Rolfing – Strukturelle Integration

Lass deinen Körper nicht zum Gefängnis werden.
Erobere deinen Raum und deine Möglichkeiten zurück!

Man kann nicht über den Körper hinausgehen, bevor man ihn nicht befreit hat (Ida Rolf).

„It’s not how deep you go,
it’s how you go deep“ (Ida Rolf)

Die Schüler kommen zum Lehrer und fragen ungeduldig, wann er Ihnen beibringt, wie die Revolution funktioniert.
Der Lehrer: „Wie sitzt ihr?!“

Kurzes Merkblatt übers Rolfing >>> rolfing-merkblatt

 Was ist das?

„Rolfing“ wird nach seiner Begründerin IDA P.ROLF benannt. Sie arbeitete als Biochemikerin am Rockefeller-Institut der Columbia University.

Die Rolfing-Methode will dem Menschen helfen, im Gleichgewicht mit sich selbst und seiner Umgebung zu leben.
Der „Rolfer“/ die „Rolferin“ versucht, das Verhältnis des ganzen Organismus zur Schwerkraft besser zu gestalten und setzt sich als Ziel, den aus der Form geratenen Körper wieder „ins Lot“ zu bringen, um eine bessere Grundlage für die Gesamtpersönlichkeit zu schaffen. Wir lernen, unseren Körper als Ausdruck unserer Person zu erleben.
Rolfing ist eine „Strukturelle Integration“ – mit Betonung auf „Integration“.

Der Rolfer bearbeitet das Bindegewebe, das den Körper umhüllt: Muskelhüllen, Faszien, Sehnen, Bänder, Knochenhaut, Organhüllen und Membranen – die Zeltschnüre des Körpers, wenn man Muskeln als Zeltplanen und Knochen als Zeltstangen betrachtet. Faszien sind zähe Häute aus Bindegewebe, die Knochen, Muskeln und Organe umschliessen und verbinden. Dieses dreidimensionale Netz verleiht dem Körper Zusammenhalt und Form und bestimmt seine Grundstruktur. Faszien tragen zur nötigen Spannung für aufrechtes Stehen und Gehen bei und entlasten so die Muskulatur.

Tensegrity – Konzept der kinetischen Ketten und myofaszialen Verbindungen

„Tensegrity“ bezeichnet ein Bauprinzip der Architektur, das von Richard Buckminster Fuller in den 1960ern begründet wurde. Der Begriff steht für „tensional integrity“. Die Balance von Kompression und Zugspannung wird genutzt, um Strukturen zu bauen. Dies führt dazu, dass sie gleichzeitig leichter und stärker sind. Ein Beispiel für diese Bauweise ist die Kurilpa Bridge in Brisbane, Australien.

Tensegrity-Strukturen kombinieren Flexibilität, Widerstandsfähigkeit und Kraft mit einem Minimum an Energie- und Materialaufwand. Das menschliche muskuloskelettale Netzwerk kann als Paradebeispiel einer „Bio-Tensegrity“- Architektur betrachtet werden. Die körperliche Stabilität beruht nicht auf der Stärke von einzelnen Sehnen und Muskeln, sondern darauf, dass Kräfte durch das körperliche Netzwerk weitergeleitet und verteilt werden.

Copyright Robert Schleip, München

Physiologischerweise wird eine Spannungserhöhung in einer Muskel- Sehneneinheit an die Kette weitergeleitet – unter der Voraussetzung, dass die koordinative und neuronale Steuerung dies ermöglichen und die Weiterleitung nicht durch ungünstige Statik oder myofasziale Dysbalancen behindert wird. Funktioniert dieses Prinzip nicht, kommt es zur lokalen Überlastung.
Häufig findet man dann die grössten Auswirkungen einer Störung in diesem Zugspanungs-Netzwerk diagonal gegenüber (als Beispiel stört eine Blinddarmnarbe im rechten Unterbauch am stärksten im linken Schulter-Bindegewebsbereich).

Fernsehmitschnitt (MDR, 11.11.2010 – Hauptsache gesund) zum Thema Faszien und Rolfing mit faszinierenden Detailaufnahmen aus dem Inneren des Bindegewebes.

Faszinierende Faszien in einer ARTE-Doku: https://youtu.be/-f_Z6qxbhDo

aus DIE ZEIT, Nr. 45/2021

Schwerkraft

Eine besondere Rolle kommt der Schwerkraft zu, unter deren Einfluss wir uns ständig befinden. Faszien verkürzen und verhärten sich unter diesen Einflüssen. Da das Fasziennetz aus einem zusammenhängenden System von Bindegewebehüllen besteht, werden Fehlspannungen von einem Teil des Körpers zu einem anderen übertragen und beeinträchtigen so die Statik des ganzen Körpers. Der Körper gerät aus dem Gleichgewicht, was einen erhöhten  Kraftaufwand für aufrechte Haltung und Bewegung zur Folge hat. Dies führt wiederum oft zu Verspannungen, Ermüdung, vorzeitigen Abnutzungserscheinungen und Schmerzen.
Ida Rolfs grundlegende Erkenntnis war, dass sich das Spannungsmuster der Faszien durch eine ganz bestimmte Form der manuellen Behandlung dauerhaft verändern lässt.
Dabei werden mit präzisem und sensiblem Druck verklebte Bindegewebsschichten gelöst, Verkürzungen im Gewebe gedehnt und verhärtete Stellen geschmeidig gemacht. Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Behandlung von Symptomen, sondern die Verbesserung der Statik des gesamten Körpers, maximale Aufrichtung und ökonomische Bewegungsformen (speziell zum Gehen/Laufen).
(Siehe dazu auch das Tonic Function Model von Hubert Godard: hubertgodard.pdf)

Rolfing ist ein wunderbares Konzept zur Gesundheitsförderung. Es konzentriert sich auf die Nutzung von Ressourcen, sodass Symptome wie Schmerzen oder Skoliose in den Hintergrund treten. Stattdessen rücken freie, ökonomische Bewegungen und Haltungen im Alltag in den Vordergrund. Dabei verschwinden die genannten Symptome oft nebenbei und sekundär.

Alltag als Übung

Bewusstseinsschaffung für diese neuen Haltungen und Bewegungen ist ein grosser Teil dieser Körpertherapie. Ökonomie der Bewegung ist das Ziel, Bewegungsintelligenz wird gefördert (>>>hier am Beispiel des Laufens erklärt).

Die Mitarbeit und Verantwortung des Klienten ist absolut gefordert.

Was können Sie im Rolfing gewinnen?

Bewusstheit im Alltag: die alltäglichen Bewegungen und Haltungen stehen bei mir im Zentrum (Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen). Die Bewegungsintelligenz kann enorm wachsen.
Andere Kräfte neben der heute so allgegenwärtigen Muskelkraft (sprich Bodybuilding, Kraftraum, Fitness…) kennen lernen und gezielt einsetzen: Schwerkraft und Stützkraft der Erde (Gewicht und Gegenkraft) und die elastische Spannkraft des Bindegewebes, der gedehnten Faszien. Diese Kräfte sind „kostenlos“. Die Bewegung wird dadurch katzenhafter und mit mehr Schwung und Sanftheit federnder und entspannter (siehe dazu auch meine Seite zum Joggen und den Nature-Beitrag zur Galoppbewegung des Pferdes), ökonomischer und intelligenter. Die Bewegungsqualität kommt vom im Westen üblichen anpackenden, fixierten und eingeschränkten „To-do“ zum „Not-to-do“, will heissen: Bewegung, die wie von selbst entsteht, mit Nachlassen der aktiven Spannung, geschmeidig.

„Meditative“ Konzentration auf Gewicht spüren, auf Entspannung zu Beginn der Bewegung (anstatt die üblicherweise muskuläre Kontraktion), auf Dehnung, Verlängerung der Mittellinie, des körperlichen Innenraums (anstatt Verkürzung), also um passive Spannung (im Gegensatz zur aktiven Spannung, die verkürzt und staucht), auf Verbesserung des Gleichgewichts (des Gestütztwerdens, des Offenwerdens der Sinnesorgane Auge, Innenohr und Füsse).

Ein Gefühl für Gleichgewicht bekommen, d.h. vor allem in welcher Richtung mein Gewicht fällt, die Schwerkraft auf meinen Körper wirkt.
Dazu Folgendes: Ich höre in meinen Rolfingsitzungen immer wieder, dass es so  mühsam sei, „immer“ an die neuen Haltungen zu denken…
Ökonomische Alltagsbewegung und –haltungen sind ähnlich einer Meditation: Zuerst beginnt man achtsam bei beiden mit dem Einnehmen der neuen Haltung. Dieser bewusste Übergang braucht einen eigenen Raum und auch etwas Zeit. Nachher kann man nur noch die Früchte ernten und alles wird leichter. Die Bewegung geht wie von selbst, also ökonomisch weiter – und die Sitzposition zum Meditieren wird leicht und ruhig. Man kommt in seinen Flow.

Mit der Zeit (und nach einigen Rolfingsitzungen) fängt Ihr Körper an, gegen unökonomische Bewegungen und Haltungen zu rebellieren. Er fordert von selbst, d.h. durch Empfinden eines neuen, leichteren Körpergefühls, diese neu gelernten, ökonomischen, leichten, schwingenden, federnden, katzenartigen Bewegungen und Haltungen.
Weiterlesen >>> Übergänge-Zwischenräume

Bewegung aus Entspannung und von Innen

Sie lernen im Rolfing eine Bewegung, die durch Muskelentspannung ausgelöst  wird und nicht durch Muskelkontraktion. Dies ist eine katzenartige, geschmeidige Bewegung, die häufig durch unser Eigengewicht, die Schwerkraft startet.
Sie beginnt mit Entspannung.
Dies ergibt eine (Geh-) Bewegung aus den inneren, achsennahen  Muskeln mit ihrem Bindegewebe. Dies ist unser „Core“ oder Kern. Er besteht aus dem dadurch aktivierten und lang gebliebenen Psoasmuskel (Schwingen der Beine hinten weit in den Bauch hinein von den Rippen her) und auch aus dem beim Joggen stets aktiven tiefsten Bauchmuskel Transversus abdominis und den kleinen direkt an der Wirbelsäule gelegenen Multifidi-Muskeln.
Die oberflächlichen Muskeln bleiben dabei entspannt. Diese oberflächlichen Haltemuskeln würden bei Aktivierung viel mehr zu Verspannungen und Verkürzungen neigen. Dies würde dann zu einer Kompression unseres Innenraums führen.
Sie erleben dabei das Gefühl, Ihr Körper laufe von selbst.

Zum „Tao und Zen“ in der Strukturellen Integration und zum Komplementären von Yoga, Tai Chi, etc. siehe mein Blogbeitrag strukturelleintegration.info/2017/05/19/yoga-und-rolfing/

Stabilität durch Länge und aus dem Bindegewebe!

…und nicht aus Muskelkräftigung:
Die Stabilität und gleichzeitig Beweglichkeit unseres Körpers wächst mit der Länge des Gewebes und nicht mit der Stärke der Muskeln (was zur Verkürzung und Steifigkeit führen kann): Sie entsteht also besser aus der elastischen Spannkraft der „Bindegewebshülle“ (Lesen Sie dazu meinen Blogbeitrag über das „Body Stocking“!).

Video über Rolfingarbeit (Astrid Widmer)

Was es nicht ist!

Rolfing ist kein esoterischer Gemischtwarenladen, kein Drive-in-Satori, kein Instant-Yoga, wo man nur hinzuliegen hat, durchgeknetet wird und als neuer Mensch rausgeht. Es ist nicht die Methode, die DIE Veränderung in Ihrem Leben bewirkt (wie viele erwarten). Rolfing ist keine Psychotherapie.

Körperarbeit im allgemeinen oder hier das Rolfing allein führt noch nicht zu Deinem „Wahren Selbst“. Sie kann aber sehr fruchtbar sein, wenn bereits die Voraussetzungen dazu vorhanden sind, aber körperlich-strukturelle Einschränkungen, wie Verpanzerung, Unflexibilität, Ungleichgewicht behindern.
Vor allem nützt sie kaum etwas bei der Selbstfindung, um einen persönlichen Mangel, eine Leere und das Fehlen einer Essenz im Leben zu beheben oder zu verdecken.
Dasselbe kann man über „Energiebefreiung“ durch Rolfing sagen: Wenn man „Buddha-Natur“ erreichen will, ist dies etwas viel Substantielleres und Tieferes als Energie (Chi, Prana, Kundalini, Shakti, Libido, Orgon…). Doch müssen all diese Energien erfahren und befreit sein, wenn jemand in der Lage sein soll, in den Bereich der „Essenz“ zu gelangen. Dazu hilft auch wiederum das Rolfing.

Kurzum: Rolfing ist eine klar strukturell ausgerichtete Körpertherapie, was natürlich nie ausschliesst, dass nicht psychische, psychosoziale, energetische und Selbstfindungs-Dinge Raum haben und auch geschehen…

psychosomatische Aspekte

Wie steht’s? Wie geht’s?
Man fühlt sich belastet.
Jemand ist ein schlaffer Sack.
Man ist aufrichtig.
Man hat keinen Halt mehr.
Man steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden…
Man ist präsent.
Man ist blockiert oder in Bewegung.
Ich gehe dorthin, wo es mich (vom eigenen Körpergewicht) hin zieht.


(Copyright beim Cartoonisten/Illustrator)

Leichtigkeit und Gleichgewicht ergibt Inneren Frieden!


(Copyright beim Cartoonisten/Illustrator)

Lesen Sie mehr über den „Inneren Frieden“ in meinem Blog:
walserblog.ch/2015/10/01/frieden/

Ist das nicht diese furchtbar brutale Körpertherapie?!

Ida Rolf war eine Visionärin, was die Rolle des Bindegewebes (des Fasziennetzes) im menschlichen Körper anbelangt. Sie bezog die Form des Körpers auf das Feld, in dem er sich befindet und dem er unterworfen ist: auf die Schwerkraft. Diese Ida Rolf war keine gute Pädagogin oder positiver ausgedrückt: ein sehr pragmatisch arbeitendes Genie (siehe auch ihr sehr unsystematisches Buch „Rolfing – strukturelle Integration“, Hugendubel) und konnte ihren direkten Schülern nicht deutlich weitergeben, was sie da tat. Diese Rolfer der 1.Generation kopierten deshalb ihren sehr kräftigen Arbeitsstil (man nannte sie auch „Miss elbow“!) ohne genau zu wissen, warum sie das taten.
So wurde dieses frühe Rolfing häufig zur „Widerstandsarbeit“ und der Rolfer zum brutalen „Widerstandsbrecher“.
Heute ist auch der theoretische Hintergrund nachgearbeitet: Man „weiss, was man tut“ und mit dem Widerstand wird sehr sorgfältig umgesprungen, d.h. auch viel sanfter gearbeitet!

„Haltung“ hat nichts mit „Halten“ zu tun!

Die Bewegung entsteht bei der „Tonic Function“ (Hubert Godard) und bei der „Normal Function“ (Hans Flury) – der Idealbewegung des Rolfings – aus den intrinsischen Tiefenmuskeln und ihres Bindegewebes (des sog. „Core“ oder Kerns), was auch andere Konzepte als zentrales Element ihrer Methode betrachten (Spiraldynamik, Pilates, Feldenkrais, Alexander…).

