Hypertonie / Hoher Blutdruck

Disease Mongering

Zuallererst etwas zum Disease Mongering bei der Hypertonie:
Von einem Tag auf den anderen schnellte in den USA 2017 die Zahl jener, die an zu hohem Blutdruck litten, von 72 auf 103 Millionen hoch. Über Nacht war nicht mehr ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung davon betroffen, sondern die Hälfte. Was war geschehen? Die zwei einflussreichsten Kardiologie-Gesellschaften des Landes hatten die bislang geltenden Grenzwerte gesenkt und damit auch viele, die bislang als gesund galten, zu Kranken gemacht.
Dasselbe geschieht nun wieder im 2024 durch aggressivere Zielwerte der ESC-Leitlinien. Angsteinflössend wirkt dabei auch die Umbenennung der „hochnormalen“ Blutdruckwerte zu „erhöhten“…
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Entzündungsneigung als zentraler Mechanismus

Bekannt ist, dass im Rahmen des Bluthochdrucks in den Blutgefässen des Körpers eine Entzündungsreaktion auftritt, so dass der Schlüssel einer erfolgreichen Behandlung des Bluthochdrucks möglicherweise in der Abschwächung dieser Entzündungsreaktion liegt. „Seit einiger Zeit geht man davon aus, dass auch die durch Bluthochdruck geförderte Gefässverkalkung (Atherosklerose) nichts anderes als eine chronisch voranschreitende Entzündung des Gefässbettes ist.“(Quelle: Uni Mainz)

Der Schweregrad des Metabolischen Syndroms, welches auch der Hypertonie zu Grunde liegt, korreliert mit einem Anstieg der Entzündungsneigung! Studien zeigen, dass die Stammfettsucht und die Hypertonie die gefährlichsten Risikofaktoren für die chronische Entzündung im Rahmen des Syndroms sind. (Santos et al., International Journal of Obesity, Dec 2005;29:1452-1456).

Deshalb will ich hier gleich eine Massnahme erwähnen, die zentral diese Entzündungsneigung angeht: das Intervallfasten!

Entzündung kann auch Folge einer Überreizung sein. Gründe für Überreizung und damit von hohem Blutdruck sind u.a. Lärmexposition oder nächtliche Lichtexposition (Computer oder TV nachts)! Eine Desynchronisation der zirkadianen Rhythmen ist ursächlich wichtig. Hochdruckpatienten sollten deshalb einen möglichst regelmässigen Tagesablauf haben und die Nachtruhe einhalten.
Hierhin gehört auch, dass eine stete Störung unseres Inneren Friedens, d.h. eine mangelnde Gelassen- und Zu-Friedenheit auch unseren Blutdruck mit der Zeit steigen lässt. Hierzu mehr in meinem Blog und auf dieser Website.
Und… ein Internet/Social Media, welches mich beherrscht und nicht mir dient!

Pathologische Aktivierung des Immunsystems

Die Entzündungsparameter im Blut (CRP, Interleukin-5, Kortisol) sind bei Patienten mit einem Metabolischen Syndrom, also auch bei der Hypertonie erhöht. Dies führt zur Rekrutierung von Immunzellen. Diese Gesamtentzündung wird heute als mitverantwortliche Ursache der Insulinresistenz, des Fehlens von Insulinsekretion wie auch der Arteriosklerose gesehen.
Weitere Faktoren, die zur Entzündung beitragen können, sind zum Beispiel die Hypoxie, welche durch die rasche Zunahme von Fettzellen mit inadäquater Zunahme der Blutgefässe im Fettgewebe entstehen kann.
Auch der Darmflora wir eine grosse Rolle zugesprochen. Die Darmwand ist bei Patienten mit Übergewicht und Diabetes weniger dicht: dadurch können bakterielle Wandprodukte, sogenannte Lipopolysaccharide, sie besser durchdringen und Entzündungen in verschiedenen Geweben verstärken. Die Zusammensetzung der Darmflora scheint dabei eine wesentliche Rolle zu spielen! Weiterlesen: www.dr-walser.ch/darmflora/ und über Diabetes als Entzündung!

Risikofaktor für die Arterienverkalkung und damit für den Herzinfarkt oder den Hirnschlag

Hier muss auch angemerkt werden, dass wir uns mit einem erhöhten Blutdruck bereits irgendwo weit vorne in der Folgekette von primären Ursachen befinden. Wie ich auf meiner Seite über Herz/Kreislauf deutlich gemacht habe, ist ursächlich der chronische psychosoziale Stress (vs. Entspannung), das Bauchfett bei Bewegungsarmut und ein hoher Alkoholkonsum (neben dem Rauchen!) ins Visier zu nehmen – prophylaktisch und therapeutisch!

Wie messen?

Ein Blutdruck, der Ihr Hausarzt misst, ist durchschnittlich 20% zu hoch (doch aufgepasst: siehe Weisskittelbluthochdruck gleich unten)!
Ihr Hausarzt sollte deshalb den einfachen Tiefatem-Test beherrschen (Anleitung)- oder Sie setzen sich beim Arzt in ein ruhiges Zimmer und messen ein paar Mal in guter Entspannung über 10 Minuten.
Messen Sie selbst zu Hause – und zwar morgens, gleich nach dem Erwachen, aufsitzen und mit einem Oberarm-Gerät (und keines für das Handgelenk, welches meist ungenauer ist). Gleich dreimal hintereinander messen – und nur niedrigsten Wert notieren.
Am optimalsten ist es, falls Sie nach einer 4-7-11 Atemübung messen. Lernen Sie diese Übung auf jeden Fall, auch zur Therapie!

Hängt der Arm bei Blutdruckmessungen herunter oder liegt er im Schoss, kann dies Blutdruckmessungen erheblich verfälschen – und zu vermeintlich hohen Werten führen. Darüber berichten Forscher in JAMA Internal Medicine. Den Arm also auf einen Tisch legen, wobei sich die Hand auf Herzhöhe befinden sollte.

Dieser Morgenwert sollte dann im Normbereich sein.

Nehmen Sie ihr Messgerät mal zum Arzt mit und machen Sie dort Vergleichsmessungen mit dem Profi-Apparat.

Die 24-Stunden-Blutdruckmessung ist der Goldstandard und korreliert am besten mit der Sterblichkeit (nächtliche Werte)

Mit dem Sterberisiko korrelieren die nächtlichen systolischen Blutdruckwerte am meisten, nämlich sechsmal stärker als die Praxis-Blutdruckwerte. Demgegenüber findet sich keine Beziehung zwischen den diastolischen Blutdruckwerten (mit Ausnahme der nächtlichen Werte) und dem Sterberisiko. Personen mit «maskierter» Hypertonie (erhöhte 24-Stunden-Werte bei normalem Praxis-Blutdruck) hatten das gleiche Sterberisiko wie jene mit konstanter Hypertonie, wogegen die «Weisskittel-Hypertonie» sogar mit einem verminderten Sterberisiko assoziiert zu sein schien (HR 0,90, 95% 0,84-0,97). Ähnliche Resultate ergaben sich auch bei separater Analyse der Personen mit und ohne antihypertensive Therapie.

Die vorliegende Studie bestätigt mit Langzeitdaten die Rolle der 24-Stunden-Blutdruckmessung als Goldstandard und die Wichtigkeit der nächtlichen Werte für Prognose und Steuerung der antihypertensiven Therapie.
(Staplin N, et al. Relationship between clinic and ambulatory blood pressure and mortality: an observational cohort study in 59?124 patients. Lancet. 2023 Jun 17;401(10393):2041-2050. doi: 10.1016/S0140-6736(23)00733-X. [Link])

Weisskittelhypertonie mit vermindertem Sterberisiko

Ob eine Weisskittelhypertonie – auch „Praxishypertonie“genannt – klinisch von Bedeutung ist, darüber wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Sie gilt insofern als ein harmloses Blutdruckverhalten, als Ausdruck gesteigerter Blutdruckreagibilität ohne eigentlichen Krankheitswert, da offensichtlich die Mortalität nach der obengenannten Studie fast schon niedriger ist, las bei Gesunden.
Man nimmt heute an, dass Weisskittelhypertoniker auf unterschiedliche Stressoren mit einem überschiessenden Blutdruckanstieg reagieren, d.h. sie haben auch im Alltag in belastenden Situationen oder bei körperlicher Aktivität erhöhten Blutdruck. Doch soll man daraus nicht die allgemeine Empfehlung ableiten, jeden davon antihypertensiv zu behandeln. Sehr wahrscheinlich ist es besser, sich auf die (nächtlichen) Werte der 24-Stunden-Blutdruckmessung zu verlassen.

Eine Weisskittel-Hypertonie ist Ausdruck eines Menschen, der zuviel Feuer hat. Versuchen Sie also zuerst mit verändern Ihres Lebensstil, wegzukommen von einem „feurigen“, aufgeregten Alltag damit sich auch Ihr „feuriger Typ“ langsam harmonisiert (als Beispiel zweimal täglich 10 Minuten entspannende Atemübung)…)!

Blutdruck immer an beiden Armen messen

Seitenunterschiede von 10 – 15 mmHg und mehr bei der Messung des systolischen (oberen) Blutdrucks können wichtige Hinweise auf Gefässerkrankungen liefern, die weitere Abklärung bedürfen. Britische Wissenschaftler (C.E. Clark et al., The Lancet online 2012) analysierten Daten aus 20 Studien zu diesem Thema, von denen fünf eine Angiographie einschlossen. Zeigte diese eine mehr als 50%ige Einengung der Subclavia-Arterie, betrug der Unterschied zwischen dem rechten und linken Arm gemessenen systolischen Blutdruck im Mittel 37 mm Hg. Erhöht war das Risiko einer Subclaviastenose bereits ab einem Rechts-Links-Unterschied von 10 mm Hg. Ein Unterschied von 15 mm Hg oder mehr bei den nicht invasiven Studien erwies sich als starker Hinweis auf eine PAVK (=Periphere Arterielle Verschlusskrankheit >> Risikoerhöhung um das 2,5fache) oder eine zerebrovaskuläre Erkrankung (RR 1,6). Die kardiovaskuläre Mortalität war um 70%, die Gesamtmortalität um 60% erhöht. Grundsätzlich sollte deshalb an beiden Armen gleichzeitig gemessen werden.

Das Wichtigste in Kürze

•     Die Diagnostik beginnt mit Blutdruckmessungen in ruhiger Umgebung und mit korrekter Technik. Als Goldstandard gilt derzeit das 24-Stunden-Blutdruckprofil. Sie korreliert auch am besten mit der Mortalität durch eine Hypertonie.

•     Die beste Evidenz und damit eine unumstrittene Indikation für die Einleitung einer medikamentösen antihypertensiven Therapie besteht für Personen unter 65 ab 140/90, zwischen 65 und 80 Jahren ab 150/90 und über 80 ab 160/90 mmHg.

•     Die Therapieziele richten sich nach bereits etablierten Folgeerkrankungen und nach Alter und zusätzlichen Risikofaktoren – aber mit Mass. Immer soll ein Blutdruck von unter 140/90 mm Hg angestrebt werden, wenn möglich jünger als 65 Jahren unter 130/80.

•     Für Individuen mit etablierten Folgeerkrankungen und multiplen Risikofaktoren sollten gemäss eines Cochrane-Review von 2022 kaum niedrigere Werte angestrebt werden.

•     Mit höherem Alter ist genauer auf die Verträglichkeit der Behandlung zu achten.

•     Jede Blutdrucksenkung (bis 140/90), auch wenn die Ziele nicht zu 100% erreicht werden, verhindert Komplikationen und Folgeerkrankungen.

•     In 5 bis 10% der Fälle liegt eine sekundäre Hypertonieform vor. Bei einigen von diesen ist primär die zugrunde liegende Erkrankung zu behandeln.

(aus pharma-kritik Jahrgang 42, Nr.3 & infomed-screen Jahrgang 26(2022): Blutdruck senken: mit Mass!)

Was ist noch normal?

