Beckenbodentraining (Kegel-Übungen) bei Harninkontinenz, Chronischer Prostatitis, Chronischem Beckenschmerzsyndrom…
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte der Arzt Arnold Kegel eine Folge von Übungen, um Frauen zu helfen, die an Harninkontinenz (unwillkürliches Urinieren, zum Beispiel beim Husten, beim Niesen oder auch beim Orgasmus) litten. Das Ziel dieser Übungen ist es den Pubococcygealen Muskel (PC-Muskel oder vorderen Beckenboden), der im zusammengezogenen Zustand den Urinfluss aufhält, zu stärken.
Frauen, die Kegel über das Ergebnis ihrer Übungen befragte, berichteten, dass sie nicht nur in der Lage waren, den Urin besser zurückzuhalten, sondern als angenehme „Nebenwirkung“ während des Koitus stärkere sexuelle Empfindungen wahrnahmen.
Die Kegel-Übungen werden auch vor und nach Geburten zur Stärkung der Vaginalmuskulatur empfohlen. Frauen nach den Wechseljahren stellten fest, dass die Kegel-Übungen die Produktion von Gleitflüssigkeit fördern. Dies kommt aus einer verstärkten Blutzufuhr im vaginalen Bereich.
Voraussetzung: passiv weit gespannter Beckenboden
Eine Voraussetzung zur guten Stärkung des Beckenbodens wird meist vergessen: Der Beckenboden muss unbedingt immer auch alltäglich passiv weit gespannt sein – sonst wird er durch aktives Beckenbodentraining auch verkürzt und zieht die Schambeinäste zwischen denen er wie ein Trommelfell ausgespannt ist enger zusammen, was zu Beschwerden führen kann (engere Verhältnisse für Enddarm, Harnröhre und Scheide).
Wie erreicht man eine passive Spannung im Beckenboden und damit weite anatomische Verhältnisse, die erst ein gutes aktives Beckenbodentraining ermöglichen? Durch eine „gute“ Sitzhaltung!
Setzen Sie die Füsse (am besten barfuss und gut gegen den Boden geöffnet) etwas auseinander auf den Boden, parallel zueinander (oder sogar Fussspitzen leicht gegen innen). So fallen die Knie nach innen – und so gehen die Sitzbeine und die Schambeinäste auseinander – das Becken bekommt unten und hinten mehr Platz, der Beckenboden wird passiv gespannt – das Becken ist eine entspannte Schüssel mit flachem Boden. Nehmen Sie das Gesäss nach hinten, so dass Sie vor Ihre Sitzbeinhöcker zum sitzen kommen. Man hat ein leichtes und lockeres Hohlkreuz (ev. kleines Kissen dort hinein), das Gewicht des ganzen Oberkörpers kann in das Becken abgegeben werden. Der hinterste Teil des Beckenbodens, der Ischio-Coccygeus-Muskel zwischen Steissbein und Sitzbeinhöcker ist dabei völlig entspannt und bleibt es auch während all den untenstehenden Übungen!
Das Brustbein schwebt hoch und vorne (nicht hochziehen) und die Schultern hängen frei (und sind nicht nach hinten gezogen). Der Kopf sitzt locker und frei wie eine Boje oben auf der Mittelachse der Halswirbelsäule (geht durchs Ohrloch). Diese Sitzhaltung können Sie so oft einnehmen, wie es geht. Sie sollte (übrigens auch für einen Mann mit Prostatabeschwerden – oder z.B. auch Menschen mit rezidivierenden Ilio-Sacral-Gelenk-Blockaden) zur Normalhaltung werden.
Beckenboden und aufrechte Haltung
Hier lesen Sie mehr über den interessanten Zusammenhang von aufrechter Haltung und Beckenboden: www.dr-walser.ch/beckenboden/ !
Aktives Beckenbodentraining
Der Muskel, den Sie zusammenziehen, um den Urinfluss zurückzuhalten, ist der PC-Muskel (M.Pubococcygeus). Halten Sie Ihren Urin einige Male zurück, um sich mit diesem Muskel vertraut zu machen. Dann legen Sie sich hin, stecken Ihren Finger in die Vagina und ziehen den PC-Muskel zusammen. Versuchen Sie, die Kontraktionen um Ihren Finger herum zu spüren. Achten Sie darauf, dass Sie dabei nicht Ihre Hüften, den Bauch (ausser den tiefsten, den Transversus abdominis-Muskel, der immer zusammen mit dem PC-Muskel arbeitet), das Gesäss oder andere Muskeln im Beckenbereich anspannen.
Nachdem Sie die folgenden Übungen etwa sechs Wochen lang regelmässig durchgeführt haben, prüfen Sie, ob Sie irgendeinen Unterschied in der Stärke Ihres PC-Muskels wahrnehmen können, wenn Sie einen Finger in die Vagina stecken und den Muskel zusammenziehen.
Männer können versuchen ihren Penis sehr sanft in das Becken hineinzuziehen – und wieder loszulassen. Auch hier darauf achten, dass dabei nicht die Hüften, den Bauch. das Gesäss oder andere Muskeln im Beckenbereich gespannt werden.
Zusammenziehen und Loslassen
Die erste Kegel-Übung besteht darin, den PC-Muskel drei Sekunden lang zusammenzuziehen, ihn drei Sekunden lang zu entspannen und dann wieder zusammenzuziehen. Sollte es Ihnen schwerfallen, die Anspannung über drei Sekunden aufrechtzuerhalten, dann ziehen Sie den Muskel zunächst einmal ein oder zwei Sekunden lang an und halten die Spannung länger, wenn der Muskel allmählich stärker wird. Dieses Zusammenziehen und Loslassen sollte dreimal täglich jeweils zehnmal durchgeführt werden.