Die Stabilisierung des Körpers geschieht durch Aktivierung dieser Kernstrukturen (Einschub für Mehrdenker: Mein Kollege und Scharfdenker Hans Flury würde hier sofort Einwände anbringen: Für ihn existiert in der Normal Function keine Stabilität, alles fliesst und das macht Angst und damit muss der Mensch leben lernen. Alle „gemachte“ Stabilität ist unökonomisch, verkürzt, staucht…). Dr.med. Hans Flury orientiert sich konsequent an den Eckpfeilern der Strukturellen Integration nach Ida Rolf: die strukturelle Betrachtung des menschlichen Körpers, die Rolle der Schwerkraft und die Plastizität des Bindegewebes. Hubert Godard, der als ehemaliger Tänzer einen breiten Erfahrungshintergrund unterschiedlichster Bewegungsschulen (u.a. Alexander-Technik, Feldenkrais) besitzt, erweiterte die strukturelle Sicht- und Arbeitsweise des Rolf-Movement um neurologische, sozial-psychologische und künstlerische Gesichtspunkte. Er ist Professor für die Erforschung der menschlichen Bewegung an der Universität VII in Paris. Godard eröffnet unserem ursprünglich recht „statischen“ Konzept ganz neue Dimensionen, indem er die Bedeutung der Koordination und der sensorischen Orientierung in die Behandlung des Fasziensystems mit einbezieht.

Normal Function (Flury) Tonic Function (Godard)
Physische Struktur Sensorische Struktur
Elastizität des Bindegewebes Tonische Funktion der Muskulatur
Physikalische Gesetze von Schwerkraft und Stützkraft Hirn-Nerven-Physiologie

(Tabelle aus Hans Georg Brecklinghaus, Atem Bewegung,
Handbuch für Strukturelle Integration, Freiburg 2007
)

Beide Ansätze ergänzen sich sehr gut und können je nach Situation und Klientel sehr spezifisch angewendet und kombiniert werden.

 Eine häufige Haltung in der 1. Welt

Die Abbildung des Mädchens zeigt deutlich die Problembereiche vor der 1.Sitzung: Das Gewicht (oder Lot) fällt insgesamt eher hinter der Mittellinie runter. Die Beine sind überstreckt, das Becken oben nach vorne gekippt. Die Bauchwand drängt vor. Der Brustkorb sackt zusammen und ist insgesamt nach hinten gekippt. Die Vorderseite des Körpers ist kürzer als die Hinterseite. Der Kopf muss mit einer starken Verschiebung nach vorne ausgleichen. Die Atmung ist dadurch sowohl im unteren Rücken, wie auch im oberen Brustkorb eingeschränkt.
Hier gleich eine Bemerkung aus der Praxis: Diese Betrachtungen am stehenden Körper sind mit Vorsicht zu geniessen. Ein wahres Bild einer Grundstruktur eines Menschen sieht man nur in Bewegung, v.a. im Gehen (Unterscheidung von Haltung (muskulär, schnell wechselnd) und Struktur (bindegewebig, nur langsam wechselbar: z.B. durch Rolfing eben…)).

Die Abbildung des Mädchens nach zehn Rolfing-Sitzungen zeigt die Veränderungen im Sinne einer integrierten Struktur. Sie sind in den Umrisszeichnungen durch die eingetragenen Achsen der grossen Körperblöcke verdeutlicht.
Im Idealfall verändert sich die Struktur in einer Serie von zehn Sitzungen hin zu horizontalen Körperebenen. Man würde aber die Integration erst in den (Alltags-)Bewegungen sehen, die geschmeidiger und katzenartig  v.a. mit elastischer Spannung des Bindegewebes und mit der Schwerkraft/Gewicht und nur minimal mit aktiver Muskelkraft ausgeübt werden können.

In der Regel besteht eine Behandlung im Rolfing aus einer Folge von etwa zehn aufeinander aufbauenden Sitzungen.
Die Körperstruktur ist nach einer solchen Serie besser geordnet. Aufrechte Haltung und Bewegung fallen leichter, der Brustkorb kann sich weiter dehnen und erlaubt eine freiere, tiefere Atmung. Fehlbelastungen von Gelenken und belastende Spannungsmuster im Gewebe sind verringert. Oft hat dies die Verminderung oder das Verschwinden von Schmerzen zur Folge. Patienten berichten meist von einem Gefühl der Leichtigkeit und des allgemeinen Wohlbefindens.
Dieses gute Körpergefühl kann sich auch auf die Psyche übertragen. Eine aufrechte und entspannte Haltung wirkt sich oft positiv auf das Selbstbewusstsein aus. „Mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen“ gibt vielen Menschen ein Gefühl von Sicherheit und Ausgeglichenheit.

Besser  joggen

Wie läuft’s denn so?!
Gehen Sie Ihrem Jogging-Stil auf den Grund und optimieren Sie Ihr Training Schritt für Schritt. Für optimale Gelenkschonung und begeisternde Lauf-Effizienz gebe ich auch persönliche Tipps während eines Rolfingprozesses.

Empfehlen kann ich auch die Rolferin Astrid Widmer in Zürich, die das Joggen nach derselben „afrikanischen“ Methode lernt: www.rolfingpraxis.ch!

>>> Mehr zur Haltung bei anderen Sportarten und -übungen: www.dr-walser.ch/haltung_im_sport/!

Faszien und Rückenschmerzen

Tatsächlich stehen die Faszien im Verdacht, chronische Schmerzen zu verursachen. Der Grund: Versteift sich das Bindegewebe, drückt es offenbar auf darin liegende Nerven und löst so mitunter qualvolle Pein aus. Kreuzschmerzen etwa sind vermutlich in vielen Fällen nicht auf abgenutzte Bandscheiben zurückzuführen, sondern auf eine versteifte Lendenfaszie.

Wie „trainiere“ ich die Faszien am effektivsten?

Vor allem federnde und schwingende Bewegungen halten Faszien elastisch. Dazu braucht es keine eigentlichen „Übungen“ – die Alltagsbewegung und -haltung sollte federnd und schwingend sein. Im Rolfing lernen Sie auch dies. Geduld ist dabei wichtig: Ein Effekt setzt erst nach mehreren Monaten ein.

Faszien und Nervensystem

Es hat sich gezeigt, dass während der Manipulation des Bindegewebes das (autonome) Nervensystem hochaktiv ist. Robert Schleip hat dies in einer spannenden Übersichtsarbeit zusammengefasst und verweist dabei auf die Präsenz von Mechanorezeptoren im Fasziensystem (v.a auf die interstitiellen Rezeptoren), aber auch auf neu entdeckte fasziale glatte Muskelzellen. Dies könnte die vom Behandler erlebte Faszienplastizität stimmig erklären. Es deutet auch auf einen engen Zusammenhang zwischen Faszien und Vegetativum hin. Faszien als Aussenstellen des autonomen Nervensystems. Jede Manipulation der Faszien ist vor diesem Hintergrund auch eine Einwirkung auf das Vegetativum und jede Veränderung des autonomen Nervensystems kann eine unmittelbare wie langfristige Veränderung im Faszientonus bewirken (www.somatics.de/Osteop_Mediz/Faszien.htm).
Literatur zum Verhältnis von Rolfing zur viszeralen Osteopathie: Peter Schwind, Faszien- und Membrantechnik, 2003, Urban & Fischer, München (www.muenchnergruppe.de).

Sehr lesenswert auch der Artikel von Hans Flury in Osteopathische Medizin (und Interview mit Peter Schwind).

Faszientraining

Neuerdings nennen viele Rolfer ihr Wirken auch „Faszientraining“.
Hier drei Beispiele:

  1. Robert Schleip: „Faszien Fitness“, Riva
  2. und hier auf meiner Website ein PDF-Dokument als Selbstanleitung: www.dr-walser.ch/faszientraining.pdf .
    Dazu nur soviel: Das Wichtigste im Rolfing sollte die Integration unseres Körpers sein – und diese wird durch diese Faszienübungen kaum verbessert. Für meine Ansicht der Dinge sind die Übungen auch zu wenig präzis erklärt, auf was es exakt ankommt, will man wirklich die Faszien in erster Linie trainieren (und nicht vor allem die Muskeln).
  3. Das „Falten gegen die Wand“ von Hans Flury, eine fast schon optimale Übung zum „Faszientraining“: www.dr-walser.ch/falten_gegen_eine_wand.pdf .
    Eine weitere wunderbare alltäglich begleitende Übung kann der „Flight of the Eagle“ sein: Anleitung.

Bewegung aus dem Fasziennetz

Einschub: Raubtiere, Katzen bewegen sich vor allem aus dem Bindegewebe!

Zum Beispiel lassen Katzen sich beim Springen zuerst in das elastische Netz (oder die Feder) ihres Bindegewebes fallen und lassen sich dann spielend, leicht hinauskatapultieren.

Schwung im Galopp durch Katapult-Muskeln

Amüsantes aus Nature 421, 35-36 (2003):
Als Alan Wilson vom Royal Veterinary College in Hatfield vor drei Jahren mit seinen Studenten die Leistung von Pferdemuskeln berechnete, kam die Gruppe zu einem überraschenden Schluss: Bewegen sich Pferde nur mit Muskelkontraktion, scheint ihr Bewegungsapparat für einen Galopp mit einer Geschwindigkeit von über 40 Kilometern pro Stunde zu schwach. Daher suchten die Forscher nach einem weiteren Antriebsmechanismus – und wurden fündig. Pferde können demnach ihre Muskeln und Sehnen wie Gummibänder spannen Anmerkung Thomas Walser: Dies impliziert das alte Knochen/Muskel-Modell des Körpers – Falls Wilson Ida Rolf kennen würde, dächte er vielleicht auch an die elastische Spannkraft des Bindegewebes, des Fasziennetzes!), die gespeicherte Energie schlagartig entladen und diese „Katapulte“ zur Beschleunigung einsetzen.
Für die Untersuchungen liessen die Wissenschafter Pferde auf Kraftmessplatten, die präzise den Druck der Hufe auf den Untergrund messen, traben und filmten die Tiere beim Galopp auf einem Laufband. Aus den so gewonnenen Daten berechneten sie den Bewegungsablauf für ein Vorderbein. Dabei bezogen sie die Winkel aller Gelenke, die Kräfte, die auf Muskeln und Sehnen einwirkten, sowie die Beschleunigung der verschiedenen Teile des Beins in die Rechnung ein. Als die Forscher die Bewegung anschliessend in einem Computer simulierten, entdeckten sie den Katapult-Mechanismus: Während der Vorderhuf des Pferdes aufgesetzt ist und sich der Oberkörper im Schwung über diesen hinweg nach vorne schiebt, werden die Muskeln und Sehnen gedehnt. Die dabei gespeicherte Energie wirft das Bein anschliessend katapultartig nach vorne und macht es damit bereit für den nächsten Schritt. Nur so könnten Pferde die schnelle Schrittfolge bei einem Galopp durchhalten, erklärt Wilson. Die Katapult-Muskeln, die einen hohen Anteil an langfaserigem Kollageneiweiss enthalten, das sich gut dehnen lässt, produzieren laut den Berechnungen der Forscher rund hundertmal mehr Leistung als ein nur über Muskelkontraktionen funktionierender Bewegungsapparat. Auch bei Kamelen und Straussen vermutet das Team einen ähnlichen Mechanismus. Schliesslich hätten alle grossen und langbeinigen Tiere das Problem, dass grosse Muskeln langsamer und weniger effizient sind als kleine, erklärt Wilson.
Selbst der Mensch könnte seine Muskeln und Sehnen als Gummibänder gebrauchen, vermutet er. Auf ihren Kraftmessplatten und Laufbändern schreiten und rennen deshalb – ausser Pferden, Straussen und Kamelen – auch Versuchspersonen. Haben also Katapulte den Weltrekordhalter Tim Montgomery in 9,78 Sekunden über die 100-Meter- Distanz geschleudert? In einigen Jahren sollte die Antwort hierauf bekannt sein, hofft Wilson im Artikel von Nature… Würde er Rolfing kennen, hätte er die Antwort bereits heute zur Hand!

Und dann dasselbe beim Menschen im Jahr 2008:
„Auf den Spuren der Rumpfmuskeln“ erschien im Schweiz.Med.Forum: www.dr-walser.ch/rumpfmuskeln.pdf .
Was mir dabei ins Auge gestochen ist:
„Dabei zeigt sich, dass die Rumpfmuskulatur beim Patienten mit chronischen Rückenschmerzen tendenziell früher aktiviert wird – und nicht verspätet!“
Und dann den Schluss daraus: „Übungen zur Stabilisierung der Wirbelsäule (gemeint ist das Auftrainieren der Mm. obliquus ext., obl.int. und des transversus abdominis – Zitat: „Bei Bewegungen des Rumpfes werden diese Muskeln vorsorglich aktiviert, um der Wirbelsäule zusätzlichen halt zu geben.“) stellen bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen indessen nach wie vor eine sinnvolle therapeutische Intervention dar.“
Man könnte diese Resultate aber auch ganz anders interpretieren. Im Rolfing unterscheidet man ein allgemeines Prinzip der optimalen Bewegung und auch Haltung, eine allgemeine Bedingung wäre besser, und eine kleine Zahl spezieller Bedingungen (die nicht ganz immer eingehalten werden können). Die allgemeine: Jede Bewegung wird durch selektive Reduktion von aktiver Spannung ausgelöst. Allgemein und physikalisch korrekt: Jede Zustandsänderung (Beschleunigen, Bremsen, Richtungsänderung) des Körpers oder eines beliebig kleinen Teils des Körpers wird durch eine Nettokraft bewirkt, die bei selektiver Reduktion von aktiver Spannung in Erscheinung tritt. Diese Nettokraft ist immer die Schwerkraft oder die elastische Kraft gedehnter Faszien oder beides.
Beim optimalen Stehen geben in einer leichten Faltung die gedehnten Faszienschlingen so dem Körper den Halt wie gespannte Gummibänder – und nicht die Rumpfmuskeln (siehe genauer zusammengefasst hier: www.dr-walser.ch/oekonomie_der_bewegung.pdf).

Manchmal muss man die allgemein gültige Ansicht verlassen und das Ganze mit mehr Distanz betrachten. Es geht dabei aber ein Bruch auf (nach Bachelard: siehe dazu mein Gespräch mit dem Hans Flury: www.dr-walser.ch/hansflury/!), der für uns Wissen-schafter schwer zu ertragen ist.

Weitere Körperarbeit als Ergänzung

Man kann überspitzt sagen, dass wir durch dieses Intrinsisch-Werden der Bewegung, durch die Aktivierung der Kernstrukturen und durch die Verbesserung des Gleichgewichtes in der „Normal Function“ des Rolfings  „kostenfrei“ auch die spiralige Verschraubung der Körperstruktur erreichen, die im Konzept der Spiraldynamik angestrebt wird.
Sie ist eine wunderbare Ergänzung zum Rolfingprozess: Stabilität und Flexibilität kann dadurch noch zunehmen.
Umgekehrt profitiert die Spiraldynamik durchs Rolfing in besserem Gleichgewicht und in der Verlagerung auf die intrinsische Bewegung.

Dies kann man auch über sehr gut angeleitetes Pilates, Feldenkrais und die Alexandertechnik behaupten.

Die hoch besungene „Stärkung“ dieser Rumpfstabilisatoren (Tiefenmuskeln) erreicht man übrigens frank und frei mit gut ausgeführtem Joggen – oder auch mit Wandern/Gehen/Flanieren oder (fischähnlich gutem) Crawlen!

Yoga, Tai Chi, … als Ergänzung

Dazu Lesen Sie mehr in meinem Blogbeitrag strukturelleintegration.info/2017/05/19/yoga-und-rolfing/.