Der Ziel-Blutdruck für alle Menschen mit Hypertonie, die ein Medikament dagegen nehmen, liegt laut ESC-Guidelines 2018 unter 140/90 oder laut ESC-Leitlinie 2024 sogar unter 130/80 (für jünger als 65jährig).

Aggressiver (oder angsteinflössender):
Neue ESC-Bluthochdruck-Leitlinie (2024) senkt die Zielwerte und empfiehlt neue Lebensstil-Änderungen

Die aktualisierte Hypertonie-Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) setzt auf vereinfachte, aber aggressivere Zielwerte. Für die meisten Patienten, die eine Blutdrucktherapie erhalten, liegt der neue Zielwert für den systolischen Blutdruck nun bei 130 mmHg.
Das beim ESC-Kongress 2024 in London vorgestellte Update definiert Hypertonie weiterhin als systolischen Blutdruck von mindestens 140 mmHg und diastolischen Blutdruck von mindestens 90 mmHg. Neu ist die Kategorie „erhöhter Blutdruck“ (angsteinflössend), die bisher „hochnormal“ hiess.
Hochnormal bedeutet einen systolischen Wert von 120 bis 140 mmHg und einen diastolischen Wert von 80 bis 90 mmHg. Bei diesen Patienten soll eine kardiovaskuläre Risikobeurteilung erfolgen, bevor über eine Therapie entschieden wird – besonders bei einem Blutdruck von ≥130/80 mmHg.
Das Angstmachende dieser neuen aggressiven Leitlinien und deren Wortwahl ist umso problematischer, da sie starke Spannungen verursacht und die mangelnde Entspannung notabene eine der Hauptursachen für die Hypertonie ist.

Blutdruck-Kategorien:

  • Nicht erhöhter Blutdruck: < 120/70 mmHg
  • Hochnormaler Blutdruck: 120-140 mmHg/80-90 mmHg
  • Hypertonie: ≥ 140/90 mmHg
Alle Patienten mit Hypertonie sollen medikamentös behandelt werden. Bei hochnormalem Blutdruck erfolgt zunächst eine Risikobeurteilung, bevor eine Therapie beginnt.
Ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen besteht bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer chronischer Nierenerkrankung (CKD), bestehender kardiovaskulärer Erkrankung, Diabetes oder familiärer Blutfetterhöhung. Dasselbe gilt für Patienten mit einem geschätzten kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko von 10% oder höher. Diese Patienten sollen, wenn ihr Blutdruck bei mindestens 130/80 mmHg liegt, nach einer 3-monatigen Lebensstilveränderung ohne Effekt zusätzlich medikamentös behandelt werden.
Die Leitlinie geht von einem steten Anstieg des Blutdrucks aus. Daher könnten Patienten mit höherem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen von einer intensiveren Behandlung profitieren, selbst wenn ihr Blutdruck noch nicht den traditionellen Grenzwert für Hypertonie erreicht hat.

Neuer niedrigerer Zielwert

Die Absenkung der Blutdruck-Zielwerte basiert auf neuen Studiendaten, die zeigen, dass ein niedrigerer Blutdruck mit weniger kardiovaskulären Ereignissen (Herzinfarkt, Hirnschlag) einhergeht. Der neue systolische Zielwert liegt bei 130 mmHg für die meisten Patienten, die blutdrucksenkende Medikamente erhalten.
Dieser Zielwert stellt eine bedeutende Änderung gegenüber der vorherigen ESC-Leitlinie dar, die einen Zielwert von unter 140/90 mmHg empfahl.
Die Empfehlung hat jedoch Vorbehalte: Die Behandlung muss gut vertragen werden. Bei Patienten mit symptomatischer orthostatischer Hypotonie (Symptome vom tieferen Blutdruck v.a. beim plötzlichen Aufstehen), bei Patienten ab 85 Jahren, bei moderat bis schwer gebrechlichen Patienten und bei Patienten mit begrenzter Lebenserwartung können weniger strenge Therapieziele angesetzt werden. Für diese Patienten empfiehlt die Leitlinie einen Zielwert, „der so niedrig ist, wie in vernünftiger Weise erreicht werden kann.“

Neue Lebensstil-Empfehlungen

Die aktualisierte Leitlinie enthält auch neue Empfehlungen zur Senkung des Blutdrucks durch Lebensstil-Änderungen, etwa zur körperlichen Aktivität und zur Kalium-Supplementation.
Regelmässige Bewegung:
  • 2,5 Stunden moderate körperliche Aktivität pro Woche oder mindestens 75 Minuten Sport von hoher Intensität.
  • Ergänzt durch 2- bis 3-mal wöchentliches dynamisches oder isometrisches Krafttraining von geringer bis moderater Intensität.
Empfohlen wird auch, dass Patienten mit Hypertonie ihre Kaliumzufuhr erhöhen, entweder durch Salzersatzprodukte (Kaliumsalz statt Natriumchlorid) oder eine Ernährung, die reich an Obst und Gemüse ist.

Typischerweise ist der Blutdruck nachts tiefer als am Tag, bei Anstrengung steigt er. Mit zunehmenden Alter ist er höher als in der Jugend. Bei manchen Menschen ist der Blutdruck an einem Arm höher als am anderen. In diesem Fall zählt der höhere Wert. Bei tiefen Aussentemperaturen (Winter) ist er höher als im Sommer.

Die Angaben der Grenzwerte für den Blutdruck unterlagen in der medizinischen Fachliteratur in den letzten Jahren grossen Schwankungen: Normal ist sicher unter 120 mmHg systolisch (d.h. für den oberen Blutdruckwert) und unter 80 mmHg diastolisch.
Die Beziehung zwischen Blutdruck und kardiovaskulärem Risiko scheint kontinuierlich, konsistent und von anderen Risikofaktoren unabhängig zu sein. Je höher der Blutdruck, desto höher das Risiko für Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Hirnschlag und Nierenerkrankung. Für Menschen zwischen 40 und 60 Jahren verdoppelt jeder BD-Anstieg über 135/85 systolisch um 20mmHg und diastolisch um 10 mmHg das kardiovaskuläre Risiko.

Hochnormaler (oder neu erhöhter) Blutdruck erfordert also Kontrolle – nicht Therapie… und rufen nach Änderungen des Lebensstils!

Es gibt Stimmen von medizinischen Forschern, bei Menschen im Alter über 70 Jahren künftig nur noch den systolischen (den oberen) Blutdruckwert zu bestimmen – und zu behandeln!

Blutdrucknormwerte im Alter

  • Isolierter systolische Hypertonie im Alter über 65 ist ein gängiges Problem. Während bei Mann und Frau der systolische Blutdruck mit dem Alter ansteigt, reduziert sich der diastolische Druck oder bleibt gleich. Das bedeutet, dass die isolierte systolische Hypertonie jenseits des 50. Lebensjahrs stetig häufiger wird. Solange der systolische Druck unter 140 mmHg bleibt, genügen zunächst „Lifestyle“-Modifikationen (Gewichts- und Alkoholreduktion, mehr Kalium, Bewegung usw.).
    Bei BD-Werten über 140 bis 150 mmHg: Standard-Hypertoniebehandlung mit Ziel systolischer Druck 140 mmHg:  Thiaziddiuretika oder ACE-Hemmer.
    Achtung! Unklar sind Bedeutung und Folgen abnorm tiefer diastolischer Werte.
  • Bei Patienten über 80 Jahren mit isolierter systolischer Hypertonie ist der Nutzen einer Behandlung nur ab einem Druck von 160 mmHg klar dokumentiert. Der Nutzen zur Reduzierung kardiovaskulärer Ereignisse (Herzinfarkt, Hirnschlag) zeigt sich dabei bereits innerhalb eines Jahres.
  • Über 85jährige haben nach anderen Studien sogar die höchste Überlebensrate mit einem systolischen Blutdruck von 160 mmHg und sollten nicht unter systolisch 140 mmHg  sein! (Journal of the American Geriatrics Society, 2008, Vol 56, Issue 10, 1853-59 – Lower Systolic Blood Pressure is associated with greater mortality in people aged 85 and older. Lena Moalneder et al.)
  • US-Neurologen haben in einer Studie mit 559 Frauen und Männer über 90 Jahren festgestellt, dass hoher Blutdruck, der erst im Alter auftrat, sogar vor Demenz schützt! Möglicherweise ist bei Hochbetagten ein höherer Druck erforderlich, um das Gehirn ausreichend mit Blut zu versorgen. (DOI: 10.1016/j.jalz.2016.09.007).
  • Erschwerend ist bei über 80jährigen, dass ihr Blutdruck mit zunehmenden Aussentemperaturen sinkt, also auch stark Jahreszeiten-abhängig ist. In diesem Alter sollte also eine blutdrucksenkende Therapie auch übers Jahr variiert werden (Arch Intern Med: 169(1):75-80, 12 January 2009; Relationship Between Blood Pressure and Outdoor Temperature in a Large Sample of Elderly Individuals – The Three-City Study. Annick Alperovitch, Jean-Marc Lacombe, Olivier Hanon, et al.)

Der diastolische (untere) Blutdruck beeinflusst die (frühzeitige) Sterblichkeit ebenfalls. Hier gilt jedoch:
Je niedriger die Werte, bzw. je grösser die Blutdruckamplitude (Unterschied zwischen oberem und unterem Blutdruckwert), desto grösser die Gefahr für die Patienten! (Jan A. Staessen, Hypertension an Cardiovascular Research Unit, Uni of Leuven, et al.; The Lancet, Vol.355, No. 9207 (2000), S. 865-871: Metaanalyse von acht Interventionsstudien mit 16’000 Patienten über 60 Jahre).

Prognostischer Wert von systolischem und diastolischem Blutdruck

Bei Personen über 50 Jahre ist der systolische (obere) Blutdruck ein guter Prädikator des kardiovaskulären (Arterienverkalkung im Herz-Kreislauf) und koronaren (Verkalkung der Herzkranzgefässe: Herzinfarkt) Risikos. Der diastolische Blutdruck ist immer noch Hauptkriterium zur Abschätzung der Medikamentenwirksamkeit, scheint aber zur Abschätzung des kardiovaskulären Risikos nur geringen Wert zu haben (Athanase Benetos et al.: Prognostic value of systolic and diastolic blood pressure in treated hypertensive Men. Arch.Intern.Med. 2002; 162: 577-581).

Weitere Risikofaktoren?

Zudem wäre wichtig zu wissen, ob man mit diesem Blutdruck noch weitere Risikofaktoren für die Arterienverkalkung aufweist (Nikotinkonsum, Diabetes, hohe Blutfette, Übergewicht, Bewegungsmangel >>>siehe auch meine Seite über das metabolische Syndrom!). Falls dies zutreffen würde, wäre eine strengere Therapie sowieso angebracht. (Risikoberechnung unter  www.chd-taskforce.de : PROCAM Risk Calculator und speziell für Frauen: Framingham Risk Assessment).

Was tun?

Rauchen und Alkohol stoppen!

Zuallererst: Stoppen Sie ein allfälliges Zigarettenrauchen! Das Rauchen zusammen mit dem hohen Blutdruck ist eine enorme Zeitbombe für die Arterienverkalkung!

Darauf reduzieren Sie Ihren Alkoholkonsum auf höchstens ein Glas Rotwein pro Tag (übermässiger Alkoholkonsum ist die häufigste Ursache einer mässigen Hypertonie). Regelmässiger Alkoholkonsum über 30 Gramm täglich (d.h. mehr als 2-3 Standarddrinks, Frauen 1-2) steigert den Blutdruck stark.

Normalgewicht und Kurzfasten zur Entzündungsreduktion

Versuchen Sie auf ein Normalgewicht (resp. auf einen normalen Bauchumfang – das Bauchfett ist dabei wichtig – das Fett um Hüften und an den Oberschenkeln ist sogar Blutdruck-senkend!) abzunehmen. Am besten wirken hier längere Zeitabschnitte (16 bis 72 Stunden) ohne Nahrung: Kurz- oder  Intervallfasten (16:8 oder 5:2)!
Der Stoffwechsel wird dadurch umgestellt und auch die Entzündungsneigung vermindert sich, dass auch der Blutdruck sinken kann.
>>> siehe auch die sensationelle Studie übers Abnehmen und seine Wirkung auf die Arterienverkalkung hier >>>
Achtung: Eine Gewichtszunahme bei Frauen nach den Wechseljahren wird häufig eben durch Blutdruckmedikamente verursacht oder verschlimmert!

