Vor allem Nikotin und Koffein nehmen Schizophrene häufig zu sich, was nur plausibel ist: Neben Produktivsymptomen wie etwa Trugbilder sind auch sogenannte „Negativsymptome“ Kennzeichen der Krankheit. Dazu zählen die Antriebsschwäche, Kraftlosigkeit, Müdigkeit sowie Konzentrationsstörungen. Durch Zigaretten und Kaffee versuchen viele, diese Probleme zu überwinden.
    Ohne entsprechende Vorgeschichte wird niemand halluzinieren, auch wenn er fünf Tassen Kaffee pro Tag trinkt.
    Die Australier mahnen dennoch zur Vorsicht. Zuviel Koffein verbunden mit hohen Stress könnten auch bei normalen Menschen miteinander interagieren, wie die Untersuchung gezeigt habe. Kaffee als häufigste Alltagsdroge sei deshalb weniger harmlos wie oft dargestellt wird.

Achtung: Der Mode-Putscher GUARANA enthält mit 3-8% deutlich mehr Koffein als Kaffeebohnen (1-2%) oder Teeblätter (1-4%).
Nochmals Achtung: Koffein ist in vielen Mischmedikamenten gegen Schmerzen enthalten (die man sowieso meiden sollte).

Auch mit koffeinfreiem Kaffee  lebt man länger

(Prospektive Kohortenstudie mit 500.000 Menschen im Journal of the American Medical Association (JAMA)) Erstmals wurde dabei der individuelle Koffein-Metabolismus der Teilnehmer berücksichtigt, der sich genetisch bedingt unterscheidet – und es wurde differenziert, ob die Menschen koffeinhaltigen oder koffeinfreien Kaffee bevorzugen.

Das Mortalitätsrisiko war bei den Kaffeetrinkern allgemein geringer und sank tendenziell mit der Menge getrunkener Tassen im Vergleich zu Nicht-Kaffeetrinkern: So lag die Hazard Ratio (HR) mit einer Tasse pro Tag bei 0,92, bei 4 bis 5 Tassen bei 0,88 und bei 8 oder mehr Tassen bei 0,86. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Person ein guter oder schlechter „Koffein-Verwerter“ war (also wie aktiv der genetisch bedingte Koffein-Metabolismus war) und ob laut Antwortbögen koffeinfreier, gefilterter oder löslicher Kaffee getrunken worden war.
Am Koffein liegt es also wohl nicht, dass Kaffee das Mortalitätsrisiko eher senkt als steigert., aber es sind natürlich wesentlich mehr Substanzen als nur Koffein im Kaffee. So fördert Kaffee etwa den Spiegel des körpereigenen Peptids Adiponektin im Blut, das mit einer erhöhten Insulinsensitivität in Verbindung gebracht wird.

Weiterhin schlüsselten Loftfield und Kollegen nach Geschlecht (45% Männer, 55% Frauen), Alter (unter und über 55 Jahren), Raucherstatus, allgemeinem Gesundheitsstatus (gut ca. 75% / schlecht ca. 25%), BMI, Diabetes (bei ca. 5%) sowie dem Auftreten von Krebs, Herzinfarkt und Schlaganfall (gemeinsam ca. 10% der Teilnehmer) auf. In allen Subgruppen blieb der Trend erhalten, dass Kaffee, auch in grosser Menge von über 6 Tassen täglich, das Mortalitätsrisiko senkte.

Für die Belastbarkeit der getroffenen Aussagen spricht auch, dass sie die Ergebnisse vieler bereits veröffentlichter Studien zum Thema Kaffeekonsum bestätigen.
Kaffee, aber auch Tee, sind keine Medikamente, der Genuss geht meist mit Ruhe und einer Parasympathikus-Aktivierung einher, was sich nur positiv auf die Gesundheit auswirkt.

Lediglich Schwangere sollten sich etwas zurückhalten. Allen anderen empfehle ich: Zurücklehnen und den Kaffee guten Gewissens geniessen!

Veröffentlicht am 15. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
16. August 2024