Myofasziale Triggerpunkttherapie als Ergänzung

Seit den grundlegenden Arbeiten von Travell und Simons („Myofascial Pain and Dysfunction“, Williams & Wilkins, Baltimore, 1983/92) existiert ein neues Paradigma der Schmerzmedizin: Viele Bewegungsapparat-Schmerzen haben ihren Ursprung in der Muskulatur. Durch Überlastung oder Überdehnung können in einem Muskel Zonen unbeweglicher Zellen entstehen, die schlecht durchblutet und daher schmerzhaft werden. Diese erkrankten Muskelstellen lassen sich tasten:
Hartspannstränge mit empfindlichen Stellen (sog. Triggerpoints). Dort lässt sich ein Schmerz provozieren, der oft in andere Körperregionen ausstrahlen kann (sog. Referred pain). Durch geeigneten manuellen Druck und Dehnung dieser Triggerpunkte, zusammen mit Faszientechnik, passiver und aktiver Dehnung des ganzen Muskels lässt sich der Schmerz und zusammenhängende vegetative und neurologische Symptome auch nach langer Zeit wieder beseitigen.
Damit können häufig auch unklare Schmerzzustände (wie chronische Kopfschmerzen, Zustände nach Schleudertrauma, chronische Prostatitis und andere Beckenschmerzen (auch Dysmenorrhoe), Gesichtsschmerzen (auch Kieferschmerzen oder Glossitis), Karpaltunnelsyndrom,
Tennis- oder Golfer-Ellbogen, chronische Achillessehnenschmerzen, etc. gelöst werden. Es ist aber sehr wichtig, dass man durch diese lokale Therapie die Gesamtintegration des Körpers nicht stört, d.h. es erfordert auch eine Kombination von lokaler Arbeit mit der strukturellen Integration (Rolfing!). Diese Technik, die neben dem Bindegewebe (im Rolfing) auch den Muskel einbezieht und damit ergänzend wirkt, habe ich im IMTT gelernt (www.imtt.ch).

Beispiel einer Schmerzausstrahlung (hier aus Triggerpunkten der Scalenimuskel):

Evidenz / Forschung:

    • Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz, Embodiment und in Biorobotik (v.a. durch das Team von Prof.Dr. Rolf Pfeifer, Universität Zürich, Dep. of Informatics: www.ifi.unizh.ch/ailab/ – sehr spannend sein Buch „How the Body Shapes the Way We Think, a New View of Intelligence“) ergaben sehr ökonomische und menschliche Bewegungen von einfachsten Robotern mit den Rolfing-Prinzipien der Bewegung. Im Gegensatz dazu laufen die kompliziert Hirn-gesteuerten Roboter, z.B. von Sony, völlig unnatürlich und mit enormen Energieverbrauch.
    • Rückenschmerzen und keine Ende?
      Führt das Wuchten des Kühlschranks beim Umzug zwangsläufig zu Rückenschmerzen? Ist Bettruhe bei Beschwerden im Kreuz wirklich die beste Therapie? Und sind Röntgenaufnahmen und bildgebende Verfahren die Ultima ratio aller Diagnostik? Maurits W. van Tulder vom Vrije University Medical Centre in Amsterdam ist daran gelegen, einige verbreitete Mythen und Halbwahrheiten zu korrigieren, die sich um Rückenschmerzen ranken (M.W. van Tulder, Schwerpunkt: Rückenschmerz: Die Behandlung von Rückenschmerzen Mythen und Fakten, Der Schmerz 6/2001).
      Er berichtet, dass nur sehr wenige der herkömmlichen Therapieansätze wirklich halten, was sie versprechen. So konnte nachgewiesen werden, dass Bettruhe, Physiotherapie (Krankengymnastik) und Übungstherapie bei akuten Schmerzen wirkungslos bleiben. Dies gilt übrigens auch für Akupunktur. Bei chronischen Verläufen ist eine Intervention mit Antidepressiva und Akupunktur ebenfalls unwirksam.
      Also Schmerzen und kein Ende? Als gesichert gilt, dass die Behandlung akuter Rückenschmerzen mit entzündungshemmenden und entspannungsfördernden Medikamenten den Krankheitsverlauf verkürzen und chronische Verläufe verhindern hilft. Trotz aller Beschwerden sollte auf Bewegung nicht verzichtet werden – vor allem bei chronischen Schmerzen sollte der Behandlungsschwerpunkt auf aktiven Übungen liegen. Auch verhaltenstherapeutische Anwendungen und gemischte Behandlungsprogramme (Chirotherapie/manuelle Eingriffe, wie Rolfing oder Triggerpunkttherapien in Kombination mit Rückenschulung/Haltungs- und Bewegungsverbessernde Massnahmen (wie ich dies z.B. in meine Rolfingsitzungen integriere) erwiesen sich als zielführend.
    • Laufen oder joggen fördert die menschliche Evolution – Forscher überprüften, welche charakteristischen Merkmale das Laufen ermöglicht hatten. Dazu gehörte die Entwicklung von langen, federartig arbeitenden Sehnen ( > Bindegewebsfaszien als Ausläufer ), die besonders Energie sparend sind. Muskeln sorgen dann für die Stabilisierung des Körpers beim Laufen (D.M.Bramble, D.E.Liebrman, Endurance running and the evolution of Homo; Nature 432,345-352, 18 Nov 2004).
    • Integrative Programme gegen chronische Rückenschmerzen, die Arbeitsplatzinterventionen (Ergonomie, Alltagshaltungen), kognitive Elemente und direkte Arbeit am Patienten beinhalten, sind viel effektiver als die Arbeit am Patienten allein: siehe hier: wonca-bmj-340.htm
      Auch bei Nackenschmerzen nachgewiesen: Bei hartnäckigen Nackenschmerzen sollte man nicht gleich zu Schmerzmitteln greifen. Besser sind Übungen, die man bis zu achtmal täglich macht. Auch Wirbelsäulen- Manipulation durch eine Fachperson, etwa einen Physiotherapeuten, half besser als Medikamente.
      Das zeigt eine Studie der Northwestern Health Sciences University in Bloomington (USA) mit fast 300 Teilnehmern (Annals of Internal Medicine, 2012 Jan 3;156(1 Pt 1):1-10).
    • Evid Based Complementary Altern Med. 2014 Jul 2. pii: 2156587214540466: Gait Changes Following Myofascial Structural Integration (Rolfing) observed in children with Cerebral Palsy. Hansen AB et al.
      Abstract: Children with spastic cerebral palsy experience difficulty with ambulante ation. Structural changes in muscle and fascia may play a role in abnormal gait. Myofascial structural integration (Rolfing) is a manual therapy that manipulates muscle and soft tissues to loosen fascia layers, reposition muscles, and facilitate alignment. This study aimed to document gait characteristics of 2 children with cerebral palsy and (2) effects of myofascial structural integration on their gait. Children received 3 months of weekly therapy sessions by an experienced practitioner. Gait parameters were recorded at baseline and after treatment using an electronic walkway. Children with cerebral palsy demonstrated abnormal velocity and cadence, decreased step length and single support times, and increased double support time. After treatment, both children demonstrated improvement for 3 months in cadence and double support time. The objective gait analyses demonstrated temporary improvements after myofascial structural integration in children with spastic cerebral palsy. © The Author(s)
    • Front Pediatr. 2015 Sep 10;3:74. doi: 10.3389/fped.2015.00074. eCollection 2015. Myofascial Structural Integration Therapy on Gross Motor Function and Gait of Young Children with Spastic Cerebral Palsy: A Randomized Controlled . Loi EC et al.
      Abstract: Though the cause of motor abnormalities incerebral palsy is injury to the brain, structural changes in muscle and fascia may add to stiffness and reduced function. This study examined whether myofascial structural integration therapy, a complementary treatment that manipulates muscle and fascia, would improve gross motor function and gait in children <4 years with cerebral palsy. Participants (N = 29) were enrolled in a randomized controlled trial (NCT01815814) or Open Label Extension. The main outcome was the Gross Motor Function Measure-66 assessed at 3-month intervals. Gait (n = 8) was assessed using the GAITRite(®) electronic walkway. Parents completed a survey at study conclusion. Comparing Treatment (n = 15) and Waitlist-Control groups (n = 9), we found a significant main effect of time but no effect of group or time × group interaction. The pooled sample (n = 27) showed a main effect of time, but no significantly greater change after treatment than between other assessments. Foot length on the affected side increased significantly after treatment, likely indicating improvement in the children’s ability to approach a heel strike. Parent surveys indicated satisfaction and improvements in the children’s quality of movement. MSI did not increase the rate of motor skill development, but was associated with improvement in gait quality.
      PMID: 26442234 [PubMed]
    • J Phys Ther Sci. 2017 Jun;29(6):1010-1013. doi: 10.1589/jpts.29.1010. Epub 2017 Jun 7.
      Influence of structural integration and fascial fitness on body image and the perception of back pain. Baur H et al.
      Department Sport Science, University Innsbruck, Austria.

      Abstract: [Purpose] The aim of this study was to examine the influence of Structural Integration and Fascial Fitness, a new form of physical exercise, on body image and the perception of back pain. [Subjects and Methods] In total, 33 participants with non-specific back pain were split into two groups and performed three sessions of Structural Integration or Fascial Fitness within a 3-week period. Before and after the interventions, perception of back pain and body image were evaluated using standardized questionnaires. [Results] Structural Integration significantly decreased non-specified back pain and improved both „negative body image“ and „vital body dynamics“. Fascial Fitness led to a significant improvement on the „negative body image“ subscale. Benefits of Structural Integration did not significantly vary in magnitude from those for fascial fitness. [Conclusion] Both Structural Integration and Fascial Fitness can lead to a more positive body image after only three sessions. Moreover, the therapeutic technique of Structural Integration can reduce back pain.
      PMCID: PMC5468186 Free PMC Article
    • Wilczyński J, Habik Tatarowska N, Mierzwa Molenda M. Deficits of Sensory Integration and Balance as Well as Scoliotic Changes in Young Schoolgirls. Sensors (Basel). 2023 Jan 19;23(3):1172. doi: 10.3390/s23031172. PMID: 36772216; PMCID: PMC9919114.
      Abstract:
      The aim of this study was to assess the relationship between sensory integration and balance deficits as well as scoliotic changes in young schoolgirls. The study comprised 54 girls aged 11 years with scoliotic changes. The Clinical Test of Sensory Integration and Balance of the Biodex Balance System platform were used to analyze the deficits in sensory integration and balance. Scoliotic changes were assessed using the Diers Formetric III 4D optoelectronic method. In the present study, there was a significant relationship between sensory integration and balance deficits as well as spine curvature angle (°) (p = 0.01), vertebral surface rotation (°) (p = 0.03), pelvic tilt (°) (p = 0.02), and lateral deviation (mm) (p = 0.04). The integration of the sensory systems has a positive effect on the structure of the intended and controlled movement as well as body posture and the development of the spine. In the treatment of scoliotic changes, one should also consider exercises that improve sensory integration as well as position and balance reactions.
      https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9919114/
    • J Clin Med. 2022 Oct 5;11(19):5878. doi: 10.3390/jcm11195878.
      Influence of Rolfing Structural Integration on Active Range of Motion: A Retrospective Cohort Study, Andreas Brandl et al.

      Abstract:

      Background: Recent work has investigated significant force transmission between the components of myofascial chains. Misalignments in the body due to fascial thickening and shortening can therefore lead to complex compensatory patterns. For the treatment of such nonlinear cause-effect pathology, comprehensive neuromusculoskeletal therapy such as the Rolf Method of Structural Integration (SI) could be targeted.
      Methods: A total of 727 subjects were retrospectively screened from the medical records of an SI practice over a 23-year period. A total of 383 subjects who had completed 10 basic SI sessions met eligibility criteria and were assessed for active range of motion (AROM) of the shoulder and hip before and after SI treatment.
      Results: Shoulder flexion, external and internal rotation, and hip flexion improved significantly (all p &lt; 0.0001) after 10 SI sessions. Left shoulder flexion and external rotation of both shoulders increased more in men than in women (p &lt; 0.0001) but were not affected by age.
      Conclusions: An SI intervention could produce multiple changes in the components of myofascial chains that could help maintain upright posture in humans and reduce inadequate compensatory patterns. SI may also affect differently the outcome of some AROM parameters in women and men.


    • www.rolfing.ch/faszienforschung/

 Weitere Links

26minütiges Video von Mathias Avigdor, Rolfer in der Westschweiz  – u.a. auch Interview mit Hubert Godard: rolfing: 26 minütige Präsentation auf Deutsch

Schweizerisches Rolf-Institut: www.rolfing.ch
Europäisches Rolf-Institut: www.rolfing.org
Internationales Rolf Institute in Boulder: www.rolf.org

Einige Punkte der strukturellen Bewegungslehre (Normal Function von Flury) und das Tonic Function Model von Hubert Godard.

Die Laufhaltung als Beispiel einer ökonomischen Bewegung.

Zur Haltung bei anderen Sportarten und Körperübungen lesen Sie hier mehr: www.dr-walser.ch/haltung_im_sport/!

Und hier ein Gespräch mit Hans Flury über Theorie und Praxis des Rolfings.

Und hier noch von Wolf Wagner (auf englisch) eine Einführung der wichtigsten Fragen, die die Theorie der „Strukturellen Integration“ absteckt!

Und auf meiner Website über das Gleichgewicht und über den Rundrücken – und in meinem Blog u.A. über das Tao und Zen im Rolfing oder über den „schönen flachen Bauch“.
Zur Achtsamkeit im Alltag (in der alltäglichen Bewegung und Haltung).

Video über meine Rolfingkollegin Astrid Widmer bei der Arbeit

Literatur:

Ein sehr gutes Übungsbuch der „Normal Function“, d.h. ökonomischen Alltagsbewegung: Die neue Leichtigkeit des Körpers, Dr.med.H.Flury, Rolfer und Arzt (PDF hier).

Hubert Ritter: „Rolfing – Strukturelle Integration“,
München 2012, ISBN: 978-3-9812781-1-8

Faszien als sensorisches und emotionales Organ – Faszien als Sinnesorgan von Robert Schleip, Katja Bartsch

Sammlungen von Rolfing-spezifischen Arbeiten im Internet:
rolf.org/
pedroprado.com.br/
resourcesinmovement.com/articles-archive/

Veröffentlicht am 26.06.2017 von Dr.med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
19. April 2024

Gleichgewicht

Das (strukturelle) Gleichgewicht des menschlichen Körpers

Definitionsannäherungen

Gleichgewicht ist der Zustand eines Körpers, in dem sich alle angreifenden, aus Bewegung, Trägheit, Reibung und externen Einflüssen resultierenden Kräfte beziehungsweise Drehmomente gegenseitig aufheben und die Summe aller wirkenden Kräfte Null ist.
Auf den menschlichen Körper übersetzt heisst das: Die Kräfte, die von aussen auf uns wirken (Schwerkraft und Normalkraft) sind „im Gleichgewicht“ mit den Kräften, die in uns wirken (Muskelkraft, Elastische Spannkraft des Bindegewebes, Turgor = Innendruck unserer Säfte).
In statischen Haltungen, wie Stehen und Sitzen befinden wir uns in einem labilen Gleichgewicht: Es ist ein dynamisches Kreisen um einen Nullpunkt. Am besten macht man auch daraus eine feine Bewegung, also z.B. im Stehen ein leichtes Hin- und Herfalten in der Zickzacklinie. Auch unsere Sitzstellung sollten wir immer wieder mal verändern.
Gleichgewicht ist also in der Bewegung leichter zu finden.

Was ist nun das Neue in der „Normal Function“  (NF) im Rolfing?