Bewegung

Bewegen Sie sich täglich 30 oder dreimal die Woche 60 Minuten lang. Strammes Spazieren reicht durchaus – oder ein halbstündiges Ausdauerprogramm zu Hause (Liegestütze, Springseil, Boxerlauf, Kniehebelauf und Anfersen, Skaten an Ort, Squat Jumps, Hampelmann…).
2018 werteten Forscher der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie 34 Übersichtsstudien aus. Besonders überraschend: Krafttraining, das lange als schädlich bei Bluthochdruck galt, wirkt gut. Am meisten profitieren davon Menschen mit nur leicht erhöhten Blutdruckwerten. Zum Krafttraining gehören Übungen mit Gewichten. Aber auch Kniebeugen und Liegestütz, die mit dem eigenen Körpergewicht arbeiten, sind wirksam. Um einen messbaren Effekt zu erreichen, sollte man mehrmals pro Woche trainieren. Dabei ist das richtige Atmen wichtig: Beim Training mit hohen Lasten setzt meist automatisch eine Pressatmung ein. Dabei hält man während der Übung die Luft kurz an und atmet dann kraftvoll wieder aus. Das lässt jedoch den Blutdruck hochschnellen. Eine schonendere Atemtechnik ist die Lippenbremse. Bei dieser atmet man durch die Nase ein und durch die locker aufeinander liegenden Lippen aus.
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Ein neuer Favorit am Bewegungshimmel ist aber (seit 2023) das isometrische Krafttraining. Bei diesen Übungen hält man die Körperspannung für eine gewisse Zeit an (Beispiel Unterarmstütz=Planks).
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Im British Journal of Sports Medicine https://bjsm.bmj.com/content/early/2023/07/02/bjsports-2022-106503  untersuchten britische Wissenschaftler von Cambridge vier grundsätzlich verschiedene Trainingsansätze auf ihre blutdrucksenkende Wirkung: hochintensives Intervalltraining mit kurzen, extrem intensiven Übungseinheiten; aerobes Training wie Laufen oder Fahrradfahren, ohne ausser Atem zu geraten; dynamisches Widerstandstraining zum Beispiel Kniebeugen; und isometrisches Training, bei dem die Muskeln zwar angespannt werden, ihre Länge aber nicht verändern. Aerobes Laufen galt lange Zeit als probates Trainingsmittel gegen Hypertonie. Nun destillierten die Forscher aus 270 Studien mit insgesamt 16.000 Probanden einen neuen Favoriten: das isometrische Training.

Mit Übungen wie der Unterarmstütz – heute besser bekannt als Planks (dr-walser.ch/rueckenschmerzen/#prophylaxe) – oder dem Sitzen in der Hocke an der Wand sank der Druck um 8 (oberer Wert) und 4 mmHg (unterer Wert). Mit Ausdauertraining wie Laufen hingegen konnten Probanden ihren Blutdruck durchschnittlich nur um 4,5 und 2,5 mmHg senken.

Das als Trainingsmethode in den vergangenen Jahren gefeierte hochintensive Intervalltraining senkte den Blutdruck am wenigsten.

Nun sollte niemand der Illusion erliegen, dass isometrische Übungen weniger schweisstreibend sind als eisenhartes Krafttraining oder moderates Joggen. Für eine kurze Zeit senkt die Anspannung im Muskel die Durchblutung, deshalb sollten Anfänger nur langsam die Belastung steigern – und dabei das gleichmässige Atmen nicht vergessen. Die Pressübungen verführen dazu, die Atemmuskulatur ebenfalls anzuspannen, was schon deshalb kontraproduktiv ist, weil dann in die Muskulatur noch weniger Sauerstoff strömen kann.

Immerhin ist der Aufwand für zwei bis vier Mal isometrisches Training pro Woche in den eigenen vier Wänden geringer, als bei jedem Wetter vor die Tür gehen zu müssen. Der Nachteil: Bei den statischen Übungen wird die Koordination der Muskeln nicht trainiert.

Optimal ist auch hier sicher ein Mix dieser drei Bewegungsarten (aerobe Ausdauer, isometrische Muskelübungen und Krafttraining) auf die Länge.

Ernährung

  • Essen Sie kochsalzarm (wenig Natrium, aber viel Kalium: siehe gleich unten) und Pflanzenfasern reich (viel Obst, Getreide und rohes Gemüse). Diese Massnahme ist für ältere Menschen über 65 absolut wichtig.
    Mehr als etwa 5 Gramm pro Tag ist sehr schädlich (aber auch dies nur für Hypertoniker – Menschen ohne Hypertonie ertragen sogar dies).
    Vor allem abends sollte kein Salz eingenommen werden! Salz am Abend wirkt stark Blutdruck erhöhend!
  • Kalium wirkt natriuretisch. Kochsalz ist Natriumchlorid und meist Blutdruck steigernd (siehe oben). Eine hohe Kaliumzufuhr bewirkt das Gegenteil. Viel Kalium hat man im Obst, Nüssen und Gemüse! Sehr kaliumhaltig sind Bananen, Spinat, Broccoli, Nüsse und Vollkorn (siehe auch hier >>>)
  • Eine vegetarische Ernährung senkt gemäss einer grossen Metastudie den systolischen BD um 10 mmHg und den diastolischen um 5 mmHg (Yokoyama Y et al., JAMA Intern Med 2014).
  • Mehr als 3 Kaffees pro Tag wirken ebenfalls etwas blutdrucksteigernd. Wer drei Tassen Kaffee pro Tag trinkt, hat aber trotzdem ein geringeres Risiko, an Herz-Kreislauf-Krankheiten zu sterben als Menschen, die keinen Kaffee trinken. Trinkt man noch mehr Kaffee, schadet das zwar nicht, die schützende Wirkung wird aber nicht stärker. Zu diesem Ergebnis kamen britische Forscher, die mehr als 200 Studien ausgewertet haben.
  • Tee, massvoll senkt den Blutdruck: Forscher aus Kalifornien haben mit einer neuen Studie eine Erklärung dafür gefunden, warum grüner und schwarzer Tee blutdrucksenkend wirken: Gewisse Bestandteile der Tees stellen die Blutgefässe weit, indem sie Ionenkanäle in der Gefässwand aktivieren, die dafür sorgen, dass sich die Muskulatur entspannt. Schon frühere Untersuchungen hatten gezeigt, dass grüner und schwarzer Tee den Blutdruck senken können, und man wusste bereits, dass sogenannte Katechine daran beteiligt sind.
    Schwarzer Tee wird oft mit Milch getrunken. Obwohl Milch in der Studie die vorteilhaften Wirkungen von Tee in Laborexperimenten verringerte, gehen die Forscher davon aus, dass dies beim Menschen nicht der Fall ist. Man muss also beim Trinken von Tee nicht auf Milch verzichten, um die vorteilhaften Eigenschaften von Tee zu nutzen.
    Diese Annahme wird durch andere Untersuchungen bestätigt, die die blutdrucksenkende Wirkung von Tee unabhängig vom Zusatz von Milch belegen. Bei 35 Grad scheinen die Katechine ihre beste Wirkung zu entfalten. Auch dies ist kein Problem, denn unabhängig davon, ob Tee nun kalt oder heiss getrunken wird: Durch die Körpertemperatur entfalten sie automatisch ihre optimale Wirkung.
    Aber auch Tee/Grüntee immer massvoll (also nicht zu viel). Einer meiner Patienten mit therapieresistentem Bluthochdruck über Jahre hatte nach Reduktion von Grüntee von täglich 1.5 Liter auf 2 Tassen völlig normalen Blutdruck.
  • Der antioxydativen Radikalfängereffekt kann auch den BD senken : Deshalb wirkt wohl Fischöl, Grüntee und Kaffee in Massen und Kakao (schwarze Schokolade). Es zeigte sich in einer grossen und exakten Studie eine progressive Blutdrucksenkung mit Einnahme von täglich nur 7 Gramm dunkler, polyphenolreicher Schokolade abends. Der systolische Blutdruck wurde im Mittel um 3 mmHg, der diastolische Blutdruck um 2 mmHg gegenüber der Kontroll-Gruppe gesenkt; in dieser (mit Einnahme von weisser, polyphenolfreier Schokolade) blieben die Blutdruckwerte unverändert (Dirk Taubert et al. Effects of Low Habitual Cocoa Intake on Blood Pressure and Bioactive Nitric Oxide. JAMA. 2007; 298(1):49-60).
  • 100 Gramm Heidelbeeren pro Tag senken nach 8 Wochen den systolischen Blutdruck um 7mmHg und den diastolischen um 5mmHg. Dies tun wohl auch alle regelmässig eingenommen Früchte und auch Gemüse durch ihren Kaliumgehalt.
  • 3 Tassen Hibiskus-Tee täglich (Hibiskus-Tee wird auch unter den Namen Karkade oder ägyptischer Malventee verkauft) senkt den systolischen Blutdruck um 13 mmHg. (Studie der Tufts-Uni Boston, USA, D. McKay et al.: systolisch zwischen 120 und 150 mmHg und diastolisch niedriger als 95 mmHg als Ausgangspunkt. Studie über 6 Wochen täglich drei Tassen frisch aufgebrühten Hibiskus-Tee. Dies senkte systolisch im Schnitt um 7 mmHg, das Placebo nur um 1,3 mmHg. Besonders gut sprachen Probanden mit hochnormalen oder schon leicht hypertensiven Blutdruckausgangswerten (130 mmHg oder höher) an: In dieser Subgruppe sank der systolische Wert sogar im Schnitt um 13 mmHg (Placebo: 1,3 mmHg).
  • Einen Viertel Liter Randensaft senkt den Blutdruck via Nitrit und Stickoxid (siehe unten beim Mundwasser) innert drei Stunden systolisch im Schnitt um 10 mmHg; diastolisch um 8 mmHg. (Studie von 2018 in Hypertension)

Rhythmisierung

  • Auch ein regelmässiger Tagesablauf mit gut eingeplanten Essenszeiten ist sehr wichtig. Licht und Nahrung sind die wichtigsten Zeitgeber für den Menschen. Sie sollten synchron sein. Das heisst man sollte eine Hauptmahlzeit und eins bis zwei kleinere Mahlzeiten regelmässig planen.
  • Hypertonie kann auch Folge einer Überreizung sein. Gründe für Überreizung und damit von hohem Blutdruck sind u.a. Lärmexposition oder nächtliche Lichtexposition (Computer oder TV nachts)! Eine Desynchronisation der zirkadianen Rhythmen ist ursächlich wichtig. Hochdruckpatienten sollten deshalb einen möglichst regelmässigen Tagesablauf haben und die Nachtruhe einhalten.
  • Dann natürlich der Dauerstress durch ein Internet und vor allem Socialmedias, die mir nicht nützlich sind, sondern mit Energie absaugen und mich in hohe Touren bringen!
  • Schlafen Sie genug, gut und ungestört?
    Falls Sie durch Lärm oder Licht gestört werden oder durch eigenes Schnarchen unruhig schlafen, probieren Sie dies unbedingt zu verbessern. Gestörter Schlaf kann ebenfalls eine (Mit-)Ursache für einen hohen Blutdruck sein (auch an das Schlaf-Apnoe-Syndrom denken!).
    Man fand, dass eine Schlafdauer von 5 Stunden pro Nacht bei Personen zwischen 30 und 60 Jahren mit einem signifikant erhöhten Risiko für Hypertonie einhergeht. (James E. Gangwisch et al. Hypertension 2006; 47: 833).
    Als Regel kann man aus diversen Studien sagen, dass 1 Stunde mehr Schlaf den systolischen Blutdruck um 16 mmHg senkt!
  • Zudem senkt auch ein regelmässiges Mittagsschläfchen von mindestens 30 Minuten den Blutdruck eindrücklich (ESC-Kongress 2015).