Zusammenziehen und Loslassen in rascher Folge
Die zweite Übung ist ähnlich wie die erste, aber anstatt den Muskel drei Sekunden lang anzuspannen, geht es hier darum, ihn so schnell wie möglich zusammenzuziehen und wieder loszulassen und wieder zusammenzuziehen. Auch diese Übung sollte dreimal am Tag jeweils zehnmal durchgeführt werden.
Wenn Sie diese Übung das erste Mal machen, könnte es Ihnen vorkommen, als ob Sie sich an einem Zungenbrecher versuchten. Sie werden nicht unterscheiden können, ob Sie den Muskel gerade zusammenziehen oder loslassen, und eine Zeitlang mag alles durcheinandergehen. Fangen Sie auf jeden Fall langsam an. Durch mehr Übung werden Sie allmählich ]In der Lage sein, schneller zwischen Anhalten und Loslassen der Spannung zu wechseln.
Die Aufzugübung
Stellen Sie sich vor, dass Ihre Vagina ein Aufzug ist und dass sich der Fahrstuhl an der vaginalen Öffnung befindet. Es kommt weniger darauf an, die Muskeln zusammenzuziehen, als sie vielmehr so anzuspannen. als ob Sie den Fahrstuhl langsam den vaginalen Kanal hochzögen, wobei Sie an der Vaginalöffnung beginnen und am Uterus enden. Nach den drei oder vier Sekunden, die Sie brauchen. um durch die ganze Vagina zu gehen, entspannen Sie die Muskeln ebenso langsam, als ob Sie den Fahrstuhl wieder zum Erdgeschoss hinunterlassen, und dann beginnen Sie erneut, ihn von der vaginalen Öffnung aus hochzuziehen. Führen Sie dreimal am Tag zehn Folgen dieser Übung durch. Diese Übung stärkt nicht nur den PC-Muskel, sondern auch die Muskeln des Uterus.
Der Vorteil dieser ersten drei Kegel-Übungen ist, dass Sie sie überall und zu jeder Zeit durchführen können, ohne dass jemand es bemerkt. Machen Sie diese Übungen, wenn Sie bei Rot an der Ampel halten, oder morgens, wenn Sie aufwachen, wenn Sie zu Hause oder am Arbeitsplatz telefonieren oder sich eine Weile hinlegen, um sich auszuruhen. Die Muskeln. die den After umgeben, können sich während dieser Übungen mitbewegen, aber wenn Sie feststellen, dass sich Ihre Hüft-. Bauch- (ausser den tiefsten Bauchmuskel M.Transversus) oder Gesässmuskeln bewegen, ziehen Sie wahrscheinlich den falschen Muskel zusammen.
Die Pressübung
Diese vierte Übung ist auch für einen Beobachter sichtbar, also führen Sie sie besser allein durch. Sie besteht darin, etwas auszustossen wie bei der Ausscheidung von Exkrementen, aber mehr im vaginalen als im analen Bereich. Stellen Sie sich einen Tampon tief in Ihrer Vagina vor und drücken Sie, als wollten Sie ihn hinauspressen. Wie bei der Aufzugübung sollte diese Ausstossbewegung drei oder vier Sekunden lang angehalten werden.
jede dieser vier Übungen sollte anfangs täglich zehnmal zu drei verschiedenen Zeiten durchgeführt werden. In dem Masse, wie Sie Fortschritte mit den Kegel-Übungen machen, steigern Sie die Anzahl der einzelnen Übungsfolgen, bis Sie in der Lage sind, jede von ihnen zwanzigmal hintereinander durchzuführen. Sie können diese Übungen tagsüber so oft machen, wie Sie Zeit haben, mindestens jedoch dreimal.
Einige Frauen zögern, sich auf Kegel-Übungen einzulassen, weil es sie sexuell erregt, wenn sie den PC-Muskel zusammenziehen. Selbst wenn das von den Übungen ablenken mag, ist es doch eine ganz normale Reaktion. Die Muskelspannung, die durch die Übungen hervorgerufen wird, veranlasst das Blut, in den Beckenbereich zu fliessen. Es kommt also zu demselben physischen Prozess wie bei der sexuellen Stimulation. Wenn dies geschieht, machen Sie sich keine Sorgen. Geniessen Sie es.
Andere Frauen hören mit den Kegel-Übungen auf, weil Sie sie ermüdend finden. Wenn auch Sie diese Erfahrung machen, spannen Sie wahrscheinlich eher Ihre Unterleibs-, Gesäss- oder Oberschenkelmuskeln an, als Ihren PC-Muskel zu üben. In diesem Fall fangen Sie noch einmal damit an, Ihren Urin zurückzuhalten, ohne die Unterleibsmuskeln, das Gesäss oder die Schenkel anzuspannen. Auf diese Weise werden Sie schnell unterscheiden lernen, welches der richtige Muskel ist.
Wenn Sie diese Übungen wie beschrieben ausführen, anfangs aber dabei im Beckenbereich eine unangenehme Spannung verspüren, dann verringern Sie die Anzahl der täglichen Übungssequenzen. Jeder Muskel, der zum erstenmal geübt wird, fühlt sich anfangs etwas steif an. Auf jeden Fall ist es wichtig, diesen Muskel, wie andere Muskeln Ihres Körpers auch, in Bewegung zu halten.
Die Kegel-Übungen sollten Ihnen ebenso zur täglichen Gewohnheit werden wie das Zähneputzen.
Veröffentlicht am 20. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
19. Mai 2020