Dazu Hans Flury (ausführlicher in meinem Interview mit ihm):
„Wie entsteht Bewegung?“ Dafür braucht es eine Kraft, und aus Erfahrung (!) sagt dann jeder, dass Muskeln arbeiten müssen.
Bei einem ruhenden Körper oder einem, der sich gleichmässig und gradlinig bewegt sind alle Kräfte im Gleichgewicht und neutralisieren sich. Die richtige Antwort lautet also: das Gleichgewicht der Kräfte muss gestört werden. Dann taucht eine Nettokraft (schönes Wort!) auf, die bewegt. Wir können das Gleichgewicht der Kräfte nur über die Muskeln stören, vom ökonomischen Gesichtspunkt aus aber auf zwei entgegengesetzte Weisen: wir erhöhen aktive Spannung, oder wir vermindern sie. Im ersten Fall verbrauchen wir mehr Energie, im zweiten sparen wir Energie ein. Damit war das Prinzip von NF formuliert und die „Nettokräfte“, die Bewegung auslösen oder verändern, sind zudem immer die Schwerkraft oder die elastische Kraft der Faszien oder beide. Das passt dann sehr schön dazu, dass dies die „zwei fruchtbaren Ideen“ sind, die Ida Rolf in die Betrachtung des Körpers einbrachte.
Das Gleichgewicht hat also auch etwas mit (maximaler) Ökonomie zu tun.
Die Ausarbeitung der speziellen Bedingungen war bei dieser Ausgangslage dann relativ einfach.

Es existieren gewisse Regeln (hier anhand des Menschen in Bewegung erklärt):
Die (maximale) Ökonomie der Bewegung – eine allgemeine Bedingung (oder Prinzip) und 3 Merkmale als Folge davon:
(Grundlage der strukturellen Bewegungslehre – u.a. in der Strukturellen Integration nach Ida Rolf)

Die allgemeine Bedingung oder das allgemeine Prinzip:
Jede Bewegung wird durch selektive Reduktion von aktiver Spannung ausgelöst.

  1. Bewegung wird durch Muskelentspannung ausgelöst statt durch Muskelkontraktion.
    Dass Agonisten „ökonomisch“ bewegen können, sollten auch die Antagonisten zuerst loslassen (When flexors flex, extensors extend.)
    >>> Gewicht spüren (Schwerkraft).
    .
  2. Zu Beginn einer Bewegung wird die Mittellinie (der Innenraum des Körpers) länger statt kürzer.
    >>> Dehnung spüren (Elastische Spann- oder Federkraft gedehnter Faszien – statt Stauchung).
    .
  3. Das Gleichgewicht (balance und support) wird in der Bewegung besser statt schlechter.
    >>> Gestütztwerden spüren (Stützkraft der Erde: „Sich setzen“ wie eine vorsichtig hingestellte Einkaufstasche).

Also: „Gratiskräfte“ benützen: Schwerkraft und Stützkraft  oder Normalkraft der Erde, elastische Spannkraft des Bindegewebes und nicht primär und nur minimal die Muskelkraft und wenn, dann v.a. die intrinsischen, tiefen, achsennahen Kernmuskeln. Zuviel Muskelarbeit („active tension“) staucht und verkürzt (tonische Anteile). Ökonomische Bewegung ist ruhig, schwingend und geschmeidig (katzenartig).

Die Stabilität und gleichzeitig Beweglichkeit unseres Körpers wächst mit der Länge des Gewebes und nicht mit der Stärke der Muskeln (was zur Verkürzung und Steifigkeit führen kann): Sie entsteht also besser aus der elastischen Spannkraft der „Bindegewebshülle“ (Lesen Sie dazu meinen Blogbeitrag über das „Body Stocking“!).

Einschub: Raubtiere, Katzen bewegen sich vor allem aus dem Bindegewebe!

Zum Beispiel lassen Katzen sich beim Springen zuerst in das elastische Netz (oder die Feder) ihres Bindegewebes fallen und lassen sich dann spielend, leicht hinauskatapultieren >>> schön sichtbar auf diesem Youtube-Video:

Es resultieren drei Eigenschaften des Gleichgewichts:

  1. Tiefenaktivität oder Kernstabilisierung und Oberflächenentspannung
    – auch Stabilität durch Länge und aus dem Bindegewebe (siehe „Body Stocking“!)
    Es ist für unser Gleichgewicht förderlich, wenn tiefe Strukturen in unserem Körper aktiv werden und die Stabilisierung übernehmen und oberflächlich gelegene sich entspannen können. Diese tiefen Strukturen nennt man auch „tiefe Rumpfstabilisatoren“, „lokale Muskeln“ oder „Core“ (Psoasmuskel, Beckenboden = M. Pubococcygeus, M. Transversus abdominis, Mm. Multifidi und Mm. Rotatores, M. Serratus, M. Longus colli,…).
    Siehe dazu auch „Die Segmentale Stabilisation“!
    Jede optimal ausgeführte Alltagsbewegung und -haltung beginnt mit der Aktivierung des sog. lokalen Systems, also der tiefen Rumpfstabilisatoren. Erst wenn diese aktiv sind, können die globalen, oberflächlichen Hüllmuskeln ökonomisch und entspannt arbeiten!
    .
  2. Hüftgelenksaktivität oder „Hüftachse hinter dem Lot“
    Für das Gleichgewicht ist es wichtig, dass das Hüftgelenk  primär benützt wird und aktiv wird (dies im Vergleich zum Knie, welches häufig bei uns schon sprachlich im Vordergrund steht: „in die Knie gehen“, „Kniebeuge“…).
    Als schönes Beispiel hierfür gilt die „halbe Hocke“, die vor allem aus den Hüftgelenken kommt. Mit ihr kann man wunderbar entspannt (ein grösseres und auch kleineres) Gewicht heben.Dann die Federung aus der Hüfte beim Gehen (Hüftachse hinter Schulterachse) – oder die leichte Faltung beim Stehen, etc..
    Zu optimalem Stehen und Gehen im Gleichgewicht lesen Sie in Kurzform hier (und mit mehr Anspruch hier: „Ökonomie der Bewegung“).
    .
  3. lange Mittellinie mit vorne konvexer Form
    Förderlich für die zwei obigen Qualitäten und das Gleichgewicht ist dann eine lange Mittel- und Frontallinie des Rumpfs (von Kinn bis Schambein), was auch ein langer Innenraum des Oberkörpers bewirkt, den man immer durch eine vorne konvexe Mittellinie erreicht (also durch ein senkrechtes Brustbein und ein Schambein, das hinter dem Lot liegt: Schultergürtel und Kopf können ruhig auf diesem Rumpf balancieren).
    Man weiss auch aus Studien, dass die Wirbelsäule aufrichtenden Mm. Multifidi erst aktiv werden können, wenn sich die Mittellinie des Rumpfs in der vorne konvexen Form befindet. Beim Rundrücken (hinten konvex – Becken vor Lot) sind sie inaktiv!

Diese drei Regeln oder Merkmale bedingen und fördern sich gegenseitig.

Einschub: Wir besitzen noch den Oberkörper der Vierbeiner mit all seinen Nachteilen, weil wir aufrecht stehen!

Wir Menschen neigen im Leben zur steten Verkürzung im Oberkörper an der Vorderseite und entwickeln im Alter häufig einen Rundrücken, da wir noch immer den Oberkörper eines Vierbeiners besitzen. Diese haben sinnvollerweise die Hinterwand des horizontalen Oberkörpers verstärkt (Wirbelsäule und starker Rippenkasten hinten), da dort dann all seine Organe aufgehängt sind.

Ein Körperteil, der lange Zeit aufrecht ist, verstärkt sein Gleichgewicht mit einem zentralen Pfeiler. Wir sind noch zu wenig lang auf zwei Beinen – und deshalb liegt unsere Wirbelsäule im Brust- und Bauchraum noch immer hinten (als viel ökonomischer in der Mitte – was im Hals übrigens bereits geschehen ist, da die Hälse bereits im Tierreich immer aufrecht sind).
Bei uns Zweibeiner wird deshalb die Vorderseite und – verheerender – der ganze Innenraum im Bauch und Brustraum gestaucht (viele Hohlräume, Luft und Wasser!). Damit wird u.a. unsere Bauchwand nach aussen gedrückt und muss ständig durch eine angespannte äussere Bauchwand gehalten werden, was wiederum unsere Vorderseite massiv verkürzt! Ein „Kampf“ im Teufelskreis, der immer verloren geht und im unansehnlichen Spitzbauch endet.
Deshalb kann ein schöner, wohl geformter, flacher Bauch nur erreicht werden, wenn vor allem der Rektus-Bauchmuskel entspannt und lang bleiben kann: siehe dazu mein spezieller Blogbeitrag.

Auf dieser Abbildung sieht man links eine normal geschwungene Wirbelsäule und rechts eine Hyperkyphose der Brustwirbelsäule. Bei diesem Rundrücken rechts fehlen alle drei obigen Kriterien eines Gleichgewichts!

Sehr verkürzt und prägnant könnte man sagen: Bei einem Becken, das etwas hinter dem Lot liegt und der Kopf obendrauf balanciert, sind die wichtigen, tiefen Core-Muskeln aktiv. Beim Becken vor dem Lot, welches auch einen Kopf, der nach vorne hängt, verursacht, sind diese tiefen Rumpfstabilisatoren inaktiv – und der ganze Oberkörper, inklusive Wirbelsäule sind gestaucht und verkürzt!

Prüfen, ob man im Gleichgewicht ist:

Wie kann ich prüfen, ob ich mich im Gleichgewicht befinde?

  1. globale Anzeichen sind
    – Gefühl der inneren Aufrichtung ohne Anstrengung.
    – viel Innenraum im Rumpf: tiefere Atmung möglich, Energie fliesst ungehindert von den Beinen bis in den Kopf.
    – wache Sinne (Augen, Ohren, Sensibilität in Fusssohlen, aber auch im übrigen Körper).
    – allgemein belebter, sehr wach und präsent.
    – „in seinem Zentrum ruhen“
    – „leichter sein, sich leichter bewegen“
    .
  2. Im Stehen ist der Schwerpunkt in mir und über den Füssen. Das Gewicht spüre ich in der ganzen Fusssohle gleichmässig verteilt (hinten + vorne + aussen + innen).
    Das Becken befindet sich unter dem Schultergürtel oder dahinter (Hüftgelenksaktivität). Die oberflächlichen Muskeln vor allem des Oberkörpers sind entspannt – auch die Kiefermuskeln, der Nacken und die Zunge – und auch die Füsse (Tiefenaktivität).
    Siehe auch „Normal Stance“ auf Seite 2 der „Ökonomie der Bewegung“:
    1. Füsse beckenbreit und parallel, Sohlen entspannt, Boden spüren.
    2. Gewicht innen & vorne auf dem Fuss
    3. Knie leicht nach innen
    4. Becken wie Schublade nach hinten gleiten lassen.
    Schambein hängt zwischen den Beinen.
    Becken ist hinter der Mittellinie.
    5. Bauch, Gesäss und Hüfte sind locker.
    6. Brustbein schwebt hoch und vorne. (NICHT hochziehen. Wie drittes Auge dort, das auch gerade nach vorne blicken kann.)
    7. Schultern hängen frei, sind nicht nach hinten gezogen.
    8. Kopf sitzt frei oben drauf – wie Boje. Blick nicht fixiert, sondern offen. Auch Ohren offen und wach.
    VON UNTEN BEGINNEN!
    Das Gleichgewicht im Stehen ist labil – machen Sie durch feine Bewegungen etwas Dynamisches daraus.
    Testen Sie als gutes Beispiel das optimal ökonomische Stehen am Stehpult.
    .
  3. Im Gehen und Laufen spüre ich, wie mich das Gewicht des Oberkörpers nach vorne zieht (der Schwerpunkt ist etwas vor dem Körper,…).
    Brustbein gleitet waagrecht nach vorn; das Gewicht des Oberkörpers ist der Motor; Oberkörper und Becken bewegen sich gleichmässig und ruhig; die Beine schwingen von selbst aus dem Bauch, wie aufgehängt am Rippenbogen; die Füsse werden ohne Zutun von der Ferse bis zu den Zehen federartig gespannt.
    >>> ansonsten alle Punkte wie unter Stehen!

    .
  4. Im Sitzen:
    Füsse flach am Boden (eher etwas auseinander und parallel >>> Knie fallen nach innen >>> Sitzbeine gehen auseinander >>> Beckenboden wird passiv gespannt) >>> VOR Sitzbeine sitzen >>> Becken ist entspannte Schüssel mit flachem Boden.
    >>> sonst alles wie im Stehen.
    Auch im Sitzen immer wieder mal die Haltung wechseln und etwas Dynamisches daraus machen.

Warum stehen viele Menschen nicht im Gleichgewicht – mit dem Becken vor dem Lot und dem Oberkörper nach hinten gedehnt (und fallen so immer leicht nach hinten, resp. müssen sich mit oberflächlichen Muskeln (v.a. Bauchwand und vordere Oberschenkel) vor dem Nachhintenfallen retten??
Diese obige Haltung „rastet richtig gehend ein“ (in den oberflächlichen Muskeln und Bändern): Man fühlt sich „stabil“ wie in einem Liegestuhl liegend. Dies ist aber eine „Pseudo-Stabilität“.
Die Gleichgewichtsstellung ist hingegen ein etwas labiles Pendeln um den Gleichgewichtspunkt, ein leichtes Falten (siehe auf Seite 1 der „Ökonomie der Bewegung“.).
Hier ist zu erwähnen, dass v.a. im Stehen und im Sitzen (zwei schwierige Haltungen des Zweibeiners Mensch) die Stellung häufig etwas verändert werden sollte. Dies bringt mehr Leichtigkeit, Bewusstheit und Entspannung in das Ganze.

Leichtigkeit und Gleichgewicht ergibt Inneren Frieden!

Lesen Sie mehr über den „Inneren Frieden“ in meinem Blog: walserblog.ch/2015/10/01/frieden/

Bewegungsmeditation für ein besseres Gleichgewicht (Zentriertheit)

Die „Bewegte Stille“ ist eine vierphasige Bewegungsmeditation, bestehend aus Niederwerfung, Windrose, Wirbeln und einer Hinführung in die Stille. Dabei werden die vier Schlüssel zur Lebendigkeit verwendet: Bewegung, Atem, Stimme und Achtsamkeit:

Slackline

«Slackline»: So heissen die elastischen Bänder, die man immer häufiger in Parks zwischen zwei Bäumen aufgespannt sieht. Darauf zu gehen, fördert die Reaktionsfähigkeit, die Koordination und das Gleichgewicht. Dabei gilt: Je länger die Leine, umso schwieriger wird es, sich möglichst lange darauf zu halten.
Immer mehr vor allem junge Menschen entdecken den Spass auf der langen Leine. Manche entwickeln sich dabei zu wahren Akrobaten: Sie springen darauf wie auf einem Trampolin und machen Saltos. Dabei landen sie entweder wieder mit den Füssen auf dem Band, auf Rücken, Bauch oder Po. Letztes Jahr fanden in Zürich die ersten Schweizer Meisterschaften im «Slacklinen» statt.
In den Schulen werden sie viel häufiger gebraucht, da sich gegenüber früher die koordinativen Fähigkeiten der Schüler drastisch verschlechtert haben. Die elastische Leine ist dafür das passende Trainingsgerät, weil es daneben erst noch Spass macht. Zudem wirkt es erfrischend auf das Gehirn, wenn man zuvor und nachher konzentriert gearbeitet hat. Balancieren auf der Leine hilft beim Abschalten.
Samuel Volery und Tobias Rodenkirch, Studenten der Bewegungswissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, konnten in ihrer Masterarbeit bestätigen: Balancieren auf der «Slackline» fördert auch die Konzentrationsfähigkeit. Sie haben sogar nachgewiesen, dass dieser Effekt einen Monat später noch vorhanden war, auch ohne das Training. Grund: Das Hirn macht einen Lernprozess durch.
Von dem Training profitieren aber auch ältere Menschen: In einer Studie liessen deutsche Wissenschaftler der Uni Osnabrück Senioren im Alter zwischen 60 und 72 zweimal pro Woche während 20 Minuten auf dem Band üben. Mit Erfolg: Schon nach drei Wochen Training stellten die Forscher eine deutlich verbesserte Gleichgewichtsfähigkeit fest. Ein gutes Gleichgewicht ist für Senioren zentral, um im Alter mobil und unabhängig zu bleiben.
• Mehr Infos unter www.mobilesport.ch , www.slacktivity.ch

 

Gleichgewicht bei sportlichen Aktivitäten >>> siehe hier auf dieser Website.
insbesondere beim Joggen!
Lernen des Gleichgewichts durch ROLFING!