Entspannung

  • Zweimal täglich 11 Minuten eine entspannende 4/7-Atemübung wirkt Wunder (auch direkt vor der Blutdruck-Messung!):

  • Eine tägliche zwanzig minütige (oder einfach zweimal am Tag 10 Minuten bewusst tief atmen!) Atemmeditation senkt den Blutdruck. Sie senkt das Stresshormon Kortisol und entspannt die Blutgefässe. Als Nebeneffekt tritt auch weniger Kopfschmerzen und Asthma ein.(V.Barnes, Psychosomatic Med, Bd.66/6, 2004)
    Bauen Sie ein paar Entspannungsübungen in Ihren Tagesablauf ein >>> Lesen Sie mehr hier!
    Bei der Hypertonie mache ich mit dem „Inner Smile“ beste Erfahrungen. Es ist für die Betroffenen auch eindrücklich, während der Konsultation den „vorher/nachher-Effekt“ zu sehen, messbar, wobei ein grosser Teil sicher der „Deep-Breath-Effekt“ ist.
    Ich instruiere die Leute mit einer geführten inneren Reise durch ihre Arterien, das Lächeln wird dabei erst ins Herz geschickt, dann fliesst es durch die Aorta in den Kopf, dann in die Arme, in die Lungen, Nieren, Bauchraum, Beine. Beim Einatmen aufs Lächeln im Herzen konzentrieren, beim Ausatmen an den entsprechenden Ort schicken. Das wird täglich in Zusammenhang mit der Blutdruckmessung geübt und bei jeder Aufregung im Alltag angewandt. So ist auch ein Langzeiteffekt garantiert.
    Mehr zum „Inner Smile“ hier auf meiner Seite zur: www.dr-walser.ch/entspannung/#inner_smile
  • Ein verspannter Nacken erhöht den Blutdruck. Eine entspannende Nackenmassage kann deshalb den Blutdruck senken. Die Nackenmuskeln schicken ständig Signale in einen Teil des Gehirns, der für die Steuerung von Blutdruck, Herzschlag und Atmung zuständig ist. Sind die Nackenmuskeln verspannt oder verletzt, schicken sie falsche Signale. Dadurch erhöht sich der Blutdruck. (Journal of Neuroscience, www.jneurosci.org/cgi/content/full/27/31/8324)

Und sonst?

  • Regelmässiges Blutspenden senkt den Blutdruck! Bei viermal jährlich sinkt der Blutdruck systolisch und diastolisch um 10mmHg oder mehr – und dies nur bei Hypertonie (und nicht bei normalem Ausgangsblutdruck).(Kamhieh-Milz S et al.; Epub Dec, 2015)
    .
  • Blutdrucksteigernde Substanzen (Medikamente, Drogen):
    Einige Medikamente können als unerwünschte Nebenwirkung den Blutdruck erhöhen: so zum Beispiel das Schmerzmittel Paracetamol (bei mehrmals 1 Gramm pro Woche) oder alle Schmerzmittel der NSAR-Gruppe (Diclofenac, Ibuprofen, Naproxen,…).
    Dann auch die Sympathomimetika, Kontrazeptiva (Antibabypille), Erythropoietin, Ciclosporin, Tacrolimus; Anabole Steroide (Anabolika, Testosteron), Alkohol, Kokain; Lakritze (in Kaugummi, etc…), Ma Huang („herbal ecstasy“)!
    .
  • Nie regelmässig ein antiseptisches, desinfiszierendes Mundwasser anwenden. Anorganisches Nitrat aus der Nahrung wird durch Bakterien in der Mundhöhle n zu Nitrit umgewandelt. Dieses wird dann aufgenommen und zu gefässerweiternd wirkendem Stickoxid (NO) umgewandelt. Durch das Mundwasser wird die Bakterienpopulation in der Mundhöhle dezimiert und die Produktion von Stickoxid reduziert.
    Mehr über gesunde Zahnpflege hier: walserblog.ch/2019/02/02/zahnpflege/

Deshalb können auch Nitrat-reiche Nahrungsmittel – wie z.B. Randen – den Blutdruck auf diese Art via Nitrit und Stickoxid senken (siehe oben).

Medikamente gegen den hohen Blutdruck (Antihypertensiva)

Und erst wenn Sie alles Obige 3 Monate regelmässig getan haben und keine Verbesserung bemerkt haben, denken Sie (mit Ihrem Hausarzt zusammen) an die Einnahme eines Medikamentes.
Falls nur dieser eine Risikofaktor vorliegt, kann eine Blutdrucknormalisierung die Arteriosklerose und damit den Herzinfarkt, den Hirnschlag etc. verhindern. Eine andere Frage ist, ob dies wirklich lebensverlängernd wirkt oder ob die Nebenwirkungen der Medikamente dies verhindern .

Einmal täglich einzunehmende Blutdrucksenker können zu einem Zeitpunkt eingenommen werden, der den Wünschen und den Gegebenheiten des Patienten am besten entspricht.

Ergebnisse der Studien TIME von 2022 (https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01786-X/fulltext ), BedMed und BedMed-Frail sowie eines systematischen Reviews mit Metaanalyse aller derzeit verfügbaren Studien zeigen, dass Blutdrucksenker dann eingenommen werden sollten, wenn die grösste Chance besteht, dass der Patient die Einnahme nicht vergisst.

Die bisher grösste Studie zur Hochdrucktherapie mit Medikamenten, die sog. ALLHAT-Studie (2020, infomed) zeigte, dass die langfristigen Risiken für Endpunkte wie Gesamtmortalität und kardiovaskuläre Morbidität, aber auch Mortalität und Morbidität in Bezug auf KHK, Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz im Endstadium und Krebs zwischen den Gruppen vergleichbar waren. Sie zeigte aber eine Überlegenheit des alten Diuretikums Chlorthalidon gegenüber neueren Blutdruckmitteln in Bezug auf das Schlaganfallrisiko. Niedrig dosierte Diuretika (Thiazid-Diuretika) müssen als wirksamste, sicherste und verträglichste blutdrucksenkende Wirkstoffe gelten und sind Mittel der ersten Wahl (23 Jahre Nachbeobachtungszeit).

Mit einer Monosubstanz kann aber maximal eine Blutdrucksenkung von etwa 20/10 erreicht werden. Man benötigt also bei höheren Werten meist eine Kombination von zwei Mitteln. Dabei kommt es nicht so darauf an, was man kombiniert (Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer oder Sartane, Kalziumantagonisten) sondern nur wie stark die Senkung des BD wird (Schlechte Kombinationen wegen der Potenzierung von Nebenwirkungen sind: ACE-Hemmer + Sartane oder Betablocker + Sartane). Es wird überhaupt allgemein als besser angesehen (und zeitigt weniger Nebenwirkungen), falls 2 oder 3 Hochdruck-Medikamente in niederen Dosen (anstatt 1 in hoher Dosis) eingenommen wird.

Keine systematische medikamentöse Behandlung erhöhter Blutdruckwerte während eines akuten Spitalaufenthalts!

Erhöhte Blutdruckwerte sind während eines akuten Spitalaufenthalts häufig und führen oft zu einer Verstärkung (Intensivierung) der antihypertensiven Therapie oder zur Initiierung einer medikamentösen Therapie bei Personen ohne vorbekannte Hypertoniediagnose. Mehrere Faktoren können tatsächlich den Blutdruck während eines akuten Spitalaufenthalts erhöhen, zum Beispiel Schmerzen, Stress, Angst, Schlafmangel, unbehandelte Schlafapnoe, Entzug oder Fieber. Bei fehlenden Hinweisen für einen hypertensiven Notfall («hypertensive emergency », das heisst mit Endorganschädigung) oder für eine hypertensive Krise («hypertensive urgency », das heisst mit Risikofaktoren für Komplikationen) gibt es während eines akuten Spitalaufenthalts keine Indikation, eine antihypertensive Therapie zu starten oder zu intensivieren. Im Gegenteil kann der Beginn oder die Intensivierung einer solchen Therapie Komplikationen (z.B. Schwindel, Stürze) begünstigen, ohne die Einstellung des Blutdrucks langfristig zu verbessern. Während eines akuten Spitalaufenthalts muss man vorerst hypertensive Notfälle und hypertensive Krisen erkennen und in anderen Situationen auf eine medikamentöse Therapie verzichten. Parallel dazu müssen externe Faktoren, die zu einer Blutdruckerhöhung führen können, gesucht und behandelt werden.
(aus der Top-5-Liste der „smarter medicine“ für die stationäre Allgemeine Innere Medizin, 2023)

Morgens oder abends einnehmen?

Die medikamentöse Behandlung der Hypertonie hat in erster Linie zum Ziel, kardiovaskuläre Ereignisse zu verhindern. Soll im Hinblick auf diese Zielsetzung die Einnahme der Medikamente vorzugsweise morgens oder eher abends empfohlen werden? Zu dieser Frage wird seit über 20 Jahren geforscht – trotzdem gibt es dazu bis heute anhaltende Diskussionen und kontroverse Ansichten. Um hier Klarheit zu schaffen, wurde im Jahr 2011 in Grossbritannien eine Studie gestartet, die unter dem Akronym TIME («Treatment In Morning versus Evening») lief. Das Forschungsprojekt war als prospektive randomisierte Studie angelegt. Je gut 10’000 Personen mit erhöhtem Blutdruck nahmen die Medikamente am Morgen bzw. am Abend ein. Ansonsten unterschieden sich die beiden Populationen nicht: die Beteiligten waren im Mittel um 65 Jahre alt und durchschnittlich leicht übergewichtig, die meisten rauchten nicht. Als primärer Endpunkt galt eines der folgenden Ereignisse: Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulär bedingter Tod.
Die Studie kommt zum Schluss, dass bezüglich kardiovaskulärer Ereignisse statistisch keine Differenz ersichtlich ist, die Einnahme der Medikamente am Morgen oder am Abend also keinen Unterschied mache. Man kann deshalb empfehlen, den Zeitpunkt nach persönlichen Vorlieben zu wählen, allenfalls unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen. (Studie)

Kommentar im zitierten infomed-screen:
„Als Hausarzt kann ich nun in der Sprechstunde die Frage nach dem optimalen Zeitpunkt der Tabletteneinnahme locker angehen. Wichtiger als diese Frage sind wohl Themen rund um den Lebensstil. Immerhin rauchten fast 5% der an der Studie Beteiligten, ein Grossteil war übergewichtig und über 10% hatten Diabetes. Diese Faktoren fallen letztlich eher ins Gewicht, sie sind die eigentlichen Knackpunkte.“

Vorsicht: Ältere Patienten (über 70) und solche mit bereits bestehenden Kranzgefässkrankheiten (KHK) – oder vielleicht immer vor Beginn einer Medi-Therapie immer eine 24-Stunden-Blutdruckmessung (und wo der BD nachts sowieso schon abfällt (= Dipping) auch nicht abends geben.

Im Winter (höhere Blutdruckwerte bei tieferen Temperaturen) sollte intensiver behandelt werden als im Sommer (dann Neigung zu tiefen Werten und Kreislaufkollaps).

Vorsicht Sturzgefahr! Bei betagten Menschen können Blutdrucksenker genauso viel schaden wie nützen. Der Grund: Die Senioren stürzen unter Blutdruckmitteln häufiger. Zu diesem Resultat kommt eine US-Studie mit rund 5000 über 70-Jährigen. Besonders gefährdet waren jene, die bereits einmal gestürzt waren und unter mehreren Krankheiten litten.

Achtung: Bei einer systolischen Blutdrucksenkung auf unter 140 mmHg muss auch der diastolische Blutdruck beachtet – und falls möglich – nicht zu stark, d.h. möglichst nicht unter 80 mmHg gesenkt werden!
( http://www.evimed.ch/journal-club/artikel/detail/schaedigt-ein-diastolischer-blutdruck-das-myokard-unabhaengig-vom-systolischen-blutdruck/)

Man muss sich hier im Klaren sein, dass die Blutdruckmittel ein Riesengeschäft bedeuten (v.a. seit die Guidelines in den vergangenen Jahren immer tiefere Blutdruckwerte für noch normal erklären). Dieser „Kuchen“ ist im Jahr weltweit auf 36 Milliarden Dollar angewachsen und die vier bestverkauften Medikamente gegen Bluthochdruck brachten allein 8 Milliarden Dollar ein!

Gewichtszunahme nach Menopause durch Medikamente

Frauen nach der Menopause Vorsicht vor Antidepressiva und Betablockern: Viele Pillen gegen Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen und andere psychische Probleme begünstigen eine Gewichtszunahme. Sie werden Frauen oft verschrieben beim Übergang in die Wechseljahre – einem Zeitpunkt, wo viele häufig bereits übergewichtig sind.
US-Forscher fanden gemäss der Zeitschrift «Menopause» in einer Studie heraus, dass schon die Einnahme von einem solchen Medikament mit einer stärkeren Erhöhung des Body-Mass-lndex und des Taillenumfangs verbunden war im Vergleich zu Frauen, die keine dieser Arzneien einnahmen. Mit steigender Anzahl der geschluckten Medikamente nahm der Effekt noch zu. Frauen mit einem zu Beginn höheren Gewicht waren zudem anfälliger für eine weitere Zunahme. Die Forscher hatten die Gewichtsveränderungen der Patientinnen nach Beginn der Einnahme von Antidepressiva, Insulin und Betablockern während dreier Jahre verfolgt.
Auf Lebensstil achten
Als Reaktion auf die Ergebnisse der Studie raten die Forscher zur Wachsamkeit bei der Verschreibung solcher Medikamente nach der Menopause: Sie sollten nur mit Bedacht eingesetzt werden. Neben einer minimalen Medikation gelte es im Kampf gegen eine Gewichtszunahme im Alter aber auch, auf Aktivität, Ernährung und Schlafqualität zu achten.

Entscheidend ist, wo sich das Fett befindet

Gute Nachricht für all die Menschen, die mit ihren massigen Beinen hadern: Laut einer neuen Studie haben sie ein geringeres Risiko für Bluthochdruck und Herzkrankheiten. Diese überraschenden Ergebnisse wurden an der Jahrestagung der Amerikanischen Herzgesellschaft (AHA) präsentiert (SOURCES: Aayush Visaria, MPH, Rutgers New Jersey Medical School, Newark, N.J.; Sept. 10, 2020, presentation, American Heart Association virtual hypertension meeting).
Im Vergleich zu Personen mit dünnen Beinen hatten Teilnehmende mit mehr Fett, insbesondere an den Oberschenkeln, eine um 60 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit für Bluthochdruck und Herzprobleme: Der erste Blutdruckwert, der sogenannt systolische, war bei ihnen zu 55 Prozent seltener erhöht; und der zweite Wert, der diastolische, zu 40 Prozent.
Es geht also nicht nur darum, wie viel Fett jemand hat, sondern auch darum, wo sich das Fett befindet. Wir wissen, dass Fett um die Taille herum gesundheitsschädlich ist, aber von Fett an den Beinen (und an den Hüften – man spricht dann von „Reithosen“) kann man das offenbar nicht sagen. Es schützt nach allen bisherigen Erkenntnissen möglicherweise sogar vor Bluthochdruck.

Kochsalzarm essen

In einer grossen Meta-Analyse von 2020 zu der ein sehr übersichtliches visuelles Abstract erhältlich ist (https://pkweb.ch/visabstr), wurde untersucht, wie sich eine reduzierte Kochsalzzufuhr auf den Blutdruck auswirkt. 133 Studien mit über 12’000 beteiligten Personen wurden berücksichtigt. Bei älteren Leuten und solchen mit höheren systolischen Blutdruckwerten war diese Wirkung deutlicher ausgeprägt. Studien, die weniger als 15 Tage dauerten, erfassten die Wirkung der NaCl-Reduktion nicht gut; in längeren Studien war die Abnahme des systolischen Blutdrucks (durchschnittlich um 2,13 mm Hg) viel eindeutiger.
Eine weitere Bestätigung der schon in vielen Studien dokumentierten Bedeutung der Kochsalz-Zufuhr. Das Ausmass der mit einer salzarmen Diät erreichten Blutdrucksenkung mag geringfügig erscheinen, muss aber im Rahmen einer umfassenden nicht-medikamentösen Therapie gesehen werden, bei der ganz sicher auch die Kalorien und eine reichliche Kaliumzufuhr (Früchte, Gemüse!) eine wichtige Rolle spielen und die dann zweifellos eine durchaus relevante Blutdrucksenkung erreichen kann.

Veröffentlicht am 15. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
11. September 2024

CheckUp – Sinn und Unsinn

Wer viel misst, misst auch viel Mist!

Hier gleich zu den wichtigsten Vorsorgeuntersuchungen >>>

Wenn sich eine vitale Dreissigerin oder ein kerngesunder Vierziger einem Checkup unterziehen, dann prüfen Ärzte und Ärztinnen auf Herz und Nieren und wissen schon: Sie finden nichts!

Es ist schön, Gesunde bei einem Checkup zu untersuchen und ihnen schliesslich zu bestätigen, dass es ihnen tatsächlich gut geht. Störend ist allenfalls, dass im Wartezimmer Kranke warten, mit Schmerzen, Risiken und Ängsten. Bedenklich ist es vielleicht, wenn Patientinnen und Patienten nicht mehr von sich aus wissen, wie es ihnen geht. Haben wir etwa die Kunst vergessen, unsere eigene Befindlichkeit zu spüren und in uns hineinzuhorchen? Denn eigentlich wäre es ja meine Frage, die ich als Arzt gerade stellen wollte: Wie geht es Ihnen? Wenn Sie uns nicht mitteilen können, wo es fehlt, dann können wir als Ärztinnen und Ärzte dies schon gar nicht sagen.

Wer hängt eigentlich so sehr am Checkup? Vielleicht ist er noch ein Relikt aus jener Zeit, als man in der Medizin alles für machbar hielt. Und als man meinte, die moderne Diagnostik könne buchstäblich in den Körper hineingehen. Viele denken heute noch so. Einige haben diese Meinung der Realität zuliebe aufgegeben. Der lebendige Organismus funktioniert nicht nach der «Servicementalität», wie dies bei einem Auto der Fall ist. Tatsache ist jedoch, dass die Kassen, die Lebensversicherungen, das Strassenverkehrsamt und viele Arbeitgeber immer noch den Generaluntersuch als Bedingung für den Erhalt des Führerausweises oder für eine Höherversicherung verlangen. Und eine weitere Tatsache ist, dass die Ärzte ungern auf den Checkup verzichten: Sie verdienen glänzend daran. Und so wird sich der Checkup wohl noch eine Weile in der medizinischen Landschaft behaupten können. Als schlechtes Beispiel hat eine Spezialistenvereinigung, die im Raume Zürich massiv Reklame für sich macht und arg absahnt ein „Checkup-Zentrum“ eröffnet. Welch medizinischer Unsinn – und welche Goldgrube… verschiedenorts als „Executive Checkup“ angeboten, kostet bis zu 3500 Franken und enthält neben einer Vielzahl von Tests auch eine Computer- oder Magnetresonanztomographie (CT, MRT) des gesamten Brust- und Bauchraums – notabene Untersuchungen, die eine 200fache (!) Strahlenbelastung eines Thoraxröntgenbildes aufweisen: also ein „Checkup“, der neue Risiken schafft, als diese auszuräumen!

Infarkt nach normalem EKG

Se non è vero, è buon trovato. Man erzählt sich die Geschichte immer wieder: Ein beschwerdefreier Mann geht zum Herzspezialisten und wünscht eine kardiologische Generaluntersuchung. Dieser untersucht ihn nach allen Regeln der Kunst. Er hört ihn ab, macht ein EKG, dann den Belastungstest. Er schaut mit dem Herzultraschall und entnimmt ihm Blut. Schliesslich kann er nach bestem Wissen und Gewissen mitteilen: Ihrem Herzen geht es ausgezeichnet. Aber in den darauf folgenden Tagen kommt es zu einem fatalen Herzinfarkt.

Ein ärztlicher Untersuch bei Menschen ohne jegliche Beschwerden bringt selten etwas an den Tag. Ein schlechtes Herz, das bei den erwähnten kardiologischen Untersuchungen krankhafte Befunde zeigt, kündigt sich an. Es meldet sich mit Angina-Pectoris-Schmerzen bei körperlicher Anstrengung, mit Atemnot, mit deutlich reduzierter Leistungsfähigkeit, mit geschwollenen Füssen. Ein Krebs in einem fortgeschritteneren Stadium macht sich bemerkbar und so lange er sich noch nicht bemerkbar macht, findet man ihn in aller Regel nicht. Wenn man ihn dann findet, ist es meistens schon reichlich spät. Es gibt – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – keinen Suchtest im Sinne einer Krebsfrüherkennung. Ebenso gibt es keinen Bluttest, der auf das Vorhandensein eines bösartigen Tumors irgendwo im Körper hinweist. Die sogenannten Tumormarker, Bluteiweisse, die auf bestimmte Krebsarten hinweisen sollen, haben sich für ein Screening als ganz und gar unzuverlässig herausgestellt.

Viele Tests sind unsinnig

Was bedeutet Screening? Man versteht darunter eine breit angelegte Suchmethode nach einer bestimmten Krankheit. Die in Frage kommende Bevölkerung soll dabei möglichst vollständig diesem Suchtest unterzogen werden. Die zytologische Untersuchung des Abstrichs vom Gebärmutterhals ist ein solches Screening. Die Messung des Augendrucks bei älteren Menschen gehört ebenfalls dazu, wie auch die typischen Hausarzttätigkeiten des Blutdruckmessens, des Blutzuckers, Blutfettbestimmungen und der Blickdiagnose einer Adipositas. Aber viele solcher Tests, die auch Sinn machen und einfach durchzuführen sind, gibt es nicht. Und mancher derartige Untersuch, noch unlängst regelmässig durchgeführt, ist wissenschaftlich nicht mehr haltbar und wird aus dem Repertoire der Präventivmediziner gestrichen. In Tabelle 1 sind die heute gängigen und gebräuchlichen Untersuchungen zusammengestellt. Eine gute und ausführliche Arbeit darüber finden Sie hier: Hunziker S, Hengstler P, Zimmerli L, Battegay M, Battegay E. Check-up-examinations in internal medecine. Internist. 2006;47:55-65.

Es geht hier nicht darum, Angst zu verbreiten, aber die Illusionen sind gefährlich. Es geht auch nicht darum, Patientinnen und Patienten vom Praxisbesuch fernzuhalten. Sie sollen gehen, wenn sie sich ängstigen oder schlecht fühlen. Es ist aber unerlässlich, dass wir alle wieder lernen, mehr uns selber und unserem Gespür zu vertrauen. Mindestens solange man gesund ist und auch so lebt, sollte man sich selbst mehr vertrauen als seinem Arzt. Mancher Patient oder manche Patientin, die sich bei uns untersuchen lassen, sehen in einem unauffälligen Checkup und in einem normalen Screeninguntersuch geradezu einen Freibrief, die bisherige ungesunde Lebensart munter weiterzuführen. Es ist ja alles in Ordnung: Die Ärztin hat gesagt, das Rauchen habe mir nichts angehabt. Screening, so scheint es mir, ist häufig ein Ritual, um mit der Angst vor Krebs und Krankheiten fertig zu werden.

Weitere unsinnige Untersuchungen und medizinische Interventionen werden momentan von den amerikanischen Aerzte-Fachgesellschaften gesammelt: siehe hier weiter unten.