Veröffentlicht am 17. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
26. Dezember 2022

Geplauder mit Hans Flury

Haben wir vielleicht einfach ein viel zu grosses Hirn für unser Glück?

Dr.med. Hans Flury, geb. 1945, studierte in Zürich Medizin. Dort praktiziert er seit 1978 als anerkannter „Rolfer“ die Strukturelle Integration nach Ida Rolf und die von ihm entwickelte Bewegungsschule der normalen Bewegung (Normal Function – Lit.2). Er nennt sich selbst einen Psychoanarchisten.

lieber hans 

mir schwebt ein projekt vor, ein lockeres gespräch mit dir – stück für stück – über haltung, bewegung, rolfing, wissenschaft, philosophie, nonsense – das übliche halt…
Meine hinterabsicht dabei ist, dies dann hier zu veröffentlichen , quasi als thinktank. Es scheint meine mission zu sein,  gute ideen unters volk zu bringen…

Dies könnte z.b. so beginnen:

Lieber Hans,
zuerst will ich mit Dir über die körperliche Haltung des Menschen sprechen und dort v.a. über den Paradigmenwechsel weg vom Muskel zum Bindegewebe als tragendes Substrat. „Haltung“ ist ja eigentlich ein völlig falsches Wort, da eine ökonomische Haltung (Du nennst  es „Normal Function“) alles andere als mit „Halten“ zu tun hat, welches dann durch Muskeln ausgeführt würde. Eigentlich muss ein Mensch erst mit Muskel halten, falls er aus dem Gleichgewicht gefallen ist. Die Integration, meint hier das Finden des Gleichgewichts ist also das Erste – und dann kann „Losgelassen“ werden, wir können im Gleichgewicht in unserem „Gäder“ (ein sehr malerische Schweizer Wort für das ganze Bindegewebe: Faszien, Sehnen, Bänder) hängen und werden von dem „getragen“. Die Faltbewegung ist ein Musterbeispiel für eine Haltung im Stehen z.B., bei der man im Gleichgewicht alle Muskeln loslassen kann und im Bindegewebe hängt. Kennst Du mein Merkblatt darüber, das ich weitgehend als Extrakt aus deinem spannenden Büchlein „Die neue Leichtigkeit des Körpers“ destilliert habe?! >>> www.dr-walser.ch/oekonomie_der_bewegung.pdf.
Das Wunderbare dabei ist ja, dass durch diese Art Haltung unser Körper eine Ausdehnung in der Längsrichtung erlebt und nicht gestaucht wird.
Dieses Ganze hat auch eine philosophische Dimension, die es diesen Ideen wohl auch schwer macht, in der universitären Medizin anerkannt zu werden: Loslassen, Entspannen, Nicht-Machen, Nicht-Kontrahieren und dabei noch ökonomischer werden! Geht natürlich unserer Leistungsgesellschaft gegen den Strich. Deshalb werden wir Mediziner in der Anatomie mit Muskeln überfüttert, lernen ein sehr mechanistisches, muskelzentriertes Bild der Bewegung und hören vom Bindegewebe und von der Schwer- und Normalkraft im Zusammenhang mit Haltung wenig bis nichts.
Es ist wirklich ein Paradigmenwechsel! Was tun?
lieber Gruss, Thomas
(21. Februar 2008)

Lieber Thomas,
mein erster Eindruck ist der eines ziemlichen Durcheinanders, es gilt also einiges zu klären. Du benützt als Rahmen den „Paradigmenwechsel“. Der Begriff stammt von Thomas Kuhn, glaube ich. Da ich darüber zu wenig weiss, halte ich mich stattdessen an Gaston Bachelards „Die Philosophie des Nein“ (Lit.3), das Ida Rolf uns ja sehr ans Herz legt (Rolf S. 199, Lit.1). Bachelard stellt fest, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht immer stetig verläuft. Manchmal kommt es zu Brüchen. Er unterscheidet und beschreibt fünf Ebenen oder „Erkenntnisweisen“, die durch solche Brüche geschieden sind. Ida Rolf behauptet wie selbstverständlich, Rolfing sei auf einer höheren Ebene angesiedelt als die Anatomie (Feitis, S. 45-47 – Lit.4). Das bedeutet aber, dass es keinen Weg gibt von der Anatomie zum Rolfing, von der Anatomie des Körpers zur Struktur des Körpers. Anatomie gehört auf Bachelards zweite Ebene, die er die Ebene des Realismus oder Empirismus nennt. Wenn wir uns den Begriff der „Haltung“ näher ansehen, gehört er jedoch eindeutig auf die erste Ebene, diejenige des „naiven Realismus“. „Haltung“ ist also ein sinnloser Fremdkörper im Gebiet der Anatomie und auch der Medizin, jedenfalls soweit sie sich mit dem sogenannten „Bewegungsapparat“ beschäftigt. Das sieht man daran, dass es keine Krankheit wie etwa „schlechte Haltung“ gibt. Aber auch dort, wo sich die Medizin legitimerweise in den Bereich des Gesunden erstreckt, wo sie Risikofaktoren erkennt, kommt „Haltung“ nicht vor. Ich erinnere mich, dass früher zahlreiche Kinder ins Haltungsturnen geschickt wurden, eine Praxis, die still und leise verschwunden ist, soviel ich weiss.
„Haltung“ ist also nicht einmal in der Medizin ein sinnvoller Begriff, und wo er noch in Gebrauch ist, handelt es sich um einen ideologischen Fremdkörper aus der ersten Ebene. Haltung beruht ja darauf, dass Muskeln arbeiten. Das tun sie immer, auch wenn jemand eine schlechte Haltung hat. Nicht-Haltung würde heissen, dass jemand plötzlich gelähmt ist, dann fällt er hin. Laut Bachelard werden die Erkenntnisse auf der tieferen Ebene jedoch nicht entwertet. „Gute Haltung“ ist deshalb für die Kampfrichter beim Turnen oder Turniertanz möglicherweise ein nützlicher Begriff. Haltung auf der ersten Ebene wird auf der zweiten zu „Muskelkraft“, auf der dritten zu „aktive Spannung“. Leider ist mit dem Gang auf eine höhere Ebene ein Verlust an Anschaulichkeit verbunden, was wahrscheinlich zu dem beiträgt, was Bachelard ein „obstacle épistémologique“ nennt.
Der Mensch muss sich also immer halten, wenn er nicht gerade liegt, das Muster und der Betrag der notwendigen aktiven Spannung hängen vom Arrangement des Körpers im Raum und seiner Struktur ab.
Der Mensch kann auch nicht aus dem Gleichgewicht fallen. Man könnte das vielleicht sagen, wenn es sich um ein stabiles Gleichgewicht im physikalischen Sinn handelte. Ein Ball in einer Schale ist ein Beispiel dafür. Wenn der Ball bewegt und dann losgelassen wird, kehrt er von selbst an den Ausgangspunkt zurück – ausser, er wird über den Rand gebracht. Dann würde er was man den Bereich des stabilen Gleichgewichts nennen könnte verlassen. Beim menschlichen Körper handelt es sich jedoch immer um labile Gleichgewichte, da gibt es keinen Bereich, bei dem nicht gehalten werden müsste, ja man kann dieses Gleichgewicht gar nicht genau erreichen.
Das Wort „hängen“ gebrauche ich nie. Einerseits gibt es das Bild „in den Bändern hängen“, so wie ein groggy Boxer in den Seilen hängt. Wichtiger ist, dass ich jedes mal, wenn ich meinen strukturellen Integrationsgrad wieder einmal erhöhen lasse, das wunderbare Gefühl habe, dass die Füsse völlig am Boden angekommen sind, der mich stützt, ob ich will oder nicht. Ich muss aber zugeben, dass mir die Sache nicht genügend klar ist. Mein Eindruck ist, dass es darauf hinauslaufen wird, dass wir mit guter Struktur im normalen Stehen weitgehend von unten nach oben gestützt sind. Dass, wenn wir „lang“ stehen, die passive Spannung des Fasziennetzes hilft, das System nahe am Gleichgewichtspunkt subtil um diesen Punkt kreisen zu lassen. Wirklich ins Spiel kommen die Faszien aber erst bei Bewegung, beim Falten, beim Gehen und Laufen.
Ich bin auch anderer Meinung, was die Medizin betrifft. Ich sehe nämlich seit vielen Jahren, dass ich die (westliche) Medizin verteidige. Sie wird ja so viel kritisiert, und in vielem zu Recht. Ich glaube aber nicht, dass man den „Stoff“ erweitern sollte, – er ist ja schon riesig! -, sondern dass es darum geht, sich der Grenzen bewusst zu sein. Eine Grenze ist ja, dass der Patient auch juristisch frei ist, eine Therapie zu wählen, oder auch keine. Wir brauchen schon sorgfältige und zuverlässige Diagnosen, dann kann man offerieren, was die Medizin an Therapie zu bieten hat und darauf hinweisen, dass es sehr viele alternative Möglichkeiten gibt. Und von dem, was ich so höre, hat sich die Situation doch schon gewaltig verbessert.
Ich hatte diese Woche einen neuen Klienten, der vor 3 Monaten eine Diskushernienoperation hatte. Man sah die Hernie sehr schön im MRI. Nach der Operation teilte ihm der Chirurg etwas betroffen und verlegen mit, er habe in situ eigentlich nichts operationswürdiges gesehen. Wann gab es so etwas schon!
mit herzlichen Grüssen
Hans
(24. Februar 2008)

Lieber Hans,
Ich habe es vermutet, dass es eine Knacknuss wird, mit Dir ein einigermassen „verständliches“ und „lockeres“ Geplauder zu führen. Ich, der Vertreter der Vereinfachung, des Volkverstandes und Du der Komplexe, der Streng-Präzise. Sehr gut, dass Du Gaston Bachelard ins Spiel gebracht hast, einen Erkenntnistheoretiker (Epistemologe), der sich also fragte, wie wir Wissen schaffen. Durch ihn sehe ich auch klarer, wie ich der kartesischen Versuchung erliege, die Suche nach Allgemeinheit und Einfachheit stark zu gewichten (Descartes: „Ich denke, also bin ich“). Bachelard nennt dies ein Erkenntnishindernis und gibt seine Auflösung: „Ich denke Differenz, also ändert sich mein Ich“! Nicht zuletzt auch als Hausarzt bin ich in Alltagserfahrungen verhaftet, in welchen Komplexes in Einfaches überführt wird und Du eher in der „Wissen-schaft“, die Einfaches in Komplexes überführt. Dabei sei klar (in Bachelards Sinn) gesagt, dass Wissenschaft nicht „verbesserte“ Alltagserfahrung ist.
Mein Anliegen – auch in diesem „Geplauder“ – wird also sein: „wie sag ich’s meinem Klienten – und zwar verständlich?“.
Gregory Bateson würde sagen, dass man als wissenschaftlicher Forscher stets sowohl streng wie auch locker denken soll (strict and loose thinking).
Dich habe ich immer als ein Rolfer und Denker erlebt, der Ida Rolfs visionäre Ideen und die eher „vorwissenschaftliche“ (heisst kindlich-naive) Interpretation ihrer ersten Schüler mit deiner Lehre der „Normal Function (NF)“ auf den Boden (oder die Füsse) stellst, quasi ins „Surrationale“. Du wirkst vielleicht auch deshalb auf viele Rolfer als „zu kompliziert“, „zu genau“, „zu wenig einfach“, als unverständlich. Für mich war dies aber unheimlich brauchbar in der alltäglichen Arbeit und schuf ein ganz neues Verständnis für Bewegung und Haltung. Der „Verlust an Anschaulichkeit“ wird wettgemacht mit einer Stimmigkeit in der praktischen Anwendung.
Will heissen: Selber renne ich im Jungfraumarathon mit „normalem“ Laufstil (siehe Lit.6) die 42 Kilometer, inklusive 2000 Höhenmeter von Interlaken auf die Kleine Scheidegg und komme nach 5 Stunden katzenartig und frisch im Ziel an. Und in meiner Rolfingpraxis vermittle ich den Leuten Deine „Merkmale“ der Normalen Bewegung (Lit.5): das Spüren von Gewicht (z.B. der Schwerkraft, die beim ökonomischen, normalen Gehen vor unserer Körperachse liegen sollte und als Bild des Fadens, der uns vom Brustbein aus nach vorne zieht, einleuchtet.), das Spüren der Dehnung (z.B. des „Auseinandergehens“ des Oberkörpers (Brustbein nach vorne, Sitzbeine nach hinten) in der Faltbewegung, NF.) und was Du bereits selbst schön beschrieben hast, das Gestütztwerden von den Füssen aus oder im Sitzen vom Becken aus.
Warum verwendest Du eigentlich den Begriff „Normal“ (in Normal Function, NF, Normale Bewegung, normal stance, usw.)?
Wie vermittelst Du dies in Deiner alltäglichen Praxis? Wie bildest Du Verständnis in den Leuten?
Lieber Gruss, Thomas
(28. Februar 2008)

Lieber Thomas
dein Anliegen, es verständlich zu erklären, ist leider nicht möglich. Ich versuche zu erklären weshalb (falls es möglich ist). Da ist einmal das seltsame Paradox, dass das Einfache schwierig ist, das Komplexe einfach. Vereinfachen kann bedeuten, Komplexität zu reduzieren oder anschaulich zu machen. Das ist ein Widerspruch. Bei „Struktur“ abstrahieren wir vom Funktionellen, es wird weniger komplex, aber abstrakter, also „schwierig“. Nur schon die Definition von „Struktur“ ist ziemlich alltagsfern, nicht anschaulich. Wir können damit dies oder jenes über Struktur und ihre Integration sagen, aber eine erkennbare klare Theorie liegt in weiter Ferne. Dagegen ist die Theorie von NF, also dem Komplexeren, ziemlich abgeschlossen und fast lachhaft einfach. Ich glaube, das hat mit dem zu tun, was man heute „top-down“ Modelle nennt (SI inkl. NF), gegenüber „bottom-up“ Modellen (Anatomie).
Das Interessante – und Unerklärliche! – ist doch, dass unsere Alltagsvorstellungen, auf denen auch der gesunde Menschenverstand beruht, eigentlich alle grundfalsch sind. Trotzdem funktionieren sie hervorragend – meistens. Wenn einmal nicht, ignoriert man das am besten, oder erfindet Katapulte (dann stimmen aber alle diese Gleichungen nicht mehr). Wenn man auf etwas trifft, das man nicht versteht, gibt es zwei entgegengesetzte Einstellungen dazu. Weitaus häufiger ist die erste, bei der man nach Ähnlichkeiten mit dem Bekannten sucht, und das Unbekannte mit ein bisschen Würgen einordnet. Rolfing ist wie eine Massage z.B. Das ist legitim, führt jedoch nicht zu etwas wirklich Neuem. Daraus folgen Weisheiten wie „Nichts Neues unter der Sonne“ oder „schon die alten Römer…“.
Die andere Tendenz sucht nach Unterschieden auf die Gefahr hin, dass sich das Ich verändert. Zu diesem Zweck muss man es schwierig machen, sagt Bachelard.  Ansatzweise ist das dann der Fall, wenn wie kürzlich ein Klient auf dem Tisch sagt: „Es kommt mir eher wie Bildhauern vor“. Kurz gesagt, achte ich auf diesen Moment, wenn jemand es verstehen möchte. Dann gebe ich eine kurze Antwort, die teilweise befriedigt, die Frage aber offen lässt. Dann hat der andere die Wahl, ob er weiter ins Neuland vorstossen will oder nicht. Es gibt keinen Grund, weshalb er sollte, es sei denn, er möchte es. Das ist schön!
Kurz gesagt funktioniert die einfache Erklärung nicht, weil sie das schon lange überholte Kommunikationsmodell vom Sender und Empfänger voraussetzt. Und wir überschätzen das Informationsbedürfnis der Leute gewaltig.
„Kompliziert“, „zu genau“, unverständlich: ja, es geht nicht anders. Es herrscht ein verbreitetes Missverständnis vor von dem, was Theorie sein soll. Sie soll sich nicht eins-zu-eins mit der Realität decken, sondern sie soll einen Kontrast herstellen zwischen dem Absoluten und dem unverständlichen, chaotischen, unberechenbaren Realen. Theorie verhält sich zur Realität wie die Karte zum Territorium: Wenn du auf einer Strassenkarte die Strassen massstab- und farbgetreu einzeichnest, wirst du sie nicht einmal sehen! Es ist manchmal schwierig, diese Diskrepanz auszuhalten, einen Teil Ungewissheit zu bewahren. Manchmal wird man dann belohnt, wenn auf der neuen Ebene etwas so Schönes, Konkretes, Einfaches auftaucht, wie du es beim Marathon beschreibst. Und da musst du doch zugeben, das kannst du den anderen Läufern nicht anschaulich und leicht verständlich vermitteln.
Ida Rolf meinte „normal“ wie in „normal structure“ sicher als „ideal“, nicht als durchschnittlich oder natürlich. Sie hatte sicher „die Normale“ im Sinn, ein altes Wort für die Senkrechte, den rechten Winkel. Der Begriff ist also so besetzt. Was mir besonders gefällt, ist, dass es eine willkürlich gesetzte Norm ist, die man akzeptieren kann oder nicht. Man hat die freie Wahl, es gibt keinen Grund und keinen Druck. Freiheit ist wichtig, aber zugegeben, oft mühsam. Andrerseits verpflichtet einen diese „Willkür“ dazu, die Normsetzung zu begründen. Und das ist spannend.
Spannend geht nicht ohne „schwierig“, ein tieferes Verständnis geht nicht ohne Ungewissheit. Kürzlich habe ich im Magazin gelesen: Der Wissenschafter weiss, dass er nur glaubt. Der Gläubige glaubt, er wisse.
Ich wünsche dir spannende Gedankengänge!
Hans
(3. März 2008)

Lieber Hans,
Mit „Alltagserfahrungen“ meinte ich nicht „Präkonzepte“, also Hypothesen, die „man“ zu einem Phänomen besitzt, ohne dabei den wissenschaftlichen Hintergrund zu kennen. Nein, ich sprach eine „Eidetische Reduktion“ (Husserl), eine Rückführung des Erlebten auf das „Wesentliche“ an. Während dieser phänomenologischen Reflexion sollte man natürlich jegliche ungesicherte Urteile vermeiden. Diese Wesensschau bringt eine allgemeine Form zutage, die allen Einzeldingen, auch dem Menschen innewohnt (vergleiche die Phänomenologie Edmund Husserls).
Du schaffst dies meisterhaft mit „Bildlichmachen“: Du gebrauchst sehr viele eindrückliche Bilder in Deinen Kursen und Schriften: Sich wie eine Einkaufstasche hinsetzen und von unten gestützt werden. Wie durch einen Hubstapler zuerst die Sitzbeine steigen lassen (beim Entfalten). Bilder von Katzen und Affen. Becken als Platzhalter (Spacer), der nach der Rolfingarbeit nicht mehr sichtbar sein sollte. Kopf wie eine Strumpfkugel (im Strumpf). Körpermodell als Wassersack oder Mettwurst (hydrostatischer Ballon). Fuss als Saugnapf, usw., usw..
Hier erscheint doch alles sehr „einfach“ und wird (für Klient und Rolfer) erklärbar.
Danke Dir für die spannenden Gedankengänge!
Thomas
(9. März 2008)

Lieber Thomas,
ich bedanke mich für das Lob, das mich etwas überrascht. Ich halte mich nämlich nicht für besonders begabt mit Bildern, und ich fühle mich immer etwas unwohl dabei. Und zwar, weil sie eindeutig sekundär sind. Sie verhalten sich wie eine Illustration zu einem Text, den man dadurch besser versteht. Illustrationen ersetzen aber nie den Text. Sie sind sogar etwas gefährlich – ich spreche nur für mich! -, weil sie allein genommen meist sofort an der Sache vorbeiführen ins grosse Irgendwie.
Ich bringe diese Bilder immer erst, nachdem ich einen theoretischen Punkt kurz und klar erläutert habe. (Dafür würde ich gerne gelobt, das mache ich gut!) Wen man nur mit Bildern arbeitet, kommt man nie zu NF, behaupte ich. Wenn sie dir also dermassen einleuchten, beweist das, dass du den kognitiven Schritt vollzogen hast. Das müsste man krasser formulieren, denn man kann nicht von einer erkenntnistheoretischen Ebene auf die nächste schreiten, man muss über den Bruch (la rupture!) springen!
Natürlich ist die Bildwelt so viel attraktiver als die rationale Beschreibung. Ich habe aber doch etwas gestaunt, als ich Fotoillustrationen von zwei Kollegen sah, die früher bei der Entwicklung von NF dabei waren. Der eine bezieht sich explizit auf NF. Das war mitnichten NF, nah dran vielleicht. „Nah dran“ ist meine Standardantwort, wenn ich wieder einmal höre, jene Menschen am Amazonas (oder sonst wo, meist weit weg), oder Kinder, oder Tiere bewegten sich in „perfekter NF“. (Dieses obsessive Fantasma, dass Kinder oder „Wilde“ natürlich seien, lässt sich nie ausrotten! Die Natur des Menschen ist seine Kultur.) Das lässt meinem Gegenüber dann die Wahl, es als Zustimmung zu nehmen oder als Widerspruch. Denn „nah dran“ ist nicht NF. Wie wir Fussballer sagen (die keine 10 m rennen, wenn kein Ball im Spiel ist): knapp vorbei ist auch daneben.
Ich insistiere vielleicht dermassen auf die neue Erfahrung, weil ich das bei meiner ersten Rolfingstunde eindrücklich erlebt habe. ich hätte mir nie vorstellen können, auch wenn man es mir erklärt hätte, dass es so was gibt und wie das ist.
Ich habe dafür eine kleine private Typologie der Menschen. Nach der ersten Stunde, wenn der Klient wieder auf den Beinen ist, frage ich unauffällig, wie er sich fühlt. Da gibt es einen Typ, der nichts spürt und vielleicht sagt: „Nun ja, wie immer“. Ein zweiter Typ hat keine Mühe, sein Gefühl ins Bekannte einzuordnen, und sagt z.B.: „Ich fühle mich so entspannt“. Ein dritter Typ bemerkt, dass etwas neuartig ist, und sagt so etwas wie einer kürzlich: „Ich glaube, ich bin höher.“ Der vierte Typ, vielleicht zur Zeit die grösste Gruppe, sagt gar nichts. Ich sehe, wie der Geist angestrengt arbeitet und nach einem adäquaten Ausdruck sucht, aber keinen findet. Ich erlöse ihn dann gerne, z.B. indem ich sage: „Am liebsten wäre mir, sie sagten, es sei anders.“ Meist stimmen sie erleichtert zu.
Zum Phänomenologischen kann ich nichts sagen mangels Kenntnis und Neigung. Sicher steht aber eine neuartige Erfahrung im Gegensatz zu den Alltagserfahrungen. Ich habe den Eindruck, diese spielen die gleiche Rolle wie das Vor-Wissen auf der kognitiven Ebene: sie bilden ein epistemologisches Hindernis. Man muss sie ja nicht gleich „ausrotten“ – das geht ja gar nicht – aber umspielen, unterlaufen, aufweichen, andröseln – das schon!
Um auf dein Anliegen zurückzukommen: natürlich schulden wir den Klienten eine Erklärung. Da dies nicht möglich ist, müssen wir mit dem Nächstbesten vorlieb nehmen. Nämlich, auf die explizite oder implizite Frage zu achten, dazu etwas Erhellendes zu sagen, sie aber offen zu lassen – oder sogar weiter zu öffnen? -, damit ein Springen auf die neue Ebene möglich bleibt.
Vielleicht ist das Nächstbeste sogar das Bessere?
Hans
(16. März 2008)

Lieber Hans
Deine Botschaft ist klar:
Zuerst muss die Theorie klar sein, dann erst kann ein Bild „einleuchten“ und auf eine neue Ebene führen. Allein betrachtet, besteht die Gefahr, dass Bilder eine Aura von Beliebigkeit besitzen, die in die Irre führen können.
Also: Rechtfertige hier Dein „Eigenlob“ und erläutere hier kurz und klar die theoretischen Punkte hinter den obigen Bildern!
Zum Beispiel das Sitzen (NF), was ja die meisten der Leser im Moment tun. Dann auch das Falten (in Normal Function) – und wer (normal) falten kann auch normal stehen und normal gehen (würdest Du das auch so sagen?!).
Schiess los!
Thomas
(21. März 2008)

Ja, lieber Thomas, wenn es so einfach wäre!
Lass mich zuerst noch etwas am gesunden Menschenverstand, der „Alltagslogik“, kratzen. Nicht nur, weil es amüsant ist; ich falle ihr auch jetzt noch immer wieder einmal zum Opfer.
Ein wunderbares Beispiel ist „Lesen durch Schreiben“. Das geht natürlich nicht, denn zuerst muss man die Buchstaben visuell erkennen, lesen also, bevor man sie schreiben kann. Der frische Erstklässler kommt also nach Hause, und gespannt bitte ich ihn, ein Wort zu schreiben. Mit seiner Tabelle malt er Buchstaben um Buchstaben, besser: Laut um Laut, und da steht das Wort. Ich frage ihn, was er geschrieben habe. Er weiss es nicht, hat es vergessen, und lesen kann er es nicht.
Das erste Wort, das er lesen konnte, war übrigens „Biogaze“. Das erste Mal erkennt man leicht an der riesigen Freude und dem Stolz, mit dem diese höchst dringliche Nachricht überbracht wird. Dieses Wort hatte er sicher nie gehört und wusste auch nicht, was es bedeutet.
Das hat insofern mit deiner Frage zu tun, als du wahrscheinlich meinst, Sitzen und Stehen seien einfach. Das Gegenteil ist der Fall: Stehen ist wahrscheinlich das schwierigste überhaupt! Ein Grund liegt in der Physiologie. Unsere Propriozeptoren, die inneren „Sensoren“, auf die unsere Wahrnehmung angewiesen ist, melden uns hauptsächlich Unterschiede, Veränderungen, nicht Zustände. Wenn wir uns also kaum bewegen, kommt nur wenig Information, unser Hirn darbt, und das Bewusstsein kann sich kein richtiges Bild machen. Beim Stehen muss man ausserdem mehrfach Richtungsänderungen um 180° auf kleinstem Raum wahrnehmen. Und beim Sitzen gibt es oft strukturelle Hindernisse.
Ich fange eigentlich immer mit etwas Einfachem an, dem Schwerpunkt beim Gehen. Ich erkläre, dass wir uns auf den Moment konzentrieren, bei dem das Gewicht voll auf das Standbein kommt. Es kann dann zu weit vorn oder zu weit hinten sein. Wenn wir uns vorstellen, wir gingen mit neuen feinen Lederschuhen auf spiegelglattem Eis, würden wir bei jedem Schritt ausgleiten und hinfallen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Der Fuss rutscht nach vorn und ich falle auf den Hintern, oder er rutscht nach hinten und ich falle aufs Gesicht. Natürlich gibt es dabei die üblichen Schwierigkeiten, mit dem Gewicht wirklich nach vorn zu kommen, aber es funktioniert recht gut. Und ja, das Bild, das es für mich sonnenklar macht, ist, dass ich beim üblichen Gehen den festen Eindruck habe, hinter den Beinen her zu gehen. „Ich“ ist etwa am oberen Rand des Brustbeins lokalisiert. Ich bringe ein Bein nach vorn, dann folgt der Körper, dann das andere Bein, wie man sich Gehen eben vorstellt. Man geht schliesslich mit den Beinen, und die müssen was tun dafür! Beim normalen Gehen laufe ich vor den Beinen her, und es geht wie von selbst. Und weil sich alle Welt immer nur für Muskeln, Stärke, den „Motor“ des Gehens („spinal engine“) interessiert, habe ich ein Merksätzchen, das du sicher nachempfinden kannst: Normal Walking is powered by inertia.