Checkup gegen die Angst – „hidden agenda“

Hinter jedem Wunsch nach einem Checkup verbirgt sich ein Grund. Häufig ist es Angst. Weit wichtiger als der Untersuch an sich ist es, dieser Angst auf die Spur zu kommen und mit den Patientinnen und Patienten das Gespräch darüber zu finden. Ich beginne mein Gespräch beim Checkup-Wunsch des Patienten deshalb häufig mit dem Satz: „Es existieren zwei Risiken, die für den „Checkup“ wichtig sind: ein familiäres (siehe unten) und ein persönliches. Sind Sie in letzter Zeit grosse gesundheitliche Risiken eingegangen?!“ Hier hat dann plötzlich Platz, dass der Mann in letzter Zeit eine Prostituierte besucht hat (und nun fürchtet, eine Geschlechtskrankheit aufgelesen zu haben) – oder er hatte unsicheren Sex mit einer „Unbekannten“ oder er nahm „irgendeine“ Droge an der letzten Party. Dies gehört zur „hidden agenda“ seines Wunsches nach einem Checkup. Sehr oft erweist es sich dann auch, dass ein Bekannter oder Verwandter eine bestimmte Krankheit hat, die man nun fürchtet. Oder die Lebensumstände haben einen grossen Wandel genommen und zur Verunsicherung geführt. Oder am Fernsehen wurde wieder einmal über eine gefährliche Krankheit aufgeklärt. Oder eben: Der frühere Hausarzt hat den Checkup empfohlen, mindestens einmal jährlich.  „Hidden agenda“ bezeichnet seitens des Patienten nicht deklarierte  Beweggründe für einen Arztbesuch. Hierzu gehören auch Erwartungen, Gefühle und Ängste, welche dem Arzt nicht ohne weiteres preisgegeben werden. Mögliche Hinweise auf eine noch nicht entdeckte „hidden agenda“ können sein: spürbare oder geäusserte Unzufriedenheit des Patienten; häufiger Arztwechsel; häufige Konsultationen ohne Veränderungen des klinischen Status; Patienten, welche übertrieben durch ihre Symptomatik beeinträchtigt zu sein scheinen; „schwierige“ Patienten. Das Erkennen einer „hidden agenda“ verhindert unnötige, fruchtlose, im schlimmsten Fall falsch positive Abklärungen, die mit dem Konsultationsgrund eigentlich nicht im Zusammenhang stehen (mehr dazu von Edouard Battegay im Schweiz med Forum 2004;4:196-199 -> check_up.PDF ).

Dazu folgende wichtige Überlegung für Männer:

(durch Anklicken bergrössern)

Was ist dann prophylaktisch wichtig?

Zentral scheint immer mehr die Vermeidung von chronischen Entzündung und Entzündungsneigung in unserem Körper: Dauerstress, Schlafstörung, ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung fördert dies.

Gespräch als Alternative

Also kann auch der an sich unsinnige Checkup durchaus mal Sinn machen. Im Gespräch zwischen Ärztin und Patient wird erörtert, was zur Konsultation geführt hat, was genau ist der Grund, warum gerade jetzt, was sind die Erwartungen, Hoffnungen, Ängste? Und um allfällige Befürchtungen zu zerstreuen, dürfen schon mal einige wenige und einfache Tests durchgeführt werden. Dann gibt es das Gespräch über allfällige Missverständnisse und Illusionen, was den CheckUp und die Screening-Untersuchung betrifft. Im weiteren kann aufgrund früherer schwerer Krankheiten, auch in der nächsten Verwandtschaft, das persönliche Risiko abgeklärt und ein Untersuchungsplan besprochen werden. Und schliesslich ist es durchaus sinnvoll, auch einmal über die Lebensgewohnheiten zu sprechen: das Rauchen, den Sport, das Übergewicht, den Alkohol, die Essgewohnheiten usw. Und wenn Sie dann als Patientin oder Patient von dieser Konsultation und vom Gespräch etwas von all dem nach Hause nehmen können, dann hat sich der Gang zum Arzt gelohnt. Vielleicht kann man dann diese Art von «CheckUp» anstelle des bisherigen periodischen Generaluntersuchs wärmstens empfehlen.

Und noch was: Bei erhöhten Risiken für bestimmte Krankheiten sind regelmässige Untersuchungen nötig. Solche Risikokonstellationen liegen etwa vor, wenn in der Familie gewisse Krankheiten aufgetreten sind, von denen man weiss, dass sie familiär gehäuft vorkommen. Wenn etwa ein Verwandter ersten Grades (Eltern, Geschwister oder Kind) an Dickdarmkrebs erkrankt oder verstorben ist, sind entsprechende Untersuchungen alle paar Jahre angezeigt. In Tabelle 2 sind die Risikogruppen und die empfohlenen Untersuchungen zusammengefasst.

Hier gleich ein Wort zu den modischen Gentests:

Gentests?!

Gemäss einer äusserst gut durchgeführten Studie ist eine simple Familienanamnese, die jeder Hausarzt macht effektiver als komplexe und kostenintensive Genanalysen! Tatsächlich werden bei einer zusätzlichen FA an 10’000 Personen 400 bis 500 Patienten mehr aufgespürt, die der Beratung und einer Betreuung für kardiovaskuläre Risiken (notabene das wichtigste Problem des heutigen Menschen) bedürfen! (Ann Int Med. 2012;156:253 und 315)

Tabelle 1: Die wichtigsten Vorsorgeuntersuchungen

Was: Wer: Wie oft:
Blutdruck alle ab dem 21. Altersjahr alle 3-5 Jahre Messung in Arztpraxis – ev. häufiger, falls in Familie metabolisches Syndrom
Cholesterin + weitere Blutfette a) Männer und Frauen ab 40 Jahren ohne Risiko
b) ab 20 Jahren für Personen, die rauchen oder mit familiärer Belastung für Herzkrankheiten oder erhöhtem Cholesterin, erhöhtem Blutdruck.
a) alle 5 Jahre Blutfettmessung
b) nach ärztlichem Rat, mind. alle 5 Jahre
Blutzucker
(Diabetes mellitus)
über 40 Jahre: übergewichtige Patienten mit einer familiären Belastung für Zuckerkrankheit (Diabetes) Nüchternblutzucker, ev. HbA1c, Wiederholung auf ärztlichen Rat
Bauchumfangmessung Männer über 94 cm
Frauen über 80 cm
Kontrollen gehen zusammen mit Blutdruck, Cholesterin und Blutzucker!
Brustkrebs:
a) Selbstuntersuchung durch Abtastung
b) medizinische Untersuchung
c) Mammographie
Hohes Risiko haben Frauen mit einer Verwandten ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kind) mit Brustkrebs, der vor 40 Jahren aufgetreten ist oder 2 Verwandte 1.Grades vor 60.
a) alle Frauen
b) alle Frauen
c) ?
Bei hohem Risiko: genetische Beratung und jährliche Mammographie nach 35-50jährig!
a) ideal ist monatlich nach der Menstruation
b) bei gynäkologischer Routinekontrolle
c) allgemein sehr umstritten
Eierstockkrebs Hohes Risiko haben Frauen mit 2 Verwandten ersten Grades (Mutter, Schwester, Tochter) mit Eierstockkrebs jeden Alters oder ein Fall von kombiniertem Brust- und Eierstockkrebs oder 1 Verwandte 1.Grades mit Eierstockkrebs jeden Alters und 1 Verwandte 1.Grades mit Brustkrebs unter 50.

b) alle Frauen?

genetische Beratung und jährlich CA 125, Mammographie und Ultraschall!

b) sehr umstritten!

Gebärmutterhalskrebs (Zervixkarzinom) 3 Jahre nach Beginn Geschlechtsverkehr bis 65jährig.
Nicht mehr nach Entfernung der Gebärmutter wegen einer Ursache, die nicht Krebs war.
HPV-Test nie unter 30 Jahren.
3-jährlich Krebsabstrich (PAP).
Bei Frauen im Alter zwischen 25 und 49 Jahren nach einem negativen HPV-Test Kontrollintervall  nur noch alle 5 Jahre!
Bei Frauen über 50 ist sogar ein längeres Intervall vertretbar.
Hodenkrebs alle Männer ab Pubertät oft selbst abtasten!
Dickdarmkrebs
(kolorektales Krazinom)
Hohes Risiko bei einem Verwandten 1.Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) mit Dickdarmkrebs, der vor 40jährig auftrat – oder 2 Verwandte 1.Grades vor 70 – oder familiärer adenomatöser Polypose (FAP).
Risikorechner QCancer >>
Zwischen 50 und 70jährig:
Bis 3 Punkte im Imperiale-Score:
Stuhluntersuchung auf Mikroblutspuren (immunochemischer Test = qFIT) alle 2 Jahre.
Mehr als 3 Punkte im Imperiale-Score:
Dickdarmspiegelung. Wenn bei einer gut gemachten Darmspiegelung nichts gefunden wurde, genügt es, die nächste in zehn Jahren zu machen!
Augendruck (grüner Star) a) alle ab 50
b) Grüner Star in Familie, Diabetes, schwere Fehlsichtigkeit
a) alle 5 Jahre anlässlich Augenkontrolle
b) ab 40 Jahren, Wiederholung auf ärztlichen Rat
Hautkrebs (Melanom) siehe Risikogruppe auf ärztlichen Rat
Prostatakrebs Männer ab 50 Jahren – bei familiärem Vorkommen: ab 40 je nach erstem Resultat (siehe meine Seite dazu!)

Tabelle 2: Risikogruppen

Anstelle von allgemeinen Empfehlungen werden heute viele Vorsorgeuntersuchungen gezielt für Risikogruppen empfohlen:

Hautkrebs Brustkrebs Dickdarmkrebs Herz-Kreislauf-Krankheiten
Personen, in deren direkter Verwandtschaft Hautkrebs vorgekommen ist, Hellhäutige, Lichtempfindliche, die häufig einen Sonnenbrand erlitten haben oder die oft in Aequatornähe waren und kaum braun werden, sowie Patienten mit vielen „Leberflecken“ oder Flecken, die asymmetrisch, grösser als 5 mm sind oder sich schnell verändern oder wachsen. Brustkrebs ist die häufigste Krebsform bei Nichtraucherinnen. Durch regelmässige Selbstuntersuchung mittels Abtastung können viele Formen frühzeitig erfasst werden. Eine Röntgendarstellung der Brüste (Mammographie) wird Frauen über 35 mit bekannter Brustkrebserkrankung der Mutter oder Geschwister vor deren Abänderung empfohlen. Bei allen übrigen Frauen ist sie als Screening-Methode stark umstritten.
(siehe mehr gleich unten)
Über 50jährige, in deren Familie Darmkrebs vorgekommen ist (siehe Tab.3 unten!), sowie solche mit einer bekannten chronisch- entzündlichen Darmerkrankung sollten jährlich Stuhlproben auf versteckten Blutverlust untersuchen lassen (=qFIT).
Ein hohes Risiko besteht auch bei Übergewicht und bei Raucher!
Angehörige von Familien, in denen gehäuft Erkrankungen der Herzkranzgefässe oder Schlaganfälle vorgekommen sind, sowie Raucher und Übergewichtige und junge Glatzenträger sollten sich regelmässig bezüglich Blutdruck, Zuckerkrankheit oder einer Fettstoffwechselstörung untersuchen lassen. Das Ruhe-EKG hat praktisch keinen Vorhersagewert, ob jemand einen Herzinfarkt erleiden wird. Seine Bedeutung liegt darin, die Ursache bestimmter Brustschmerzen zu erklären.


Zervix-Screening (Gebärmutterhalskrebs): genügt ein Intervall von fünf Jahren?