Ich merke, ich habe deine Frage schon wieder nicht beantwortet, dafür immerhin eine andere, leichtere.
Hans

PS: Zum Gehen noch ein interessantes Detail. Wenn du schneller gehen willst und die Schrittlänge vergrösserst, greifst du nicht weiter nach vorne aus, sondern lässt das hintere Bein maximal lang werden. Wenn du das Tempo weiter erhöhst, kommt das hintere Bein nicht mehr rechtzeitig nach vorn unter den Rumpf. Du beginnst dann automatisch zu laufen, ohne dass sich an der gleichmässigen waagrechten Bewegung des Rumpfes etwas ändert. Diesen flüssigen Phasenübergang finde ich besonders hübsch.
(29. März 2008)

Lieber Hans
Jetzt hat’s aber doch schon etwas Fleisch am Knochen: Das Gewicht (des Oberkörpers) als treibende Kraft des „Normalen Gehens“ und nicht (primär) die Beinmuskeln. Die Beine, die „nachschwingen“, träg, hängend, eben „inert“ hinterher gehen. Könnte man hier nicht das Bild des Fadens geben, der uns vom Brustbein her nach vorne zieht und es waagrecht nach vorne gleiten lässt.
Versuchen wir es doch trotzdem gleich noch mit dem ökonomischen, normalen Sitzen:
Stichworte: Füsse am Boden, Knie nach innen fallen lassen, so dass die Sitzbeine etwas auseinander gehen und der Beckenboden passiv gespannt wird. Das Becken etwas nach hinten gleiten lassen. Man kommt so vor die Sitzbeinhöcker zum Sitzen: das Becken ist eine entspannte Schüssel mit flachem Boden. Bauch, Gesäss und Hüfte sind locker. Das Gewicht des ganzen Oberkörpers in diese Schüssel abgeben. Das Brustbein schwebt hoch und vorne (nicht hochziehen), die Schultern hängen frei und sind nicht nach hinten gezogen und der Kopf sitzt frei wie eine Boje oben drauf.
Ergänzungen, lieber Hans?
(5. April 2008)

Lieber Thomas,
ja, es hat Knochen im Fleisch, um die Perspektive zu wahren, denn das Fleisch ist primär.
Gegen deine Stichworte gibt es nichts zu sagen; vielleicht funktioniert es so, vielleicht nicht. Ich möchte nur zwei Dinge dazu bemerken. In der Praxis vermeide ich den Begriff „Entspannung“ konsequent. Er gehört zum Vor-Wissen, das den Weg zu einem strukturellen Wissen effektiv versperrt. Natürlich ist das Konzept von passiver plus aktiver Spannung – und das reziproke Verhältnis der beiden – neu und schwierig. Ohne dieses Konzept kann man aber NF nicht verstehen. (Es gibt übrigens einen Vorläufer in der Medizin: in der Unterscheidung von Kontraktion (Spasmus, Krampf) und Kontraktur.)
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Gebiete Therapie und Lernen auseinander halten, weil sie völlig unterschiedlich strukturiert sind. Das Therapeutische ist natürlich enorm wichtig, und wenn ein Erfolg erzielt wird, ist die Art und Weise eher unwichtig. Ich kann mich gut an eine Klientin erinnern, eine junge, aufgeweckte Frau, die zu einer post-ten Stunde kam. Strahlend erzählte sie mir, sie habe nie mehr Rückenschmerzen, seit sie einfach immer den Bauch rausstrecke, wie ich es ihr gesagt hätte. Keine Rückenschmerzen ist definitiv besser als Rückenschmerzen! Aber normalerweise kann man den therapeutischen Effekt von NF nicht haben, ohne wenigstens ein bisschen zu verstehen, also zu lernen.
Und es geht nicht über Lernen Null, wie Bateson es nennt (Lit.7): Man kann sich nicht ausbilden lassen in NF, man muss es sich selbst aneignen. Es braucht also mindestens Lernen 1, für Rolfer sogar Lernen 2. Man kann also nicht die Theorie, oder Stichworte, wie ein Programm installieren. Sondern es geht nur über die Wahrnehmung, durch spielerisches Ausprobieren und Vergleichen von normaler und üblicher Bewegung, immer wieder. Es ist also etwas Dynamisches dabei, NF erwirbt man nur, indem man es praktisch im Gegensatz zum Üblichen wahrnimmt. Du möchtest ein Bild haben? Klar, wenn man schwimmen lernt, kann man dies als eine zusätzlich erworbene Fähigkeit ansehen. Das ist etwas Additives. Oder man kann es so sehen, dass man jetzt „Schwimmer“ ist. Das ist etwas Transformatives, und also Irreversibles.
deshalb irreversibel skeptisch
Hans
(14. April 2008)

Lieber Hans
hier nähern wir uns ja den Existentialisten, z.B. Sartre, der sagt, dass unser Bewusstsein nichts ist, ehe es nicht empfindet. Denn Bewusstsein ist immer das Bewusstsein von etwas. Und was dieses „etwas“ ist, hängt ebenso sehr von uns selber ab wie von unser Umgebung. Wir tragen selber dazu bei, was wir empfinden, denn wir wählen das aus, was für uns von Bedeutung ist. Hieraus wächst auch die Differenz der zwei „Filme“ in der Therapiebeziehung, wie Du es ansprichst: der Film des Klienten und der des Therapeuten…
Vorleben ist in der Therapie halt so wichtig wie in der Erziehung. Ich habe manchmal das Gefühl, dass das, wie ich mich selbst bewege viel wichtiger für den Klienten ist, als das, was ich darüber sage. Ich höre es deshalb immer sehr gerne, wenn jemand sagt, er wolle erreichen, dass er sich bewegen will, wie ich es tue (ganz abgesehen von meinem dadurch befriedigten Narzissmus natürlich…).
In diesem Zusammenhang wäre mal interessant, etwas über die Entwicklungsgeschichte der NF zu erfahren. Wie kamst Du überhaupt auf die Idee, dass die Grundbedingung der Auslösung einer ökonomischen Bewegung die selektive Reduktion der aktiven Spannung (Muskelkraft) ist (Lit. 5)? Etwas also, dass noch vor zehn bis zwanzig Jahren völlig schräg in der Therapielandschaft stand! Wie viel Einfluss hatte hier Dein Schwager Willi Harder?
Thomas
(20. April 2008)

Lieber Thomas,
ein schöner Gedanke, falls er einschliesst, dass im Bewusstsein etwas gehen kann, wenn ich mich ärgere oder sogar Wut empfinde…
Ich beschäftigte mich ja damals intensiv mit grundlegenden Fragen des Gebiets – nichts war klar! – und NF entstand eigentlich als Nebenprodukt, „with a little help from my friends“. Willi (Harder) und Wolf (Wagner) waren aktiv dabei und beförderten das Ganze mit Nachfragen, Kritik, eigenen Ideen. Ich brütete über dem Blockmodell, bei dem die Blöcke genau senkrecht übereinander stehen sollten, „wie jedes Kind weiss“ gemäss Ida Rolf (Bild siehe oben).
Nur genügt das nicht. Die These braucht eine Begründung, obwohl sie so trivial wahr scheint. Ich fand dann eine: die These ist wahr, wenn die Blöcke und der Körper möglichst ökonomisch stehen sollen. Damit war ich aber im Bereich des „Funktionellen“, von dem wir mühsam das „Strukturelle“ abgetrennt hatten, um die beiden in Beziehung setzen zu können.
Im Zusammenhang damit beschäftigte mich die fast etwas einfältige Frage: „Was ist mit Bücken?“ Dabei können die Blöcke nicht mehr senkrecht übereinander stehen. Diese Frage ist aber nur ein Beispiel für die allgemeinere Frage: „Wie entsteht Bewegung?“ Dafür braucht es eine Kraft, und aus Erfahrung (!) sagt dann jeder, dass Muskeln arbeiten müssen.
Diese Antwort ist aber kurzschlüssig und ziemlich unphysikalisch. Ich erinnerte mich daran, dass bei einem ruhenden Körper oder einem, der sich gleichmässig und gradlinig bewegt, alle Kräfte im Gleichgewicht sind und sich neutralisieren. Die richtige Antwort lautet also: das Gleichgewicht der Kräfte muss gestört werden. Dann taucht eine Nettokraft (schönes Wort!) auf, die bewegt. Wir können das Gleichgewicht der Kräfte nur über die Muskeln stören, vom ökonomischen Gesichtspunkt aus aber auf zwei entgegengesetzte Weisen: wir erhöhen aktive Spannung, oder wir vermindern sie. Im ersten Fall verbrauchen wir mehr Energie, im zweiten sparen wir Energie ein. Damit war das Prinzip von NF formuliert, ohne dass ich mich konkret mit Bewegungen beschäftigt hätte. Typisch „rationalistisch“ halt! Die Ausarbeitung der speziellen Bedingungen war bei dieser Ausgangslage relativ einfach.
Eine Folge davon befriedigt mich ausserordentlich, weil sie ganz unerwartet kam. Die Nettokräfte, die Bewegung auslösen oder verändern, sind nämlich immer die Schwerkraft oder die elastische Kraft der Faszien oder beide. Das passt dann, hinten herum sozusagen, sehr schön und haargenau dazu, dass die Schwerkraft und die Faszien die „zwei fruchtbaren Ideen“ sind, die Ida Rolf in die Betrachtung des Körpers einbrachte. Als zweites gefällt mir besonders, dass es sich um eine verständliche und eindeutig systemische Beschreibung handelt. Es ist ja trotz allen gegenteiligen Beteuerungen auch im Gebiet der SI so, dass wir immer wieder auf lineare Ketten von Ursache und Wirkung zurückgreifen, wenn wir konkret werden.
Es gibt natürlich Parallelen auf ganz anderen Gebieten. Bei der Kommunikation zum Beispiel glaube ich, dass ein wesentlicher Aspekt der ist, dass immer versucht wird – oft unbewusst – das Verhalten, Denken und Fühlen wechselseitig zu beeinflussen. Zu diesem Zweck wird entweder „Druck aufgesetzt“ oder Druck weggenommen. Das zweite gefällt mir natürlich viel besser, schön krass formuliert z.B. bei Morgenthaler (Lit.8): „…und wir können keinen analytischen Prozess einleiten, wenn wir uns nicht eingestehen, dass wir ihn (den Analysanden) dazu verführen.“ (Und ja, ich nehme an, ich bin soeben dabei, dein Denken in eine etwas andere Richtung zu verführen…)
Wenn wir etwas hilflos „System“ denken, bei mir jedenfalls, vergessen wir oft, dass Systeme (der Körper, Beziehungs- oder Gesellschaftssysteme) von widerstrebenden Kräften erfüllt sind, dass es nur so brodelt. Ich stosse mich sofort am Wort „Erziehung“ das du beiläufig benützt. Ich verstehe nämlich überhaupt nicht, weshalb da gezogen werden soll. Ich sehe zwei mögliche Gründe für diese befremdliche Vorstellung. Die eine ist die, dass nichts geschieht, wenn nicht gezogen wird. Jeder, der einmal mit kleinen Kindern zu tun hatte, weiss, dass diese Vorstellung komplett absurd ist. Die andere würde auf der Angst beruhen, es würde falsch laufen, wenn nicht in die richtige Richtung gezogen wird. Das ist fast genau so absurd. Der Begriff „Erziehung“ lässt sich vielleicht nicht vermeiden, er führt aber das Denken mit Sicherheit zuerst einmal in eine Sackgasse.
Zu „Vorleben“ möchte ich dich fragen: was ist der Unterschied zwischen „Vorleben“ und „Leben“? Das soll kein Argument dagegen sein, eine Bewegung zu zeigen. Oft führt das schnell zu einer Klärung. Am liebsten mache ich das, auch wenn es etwas boshaft ist, bei den nicht so seltenen Klienten, die zwar spüren, dass normales Gehen in jeder Beziehung besser ist, die aber nicht aufhören können, lauthals zu schimpfen, dass das lächerlich aussehe, affig, völlig unmöglich sei. Ich gehe dann jeweils ein bisschen normal hin und her und frage sie dann mit falscher Freundlichkeit, ob ich lächerlich, affig usw. auf sie wirke.
Denn das darf alles auch ein bisschen aggressiv, lustig, sogar schockierend sein, wie im richtigen Leben.
Hans
(4.Mai 08)

Lieber Hans,
den Klienten, die Klientin zu verführen: dies darf man dem Ethikkomitee nicht unter die Nase streichen… doch das Bild ist sehr schön!
Sag mal: Dieses Blockmodell von Ida Rolf ist doch eigentlich unbrauchbar und hat keine Gültigkeit mehr?!
Dann: Die Verminderung der aktiven Spannung zur Bewegungsauslösung existiert auch in anderen Konzepten der Körperarbeit (so in der Spiraldynamik, Feldenkraisarbeit, Pilates) aber es geistert dann gleich auch immer noch der Gebrauch der intrinsischen Muskulatur (Rumpfstabilisatoren) rum. Warum findet man diese Idee der Schwerkraft und der elastischen Kraft der Faszien als „Nettokräfte“ nirgends sonst? Ist dies wieder ein Bruch im Sinne von Bachelard?
Sich wundernd, Thomas
(11.Mai 08)

Lieber Thomas,
die Ethik ist ja immer dabei: ob ich jemand zu etwas zwinge oder verführe, es ist immer zu etwas Gutem oder etwas Schlechtem. Allerdings kann ich im ersten Fall der Frage leicht ausweichen, indem ich mich auf Sachzwänge oder irgendwelche Autoritäten berufe.
Ich sehe, dass das Wort offenbar anstössig ist. Wenn wir uns das also nicht „eingestehen“ wollen, bin ich nicht sicher, ob es noch geht. Denn für NF muss ich mich quasi selbst v…: wir könnten es aber entschärfen: den -Modus statt des +Modus einstellen.
Ich selbst lasse mich nur höchst widerwillig z…, jedoch v… lasse ich mich nicht ungern. Deshalb ist es leicht für dich, wie du das wahrscheinlich beabsichtigt hast, mich dazu zu v…, lauthals über die blinde Idiotie zu schimpfen, die das Blockmodell als unbrauchbar und ungültig erklärt. Das tue ich aber nicht, sondern sage nur: es ist einer von Ida Rolfs Geniestreichen. Und zwar tut es, was jedes gute Modell (im engeren Sinne) tun muss: es abstrahiert von allem, das nicht direkt zur Frage gehört, und es übertreibt und verzerrt bis zur Kenntlichkeit das, was es illustrieren soll. Das sind nur zwei Aspekte. Erstens zeigt es, dass es im Körper Gegenden gibt, die beweglicher sind als andere, und zweitens sollen diese anderen, weniger beweglichen, die man Blöcke nennen kann, senkrecht übereinander stehen. Das zweite führt direkt zur ökonomischen Prämisse, die das Gebiet der Strukturellen Integration überhaupt erst öffnet. Auf das erste legte Ida Rolf grossen Wert, doch weiss ich immer noch nicht genau weshalb. Da liegt vielleicht noch etwas drin.
Merkwürdig fand ich einen offensichtlichen Widerspruch zwischen Bild und Text. Im Text ist das Modell immer in einen elastischen Sack gepackt, der, wenn ideal, ein „strain-free system“ bildet beim normalen Arrangement. Ich vermute, dass dieser Sack einfach aus grafischen Gründen weggefallen ist. Es war einfach nicht zu machen. Dann könnte es sein, dass die Macht des Bildes diesen Sack, der das Strukturelle darstellt, im Bewusstsein einfach hat untergehen lassen.
Ich wundere mich meinerseits, weil du glaubst, den Extensionsmodus auch andernorts gefunden zu haben. Ich habe solches noch nie gesehen, auch nicht gelesen. Mein Lesen ist allerdings sehr lückenhaft, und falls du mir etwas angibst, werde ich es mir anschauen (Text genügt, keine Bilder). Andrerseits finde man diese Idee nirgends, sagst du. Und das hat vielleicht damit zu tun, dass der Extensionsmodus erst wirklich deutlich wird, wenn auch die speziellen Bedingungen stimmen. Und damit, dass die Idee zu simpel ist, dass der Energieverbrauch verschieden ist, wenn ich im geometrischen Sinne verschieden laufe. Oder sonst was, ich weiss es eigentlich nicht!
Ich denke, dass Bewegungen irgendwie als gegeben hingenommen werden, und dass es meist darum geht, excess tension zu reduzieren. Wir brauchen ja immer zu viel Kraft für alles. Und die Frage der base tension taucht gar nie auf. Und dann ist Bewegung so viel mehr als Physik! Aber was spekuliere ich da, wo ich es einfach nicht weiss!
Natürlich ist es ein Bruch, immer derselbe, und zwar von einer Ursache/Wirkungskette zu einem System, das dauernd von Kräften getrieben wird, wenn sie sich gerade einmal nicht gegenseitig neutralisieren.
Und ich finde es wunderbar, dass es so viele verschiedene Bewegungsschulen gibt, zum Teil sehr schöne und elegante, andere weniger, aber so kann jeder seines finden. Für mich ist NF halt so wichtig, weil ich damit endlich ein bisschen etwas von Struktur verstanden habe. Ein Paradox vielleicht, aber Paradoxien und Widersprüche (und Konflikte) sind primär.
mit besten Wünschen für eine angenehm widersprüchliche Zeit
Hans
(18.Mai 08)