Die hier vorgestellte Studie kommt zum Schluss, dass bei Frauen im Alter zwischen 25 und 49 Jahren nach einem negativen HPV-Test das Kontrollintervall aufgrund des kleinen nach drei Jahren gefundenen Risikos auf fünf Jahre verlängert werden kann. Bei Frauen über 50 sei sogar ein längeres Intervall vertretbar.
(Rebolj M, Cuschieri K, Mathews CS, Pesola F, Denton K, Kitchener H; HPV pilot steering group. Extension of cervical screening intervals with primary human papillomavirus testing: observational study of English screening pilot data. BMJ. 2022 May 31;377:e068776. doi: 10.1136/bmj-2021-068776. [Link])

Junge Frauen leiden immer öfter an Brustkrebs

Zwar treten vier Fünftel der Brustkrebsfälle erst ab 50 auf, am häufigsten ab 70. Jedoch steigen gemäss den Zahlen der Nationalen Krebsregistrierungsstelle in der Schweiz die Brustkrebsrate bei den 40- bis 44-jährigen Frauen seit den 1990er-Jahren fast zwanzig Prozent, bei den 45- bis 49-jährigen rund sieben Prozent.
Zwar ist Brustkrebs über die Jahre weniger tödlich geworden. Dennoch ist er nach wie vor die häufigste Krebstodesursache bei den Frauen (1400 Todesfälle pro Jahr in der Schweiz) – gefolgt von Lungenkrebs (1300).

Zu den Ursachen für die steigenden Brustkrebsraten existieren verschiedene Hypothesen. So dürften bekannte Risikofaktoren wie Übergewicht und Fettleibigkeit, Alkohol- und Tabakkonsum, aber auch ein höheres Alter bei der ersten Schwangerschaft dazu beitragen. Medikamente, die Ernährung oder hormonaktive Chemikalien wie Pestizide stehen ebenfalls im Verdacht. 

Eine frühe erste Menstruation erhöht das Brustkrebsrisiko zusätzlich als eigener Risikofaktor. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Krebsfälle bei jungen Frauen könnte auch sein, dass in dieser Altersgruppe entgegen anderslautender Empfehlung vermehrt Brustkrebs-Früherkennung betrieben wird.

Wichtig dabei ist, dass eine Krebsdiagnose im Leben von jungen Frauen noch einschneidender ist als im höheren Alter. Zudem sind aufgrund des häufig dichteren Brustgewebes Mammografie-Untersuchungen bei unter 50-jährigen Frauen weniger zuverlässig als bei älteren. Das bedeutet, es werden mehr Brustkrebserkrankungen nicht erkannt und es gibt mehr falsch-positive Resultate, die zu teilweise belastenden und aufwendigen Folgeuntersuchungen führen.

Brustkrebs-Screening durch Mammographie?

Minimaler Effekt, aber grosse Verunsicherung und Folgeschäden: Nach gesicherten Statistiken hilft das Screening (alle 2 Jahre eine Mammographie) einer von 1000 Frauen.

 

 

 

Graphik anklicken zum vergrössern.

(Quelle Graphik: Cochrane-Daten | Infografik: Beobachter/AK)

Brust selbst auf Knoten abtasten: Eine App hilft

Frauen können auch selbst etwas tun: Es existiert ein sehr gutes App «Brust-Selbstcheck», die zur Selbstuntersuchung der Brust anleitet. Entwickelt wurde sie auf private Initiative von Brida von Castelberg und Stephanie von Orelli, Chefärztinnen der Frauenklinik Triemli in Zürich. «Wir wollen damit die Wahrnehmung der Frauen stärken und ein Anfreunden mit der eigenen Brust provozieren», sagt Stephanie von Orelli. Denn die meisten Frauen entdecken ihren Brustkrebs selbst. (aus Beobachter 07/19)

Evidenz der Checkup-Untersuchungen

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EVIPREV – Präventions-Empfehlungen verschiedener Schweizer Universitäten

Diese Übersichtstabelle von Eviprev liefert einen raschen Überblick zu den präventiven und gesundheitsfördernden Massnahmen:
Welche Intervention ist wann und bei wem aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz indiziert, beziehungsweise nicht indiziert.
Die EviPrev-Empfehlungen orientieren sich an jenen der U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF), an weiteren internationalen Empfehlungen und solchen von schweizerischen Fachgesellschaften. Sie werden durch das EviPrev Scientific Committee kritisch beurteilt und für die Bevölkerung in der Schweiz zwischen 18 und 75 Jahren aufgearbeitet sowie wiederkehrend aktualisiert und veröffentlicht. Dabei erfolgt eine Kategorisierung nach:

  1. Zu vermeidenden Krankheiten/Risiken (vertikale Achse links)
  2. Altersgruppen (horizontale Achse)
  3. Stärke der Empfehlung bzw. Evidenz (Farbkodierung, Legende oben)

eviprev.ch/wp-content/uploads/2022/01/211208-Tableau-EviPrev-D.pdf

Koloskopie

Zuerst:
Welche Nebenwirkungen hat eine Dickdarmspiegelung:
Hierzu gab es 2013 eine sehr grosse Studie: „Adverse events requiring hospitalization within 30 days after outpatient screening and nonscreening colonoscopies“ von C. Stock et al im gastrointestinal endoscopy  2013.
Von 33000 ausgewerteten  Koloskopien ergaben sich folgende Komplikationsraten:
Perforation: 0.7/1000 (2017 in Zürcher Studie: 1-2 Perforationen/1000!)
Blutung: 0.5/1000 (2017 in Zürcher Studie: 6 Blutungen/1000!)
1:2000-4000 eine nötige Operation deswegen
Herzinfarkte, Schlaganfall u.a. waren nicht häufiger als in einer Kontrollgruppe.

Tabelle 3: Überwachung Dickdarmkrebsgefährdeter (Kolorektales Karzinom) Familien:

Kriterien Methode Alter
1 Verwandte 1.Grades (Eltern, Geschwister, Kinder)
über 40jährig (bei  Auftreten des Dickdarmkrebses
nichts tun
1 Verwandte 1.Grades
unter 40jährig
Koloskopie alle 5 Jahre Beginn mit 25 Jahren
2 Verwandte 1.Grades
Durchschnittsalter >70
nichts
2 Verwandte 1.Grades
Durchschnittsalter 60-70
einmalige Koloskopie 55 Jahre
2 Verwandte 1.Grades
Durchschnittsalter 50-60
Koloskopie alle 5 Jahre 35-65 Jahre
2 Verwandte 1.Grades
Durchschnittsalter unter 40
Koloskopie alle 3-5 Jahre 30-65 Jahre
3 nahe Verwandte Koloskopie alle 2 Jahre 25-65 Jahre
Familiäre adenomatöse Polypose (FAP) Koloskopie jährlich 12-40

Risikorechner QCancer >>

Imperialscore zur Abschätzung des Dickdarmkrebsrisikos mit Alter, Geschlecht, Gewicht, Rauchen:

(Quelle: https://www.rosenfluh.ch/media/arsmedici/2017/24/Das-Koloskopie-Screening-senkt-das-Risiko-an-Darmkrebs-zu-sterben.pdf)
Bis 3 Punkte: immunochemischer Stuhltest auf Mikroblut (qFIT) – darüber: Spiegelung.

Noch zu Kontroll-Koloskopien nach Finden von Dickdarm-Polypen:
Über 65jährige haben ein höheres Risiko für Komplikationen und sehr kleine Ausbeute (nur 0.2% waren bei Kontrolle ein Kolon-Krebs)
(JAMA Intern Med. 2023 May 1;183(5):426-434. doi: 10.1001/jamainternmed.2023.0078)

Choosing wisely

Nicht alles, was die Medizin zu bieten hat, dient dem Patienten. Die US-Initiative «Choosing wisely» (auf Deutsch etwa «Wähle klug») hat bereits über 100 Ratschläge gegeben, worauf Patienten besser verzichten. Die Initiative will helfen, Untersuchungen und Behandlungen zu vermeiden, die häufig, aber unnötig sind – und schaden können. Die US-Konsumentenorganisation Consumer Reports unterstützt die Kampagne, bei der mittlerweile alle medizinischen Fachgesellschaften mitmachen, von Allergiespezialisten bis zu Palliativmedizinern. Jede nennt fünf oder zehn Massnahmen, die «Ärzte und Patienten infrage stellen sollten», und erklärt kurz wieso. In der Schweiz ist ein grosser Trägerverein Smarter Medicine – Choosing Wisely Switzerland gegründet worden. Bereits haben diverse ärztliche Fachgesellschaften ihre Top-5-Listen veröffentlicht:  www.smartermedicine.ch

Auf diesen Listen mit unnützen Therapien und medizinischen Massnahmen finden sich u.a.:

  • Keine Messung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) zwecks Prostatakrebs-Screening ohne eine Diskussion von Risiko und Nutzen.
  • Kein Weiterführen einer Langzeit-Pharmakotherapie bei gastrointestinalen Symptomen mit Protonen-Pumpenblockern (PPI) ohne Reduktion auf die tiefste wirksame Dosis.
  • Vermeiden von nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) bei Personen mit Bluthochdruck, Herzversagen und/oder chronischer Nierenerkrankung.
  • Geben Sie Kindern unter 4 Jahren keine Mittel gegen Erkältung.
  • Planen Sie Wahl-Kaiserschnitte nicht vor der 39. Schwangerschaftswoche.
  • Wenn bei einer gut gemachten Darmspiegelung nichts gefunden wurde, genügt es, die nächste in zehn Jahren zu machen.
  • Werden bei einer Darmspiegelung maximal zwei kleine, harmlose Polypen entfernt, genügt es, frühestens nach fünf Jahren die nächste Darmspiegelung machen zu lassen.
  • Das Osteoporose-Screening lässt man bei Frauen unter 65 und Männern unter 70 Jahren ohne Risiko besser bleiben.
  • Kurzzeitige Bewusstlosigkeit (Synkope): Normalerweise sind weder CT noch MRI nötig.
  • Akute Entzündung der oberen Luftwege und Nasennebenhöhlen: auf Antibiotika kann man oft, auf Röntgen oder CT meist verzichten.
  • Rückenschmerzen: in den ersten sechs Wochen weder Röntgen noch CT oder MRI (ausser bei Nervenausfällen oder weiteren schweren Krankheiten, sog. „Red Flags“!).
  • Verwenden Sie Antipsychotika nicht als Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Symptomen bei Demenz.
  • Bei den meisten älteren Erwachsenen mit Diabetes die Gabe anderer Medikamente als Metformin vermeiden, um einen Hämoglobin-A1c-Wert (HbA1c) von unter 7,5 % zu erreichen; eine moderate Blutzuckerkontrolle ist im Allgemeinen besser.
  • Keine Benzodiazepine oder andere sedativ-hypnotische Arzneien bei älteren Erwachsenen als Mittel der ersten Wahl verwenden gegen Schlaflosigkeit, Unruhezustände oder Verwirrtheit.
  • Leichtere Kopfverletzungen von Kindern: CT nur, wenn absolut nötig.
  • Beschwerdefreie Personen profitieren nicht von der Suche nach Verengungen der Halsschlagader.
  • Keine Antibiotika gegen Bakteriurie bei älteren Erwachsenen verwenden, ausser es liegen spezifische Harnwegssymptome vor.
  • Bei Schwerkranken: eingepflanzte Herz-Defibrillatoren ausschalten, wenn Lebensverlängerung nicht mehr gewünscht wird.
  • Patienten mit Demenz: keine Ernährungssonde durch die Haut.
  • Bei normaler Schilddrüsenfunktion: kein Szintigramm zur Abklärung von Knoten.
  • Bei beschwerdefreien Personen mit Herzgeräusch: Keine wiederholten Ultraschall-Untersuchung des Herzens, wenn ein erster Ultraschall nichts ergeben und sich nichts verändert hat.
  • Bei leichten Herzklappen-Veränderungen ohne Beschwerden: keine Routine-Kontrollen mittels Herz-Ultraschall.
  • Keine Asthma-Diagnose und -Behandlung ohne Untersuchung der Lungenfunktion (Spirometrie).
  • Kein Screening auf Gebärmutterhalskrebs bei Frauen über 65 Jahre, die zuvor diesbezüglich nie Auffälligkeiten gezeigt und kein erhöhtes Risiko haben.
  • Beruhigungsmittel wie Valium bei Senioren nicht als Schlafmittel der ersten Wahl einsetzen.
  • Zur Diagnose von Allergien keine unbewiesenen Labortests oder wahllos ganze «Testbatterien» einsetzen, d.h. nur IgE-Tests auf der Haut oder im Blut, die klinisch beim Patienten anzunehmen sind – und nie die unsinnigen IgG-Tests!
  • Kein Belastungs-EKG (auf dem «Velo») bei Personen ohne Beschwerden und nur kleinem Risiko.
  • Bei beschwerdefreien Personen mit normaler Nierenfunktion: kein Screening auf Verengungen in den Nierenarterien.
  • Kein Screening auf Eierstockkrebs bei Frauen ohne Beschwerden und Risikofaktoren.
  • Entfernung von Metall-Implantaten an Füssen und Unterschenkel: Präoperative Antibiotikumgabe reduziert Wundinfektrisiko nicht wesentlich!
    (Backes M et al. Effect of antibiotic prophylaxis on surgical site infections following removal or orthopedic implants used for treatment of foot, ankle, and lower leg fractures. A randomized clinical trial. JAMA 2017; 318: 2438-2445.)

Schweizer Empfehlungen für den Check-up 2015

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Der vermessene Mann

Quantified Self heisst eine amerikanische Bewegung, die jetzt auch auf Europa übergreift. Junge Männer machen sich dabei zu wandelnden Statistiken. Ihr Ziel: sich zu optimieren.
von Juli Zeh

Morgens nach dem Aufstehen tragen sie ihr Schlafverhalten in eine Tabelle ein. Sie messen Körpergewicht, Lungenvolumen, Grad der Mundfeuchtigkeit. Vor dem Mittagessen haben sie bereits den täglichen Intelligenztest durchgeführt. Sie scannen die Pigmentierung ihrer Haut und messen die eigenen Gehirnströme. Sie dokumentieren akribisch, was sie essen, wie weit sie joggen und was der Toilettenbesuch gebracht hat. Die Daten stellen sie ins Internet. Sie sind keine Untertanen in einer Science-Fiction-Gesundheitsdiktatur, sondern Bürger demokratischer Staaten, die ihre Freiheit dazu nutzen, das eigene Leben in eine Statistik zu verwandeln.
Quantified Self heisst eine wachsende Bewegung aus den USA, die auf Europa übergreift. Die Selbstvermesser rücken dem eigenen Körper mit allerlei technischem Spielzeug auf den Pelz. Vom Stirnband mit EEG-Sensoren bis zum Blutdruckmessgerät mit USB-Anschluss: Durch Selbstvermessung wird die Liebesbeziehung zwischen Mensch und Maschine endlich intim.

Wie eine männliche Magersucht
Den Selbstvermessern geht es um Optimierung. Sie wollen die erfassten Daten nutzen, um ihre Gesundheit, Fitness und Leistungsfähigkeit so weit wie möglich zu steigern. Der Feind heisst nicht Übergewicht und Unsportlichkeit, sondern Unordnung, Kontrollverlust, fehlende Disziplin. Das Ich als Forschungsobjekt: Der Selbstvermesser hofft, sich im Datenspiegel zu erkennen, Fehler auszubügeln und zu einem besseren Leben zu gelangen. Als wäre Glück ein Rechenergebnis, erzielbar durch die korrekte Anwendung einer Formel. So betrachtet stellt Quantified Self eine Art männliche Magersucht dar. Junge Mädchen meinen, durch maximale Askese einem idealisierten Selbstbild näherzukommen; die überwiegend männlichen Selbstvermesser glauben, mit dem Einsatz von Technik eine perfektionierte Version ihrer selbst verwirklichen zu können. Schönheit oder Leistungsfähigkeit sind dabei nur fiktive Ziele, die, ähnlich dem Horizont, beim Näherkommen in immer weitere Fernen rücken.
Die Selbstvermesser rücken dem eigenen Körper mit allerlei technischem Spielzeug auf den Pelz.
In Wahrheit geht es nicht um das Erreichen eines bestimmten Ergebnisses, sondern um die Illusion, mit totaler Selbstkontrolle Herr über das eigene Schicksal werden zu können. Selbstermächtigung durch Selbstversklavung: Genau wie die Magersüchtige führt auch der Selbstvermesser einen Kampf gegen den eigenen Körper. Letztlich wirkt da die religiöse Vorstellung fort, der Weg zur Freiheit des Geistes führe über die Kasteiung des Fleisches. Nur dass die Sünde des 21. Jahrhunderts nicht mehr in sexueller Aktivität, sondern in zu fettem Essen und zu wenig Bewegung besteht. Als frommer Gläubiger nimmt sich der Selbstvermesser jede Möglichkeit zum Selbstbetrug. Die Datenbank ist sein Beichtstuhl, der Dienst an der Technik sein tägliches Gebet. «Selbst, selbst, selbst», lautet das Credo einer Religion ohne Gott, die den Einzelnen zum Schöpfer, zum Designer der eigenen Person erhebt. «Vermessen» ist nicht nur der Körper des Selbstquantifizierers, sondern auch der Anspruch, die totale Konzentration auf sich selbst müsse eines Tages zu Wohlbefinden führen. Egozentrik als Biozentrik.
Im Grunde bräuchte es ja nicht weiter zu interessieren, was ein paar Technikfans mit ihrem Überschuss an Freizeit und Geld anfangen, wenn die Idee von Quantified Self nicht als extremer Auswuchs eines allgemeinen Trends zu deuten wäre. Es sind nicht nur die Selbstvermesser, es ist unsere ganze Gesellschaft, die zunehmend dem Glauben verfällt, physische Perfektion sei das «höchste Gut». Gedüngt wird dieser blühende Irrtum von einer gigantomanen Pharma-, Kosmetik- und Ernährungsindustrie, die ihre Selbstverbesserungspräparate an Mann und Frau bringen will. In der Werbung werden dazu körperbetonte Idealbilder entworfen. Einst behauptete ein altes Sprichwort, es komme auf die inneren Werte an, und damit waren nicht die Blut- und Leberwerte gemeint. Die Ablösung von moralischen Tugenden durch oberflächliche Begriffe wie Schönheit, Fitness, Jugend ist eine bedauernswerte Nebenwirkung des konsumgestützten Kapitalismus. Unser Wirtschaftssystem ist nun mal darauf angewiesen, dass wir permanent durch eine Mischung aus Leistung und Konsum nach Glück zu streben suchen.
Entsprechend anfällig ist unsere Gesellschaft für die Annahme, das Wesentliche am Menschen sei der materielle Teil. Der messbare Mensch ist der vergleichbare und damit selektionsfähige Mensch. Auch wenn jeder Selbstvermesser diesen Gedanken empört von sich weisen würde: Es gab in Deutschland schon einmal eine Bewegung, die meinte, den Wert eines Menschen am Kopfumfang ablesen zu können. Die Selbstquantifizierer befinden sich auf dem Holzweg, wenn sie erklären, die Informationssammelei diene der Aufklärung im kantschen Sinn. Das Mündige an einem Bürger ist nicht der Körper, sondern der Geist. Die Verwandlung eines Lebewesens in Zahlenkolonnen macht den Menschen zum Objekt und läuft damit automatisch Gefahr, Fremdherrschaft zu begründen.

Krank? Selber schuld!
Schon jetzt freut sich das überforderte Gesundheitssystem darauf, Quantified Self sukzessive zu einer allgemeinen Verpflichtung zu erheben, um auf dieser Grundlage Versicherungsleistungen nach dem Selber-schuld-Prinzip zu verweigern. Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen. Ob sie es wollen oder nicht – als Vorreiter in Sachen Körperwahn machen sich die Selbstvermesser zu Versuchskaninchen für das Konzept des Gesundheitsuntertanen. Sie entwickeln und testen Sensoren, die wir vielleicht eines Tages alle am Handgelenk tragen, um auf diese Weise am Bonus-Malus-System der Krankenkassen teilzunehmen. Schon heute können Versicherungen ihre Zahlungen zurückhalten, wenn es um die Verletzungen eines Extremsportlers oder Komplikationen nach einer Schönheitsoperation geht.
Quantified Self verabschiedet sich von einer Vernunft, die zum Bestimmen des richtigen Lebens keinen Taschenrechner braucht.
Die Verknüpfung von Krankheit und Schuld bedeutet nicht weniger als das Ende von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität – zwei Werte, die das Fundament einer demokratischen Gesellschaft bilden. Wer glaubt, Gesundheit und Wohlbefinden könne man sich erarbeiten, indem man entlang von Normen alles «richtig» macht, der mag bald nicht mehr einsehen, warum er mit seinen Versicherungsbeiträgen für die Raucherlungen, Säuferlebern und verfetteten Herzen irgendwelcher undisziplinierter Hedonisten aufkommen soll. Der wird seine Sätze bald mit «Man muss doch nur» und «Ist es denn zu viel verlangt» beginnen. Wer meint, das Schicksal bezwungen zu haben, teilt die Welt in Gewinner und Versager ein und betrachtet körperliches oder seelisches Leid als Charakterschwäche.
Diese Einstellung ist kein Akt der Emanzipation, weder vom Schicksal noch von einem bröckelnden Gesundheitssystem. Sie ist ein Rückschritt in der Geschichte des humanistischen Denkens. Quantified Self verabschiedet sich von einer Vernunft, die zum Bestimmen des richtigen Lebens keinen Taschenrechner braucht. Ein mündiger Mensch kann auf seine Fähigkeit vertrauen, das rechte Mass der Dinge ohne Messgeräte zu ermitteln. Selbstvermessung hingegen ist das Gegenteil von Selbstvertrauen. Im Wunsch, die eigene Existenz möglichst restlos zu beherrschen, drückt sich vor allem die Angst aus, als Individuum in der grossen, weiten Welt der schönen und schrecklichen Möglichkeiten verloren zu gehen. Wir sind alle fehlerhaft. Wir bestehen zum grossen Teil aus Schwächen. Der kleinste Zufall besitzt die Macht, uns zu vernichten. Das Sammeln von Informationen schützt nicht dagegen. Bei Tageslicht betrachtet, ist es nicht mehr als der Versuch, der eigenen Sterblichkeit nicht ins Auge zu blicken.

Der totalitäre Körper
Nichts spricht dagegen, den eigenen Körper und am besten auch Herz und Geist zum Besseren entwickeln zu wollen. Leider fällt es uns Menschen schwer, zu verstehen, dass das immer Bessere nicht im Extrem, sondern in der Balance zu suchen ist. «Nichts übertreiben», lautet ein recht verlässliches Rezept, das nicht zuletzt auch für das Streben nach Wohlbefinden gilt. Gesundheit kann eine Voraussetzung für das gute Leben, nicht aber Selbstzweck sein. Als Endziel aller menschlichen Bemühung entfaltet der Körper totalitäres Potenzial. Ein Staat, der seine Bürger zu dem verpflichtet, was sich ein Selbstvermesser freiwillig abverlangt, wäre tatsächlich eine Gesundheitsdiktatur. Es gilt dafür zu sorgen, dass der Freiheitsverzicht von Quantified Self ein legitimes Hobby bleibt. Und nicht heimlich zum gesellschaftlichen Konzept mutiert.
Im August 2012 erscheint Juli Zehs neuer Roman «Nullzeit» bei Schöffling & Co.
(Tages-Anzeiger: http://tagi.ch/19200678)

Fitness-Tracker

Neben den psychologischen Aspekten warne ich auch vor einer möglichen Fehlinterpretation der gesammelten Daten. Die meisten Menschen sind keine Experten für die Analyse ihrer eigenen Gesundheitsdaten. Falsche Schlussfolgerungen können die Folge sein. Auch die ethischen Implikationen der Technologie müssen thematisiert werden. Wenn Unternehmen wie Amazon ihre Mitarbeiter mit Wearables überwachen, stellt sich die Frage, ob diese Art von „Überwachungskapitalismus“ die Grenze zur Ausbeutung überschreitet.

Fitness-Tracking hat also zwei Gesichter: Auf der einen Seite hilft es, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren, auf der anderen Seite birgt es Risiken für psychische Gesundheit und persönliche Freiheit.

Mehr über die Selbstoptimierungsbewegung hier auf dieser Website >>>


(Copyright beim Cartoonisten/Illustrator)

Veröffentlicht am 06. Juni 2017
Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
21. Oktober 2024