Du hast recht, lieber Hans, bei der Durchsicht der mir zur Verfügung stehenden Literatur dieser weiteren Bewegungsschulen finde ich den Extensionsmodus wirklich nirgends beschrieben. Meine Ansicht darüber fusste auf mündliche Aussagen von Kursleiter und Ausübenden der Spiraldynamik, der Pilatestechnik und von Feldenkraisarbeit. Der Bruch ist wohl zu gross, das man sowas auch in Schwarz und Weiss niederlegt…
Aber: In der Bionik wird bei der Roboterentwicklung als top-down-Prozess (Analogien in der Natur suchen und danach konstruieren) spinnenartige Maschinen gebaut, deren Beine autonome Steuerungsfunktionen besitzen und die dadurch zentral gesteuerten Robotern weit überlegen sind. Als Beispiel baut an der Uni Zürich Prof. Rolf Pfeifer und sein Team, Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz und in Biorobotik, einfachste Roboter die (mit einer Art Extensionsmodus durch Verminderung der aktiven Spannung)  mit Schwingenlassen der pendelartig aufgehängten Beine sich sehr ökonomisch und natürlich bewegen. Im Gegensatz dazu bewegen sich die hirn-gesteuerten, komplizierten Roboter (z.B. von Sony) völlig unnatürlich und mit enormem Energieverbrauch.
Dasselbe Prinzip treffen wir bei den kleinen Plastikspielzeugmännchen an, die frei bewegliche Beinchen aus einem steifen Oberkörper besitzen und sich so mit pendelnden Beinchen und ohne Motor eine schräge Ebene runter bewegen können. Auf einer ebenen Unterlage funktioniert dies, wenn ein Gewicht an einem Faden nach vorne zieht (welches über die Tischkante hängt). Übersetzt auf uns Menschen und beim NF wäre dies ein Schwerpunkt vor dem Lot (Brustbein schwebt vorne weg).
Spielzeuge bergen übrigens häufig Anwendungen von komplizierter Physik, die einfach funktionieren. Wären gute Studienobjekte.
Spielerisch aufgelegt, Thomas
(25.Mai 08)

Ja, lieber Thomas, und besonders hat mir der Titel gefallen, den Pfeifer für seinen kürzlichen Vortrag an der Volkshochschule fand: „Ohne Körper keine Intelligenz.“ Das ist eine ziemlich radikale Behauptung, und sie kommt aus diesem Zweig der AI (künstlichen Intelligenz), der versucht, Computer zum Lernen zu bringen. Diese kleinen Computertierchen, die er herumsurren lässt, sind auf sensorischen Input angewiesen, um lernen zu können. Damit ist sicher Lernen1 nach Bateson gemeint, nicht Lernen0 (Lit.7). Lernen0 (sich ausbilden lassen, ein Training besuchen) bedeutet wahrscheinlich bei einem Computer oder Roboter, ihn zu programmieren. Für sensorischen Input braucht es einen „Körper“. Vielleicht braucht der Computer sogar eine Motorik, um aktiv erkunden zu können.
Jedenfalls kann man spielerisch sagen,Lernen0 sei etwas Additives, Lernen1 etwas Transformatives. Der Computertechniker, der eben den neuesten und raffiniertesten Laptop herausgebracht hat, würde sagen: der ist kaputt! Bei gleicher Eingabe macht der jedes Mal etwas anderes!
Ausserdem, spielerisch gesagt, hat Ida Rolf vielleicht doch ein bisschen mehr recht, als ich ihr zugestehen will? Und wenn man sich nicht in NF ausbilden lassen kann, sondern es lernen1 muss, wo führt das hin?…
Nochmals zurück zum Transformativem, das eigentlich bedeutet, dass sich die Identität verändert. Diese wird ja immer mehr biometrisch festgehalten. Wenn sich die Körpergrösse ändert, bin ich dann noch der Gleiche? Ich erinnere mich an diesen Klienten, einen Banker, der sich jedes Jahr die Kleider von seinem Schneider massschneidern liess. Der habe fast durchgedreht, berichtete er lächelnd, als er zur Sicherheit die Masse kontrollierte, und alle völlig falsch waren…
Die „passive dynamic walkers“, die du anführst, sind eine lustige Gesellschaft. Das Standardmodell, von dem sie sich absetzen, stammt von Honda, so viel ich weiss. Die neuen benötigen fast 10x weniger Energie beim Gehen. Doch das Interessante daran ist, dass sie auch viel weniger Programmieraufwand brauchen, ein „kleineres Hirn“ also. Falls die Aerodynamik entsprechende Fortschritte macht, wird die Wissenschaft in absehbarer Zeit in der Lage sein zu beweisen, dass die Möglichkeit besteht, dass Mücken wirklich sinnvoll herumfliegen können…
Haben wir vielleicht einfach ein viel zu grosses Hirn für unser Glück?
Grübelnd Hans
(29.Mai 08)


Erwähnte Literatur:

  1. Ida P. Rolf, Rolfing – Strukturelle Integration, Wandel und Gleichgewicht der Köperstruktur, Hugendubel, München 1989
  2. Hans Flury: Die neue Leichtigkeit des Körpers, dtv ratgeber,  München, 1995 (PDF hier).
  3. Gaston Bachelard (1884-1962): La Philosophie du non. Paris, 1942; dt. Ausgabe: Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes. Übers. von Gerhard Schmidt u. Manfred Tietz, F/M: Suhrkamp, 1980. (stw 325)
  4. Rosemary Feitis (Herausg.): Ida Rolf Talks about Rolfing and Physical Reality, Boulder, 1978, The Rolf Institute
  5. Hans Flury/Thomas Walser, Strukturelle Bewegungslehre in Kürzewww.dr-walser.ch/oekonomie_der_bewegung.pdf
  6. Thomas Walser, Normale Haltung beim Laufen: www.dr-walser.ch/laufhaltung.pdf
  7. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes – Die logische Kategorien von Lernen und Kommunikation, 1971
  8. Morgenthaler Fritz: Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis. Psychosozial-Verlag, Giessen, 2005

Veröffentlicht am 29. Mai 2008 von Dr. med. Thomas Walser

Rolfing Merkblatt

Strukturelle Integration

Strukturelle Integration oder Rolfing® ist eine Methode, bei der die Körperstruktur durch tiefe und systematische manuelle Bindegewebsbehandlung verbessert wird. Das Ziel der Methode ist es, den Körper aufzurichten und ins Lot zu bringen. Er steht und bewegt sich dann leichter und ökonomischer; Fehlbelastung von Gelenken und Gewebe wird vermindert; dadurch bedingte Beschwerden bessern sich.

Rolfing strebt eine Verbesserung der Struktur auf Dauer an. Ich führe deshalb gerne eine Serie von etwa zehn Sitzungen durch. Danach braucht der Körper eine längere Pause, in der sich das neue strukturelle Muster einspielt und setzt. Später sind dann wieder einzelne Behandlungen oder eine Serie von weiteren Sitzungen möglich.

Eine Behandlung dauert etwa eine Stunde (die erste meist 90 Minuten). Einen Teil der Kosten wird von der Zusatzversicherung für Komplementärmedizin der Krankenkassen übernommen, doch sollten Sie sich im Zweifelsfall dort erkundigen. Die Behandlungen sollten nicht zu schnell aufeinander folgen. Ein Abstand von zwei bis drei Wochen ist günstig: er kann jedoch ohne weiteres auch länger sein.

Normal Function ist ein Bewegungssystem, das die neuen strukturellen Möglichkeiten optimal nutzt und unterstützt. Im Laufe einer Serie zeige ich, worum es dabei geht, wie Sie optimal gehen, stehen, laufen und sitzen.

Mehr Informationen über Rolfing lesen Sie hier auf meiner Website

oder in meinen Blog über Rolfing, Haltung und Bewegung!

Veröffentlicht am 12. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
12. Juli 2017

Salutogenese

From cure to care – von der Pathogenese zur Salutogenese und zur Selbstheilung

„From cure to care“: Der Aufruf der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einer neuen Sichtweise in der Medizin, weist in eindrücklich klarer Form auf den Kernunterschied zwischen „Krankheits-“ und „Gesundheitsmedizin“ hin: Die Erstere hat sich darauf spezialisiert, Krankheiten zu kurieren – sie versteht unter Gesundheit das Nichtvorhandensein von Krankheit – während die Andere sich um die Gesundheit sorgt – sie versteht unter Gesundheit das Vorhandensein von Lebensqualitäten (siehe hierzu mehr hier: www.dr-walser.ch/gesund/).

Ich mache auch nicht mehr die spaltende Unterscheidung von Schul- zur Alternativmedizin, sondern nur noch von salutogenetisch ausgerichteter Medizin und Ärzt*innen und pathogenetisch. Beide Arten Gesundheitsverständnis findet man sowohl in der Schul-, wie auch in der Komplementärmedizin („Gurumedizin„!).

 Ist Heilung möglich? Nein! Nur Selbstheilung!

Gesundheit „gelingt“ statt dass sie „gemacht“ wird.
Welches sind die Bedingungen, damit es gelingt?

  • Der Mensch will, dass er gesund wird (er vertraut sich)!
  • Der Arzt/Therapeut vertraut darauf, dass der Mensch im Grunde gut ist!
  • Der Kranke kann dem „Heiler“ vertrauen.
    Und dieses Vertrauen hat eng zu tun mit den drei Faktoren der salutogenetischen Grundhaltung (dem sogenannten Kohärenzgefühl):
  • 1.) Er versucht seinen Prozess verstehen zu können.
  • 2.) Er hat das Bewusstsein, dass er beim Heilungsprozess mitbeteiligt ist.
  • 3.) Er hat dabei auch das Gefühl, dass all dies einen Sinn hat.
Je mehr Vertrauen in sich, in Arzt/Therapeuten und umgekehrt >>> je weniger Angst! Je mehr Kohärenz (Stimmigkeit und Zuversicht) in unserem Hirn, je weniger Inkohärenz (Chaos, Unsicherheit, Unstimmigkeit) >>> je weniger Angst!

Vom „Warum?“ zum „Wozu ist es gut?“.

Seit Beginn meiner Praxistätigkeit habe ich vermieden, zu Beginn eines Gesprächs “Was fehlt Ihnen?” zu sagen. Auch «Warum?» tritt immer mehr in den Hintergrund. Bereits im Verlauf des ersten Kontakts wird dagegen wichtig, die Frage aufzuwerfen “Wozu ist es gut?!”
(Lesen Sie dazu auch meine Seite über Genuss und Schuldgefühle in der Medizin: www.dr-walser.ch/genuss/).

Die Hausarztarbeit beginnt bereits vor der Sprechstunde. Wenn ich in meiner Arbeit salutogenetisch wirken will, ist es sehr förderlich, wenn ich als Arzt/Therapeut grundsätzlich Vertrauen in meinen Mitmenschen habe und er „im Grunde gut“ ist (Lies das mutmachende Buch von Rutger Bregman). Ich selbst sollte wissen und spüren, welches meine eigenen gesundmachenden Ressourcen sind. Ich weiss, was mir Freude macht  und für was ich mich begeistern kann. Nur wer selbst vertraut, gesund lebt und sich zu pflegen weiss, kann diese „Gesamthaltung“ auch weitergeben.

Aus der Hirnforschung wissen wir wiederum, dass nur ein Arzt, der mit Begeisterung und Freude seine Patienten einlädt und ermutigt, ja inspiriert, eine neue Haltung einzunehmen, überhaupt Veränderungen erreichen kann. Das Hirn des Patienten wird sich nur durch Freude oder Begeisterung verändern: The brain runs on fun!

Fragen Sie sich also, was Sie von einem Arzt erwarten, der Ihre gesunden Ressourcen ansprechen soll und nicht nur Ihre kranken Seiten?! Ist er auf Ihren Schmerz fixiert? Dazu den Witz:
Patient: „Überall wo ich meinen Finger hinhalte, tut’s mir weh. Was habe ich, Herr Doktor?!“
„Sie haben ihren Finger gebrochen!“.
(Mehr zum Lachen: www.dr-walser.ch/witz/!)

Fragen Sie sich auch, ob Ihre Hausärzt*in/Therapeut*in Sie als einzigartige Persönlichkeit sieht? Pflegt sie die Beziehung zu Ihnen? Pflegt sie ebenfalls die Beziehung zu anderen Ärzt*innen (besucht sie Balintgruppen, Ärzte-Qualitätszirkel, etc.)? Wie gesund wirkt sie eigentlich selbst?! Ist sie begeistert von ihrem Beruf?! Und kann sie die Dinge mit Begeisterung rüberbringen?! Sieht sie mich als Mensch und „ganz“, d.h. auch als Teil meiner Nächsten, meiner Familie, in meinem Beruf…? Interessiert sie sich auch für meine Bewegung, für meine Ernährung, meine Liebe, wie ich mich pflege? Interessiert sie sich auch für meine Ängste, vor allem meine existentiellen Ängste (vor Tod, vor Einsamkeit, vor der Sinnlosigkeit der Krankheit, des Lebens,…)?  Bezieht sie mein Umfeld mit ein? Schickt sie mich nur zu weiteren Profis des Gesundheitswesens, wie z.B. Physiotherapeut*innen oder rät sie mir, mich auch durch eine Freund*in massieren zu lassen? Braucht sie auch selbst ihre Ressourcen, z.B. berührt sie mich auch mit den Händen oder spricht sie nur? Überweist sie mich in eine Kuranstalt (unter lauter Kranken) oder rät sie mir, sich einige Tage in meinem Lieblingsgasthof in den Bergen (unter Gesunden) zu erholen? Glaubt sie an meine Heilung (oder besser: Selbstheilung)?!

Positiv-realistische Weltsicht der Salutogenese

Man kann die positiv-realistische Einstellung der Salutogenese am besten mit zwei einfachen Handlungsmaximen beschreiben:

  • Rechne mit dem Schlimmsten, aber hoffe auf das Beste! Viele Menschen belasten sich mit Negativszenarien, die selbst dann, wenn sie nicht eintreffen, erheblichen Stress verursachen (etwa, wenn man bei jedem Wehwehchen eine tödliche Krebserkrankung befürchtet). Besser ist es, wenn du in jeder Situation zunächst einmal ein positives Ergebnis erwartest, da dies nicht nur mit angenehmeren Gefühlen verbunden ist, sondern dich auch stärker motiviert, deine Ziele zu erreichen.
  • Sei aber gefasst, wenn das Ergebnis negativ ausfallen sollte und dir ein schwerwiegendes Übel widerfährt. Denn auch dann solltest du versuchen, das Beste aus deiner Lage zu machen: Entweder indem du daran arbeitest, das Übel zu überwinden, oder indem du lernst, es besser zu ertragen. Hierauf bezieht sich auch die zweite Maxime:
    Ertrage, was du nicht verändern kannst, aber verändere, was du nicht ertragen musst
    !

Anders ausgedrückt:

  • Geh im Zweifelsfall vom Guten aus!
    In den meisten Fällen wird man dann bestätigt werden, weil die meisten Menschen im Grunde gut sind (Lies Rutger Bregman „im Grunde gut“!).
  • Versuche, den anderen zu verstehen, auch wenn du keine Zustimmung aufbringen kannst!
    Beispiele: Norwegisches Gefängniswesen, Nelson Mandela… (auch dies ist wunderbar klar in Rutger Bergmans Buch „im Grunde gut“ beschrieben)

ICE = Ideas, Concerns, Expectations!

Eine wunderbare Art, die Welt eines Menschen verstehen zu lernen (für Ärzt*innen oder Therapeut*innen), der dich aufsucht und dir seine „Symptome“ schildert, ist das Erfragen seiner eigenen IDEEN über all die Dinge, die ihm widerfahren.
Dies kann auch die „Patient*in“ mit sich selbst tun.
Darin äussern sich dann auch seine/Ihre BEDENKEN und auch die ERWARTUNGEN, die er/sie an die Medizin im Allgemeinen und auch an mich als Arzt hat.
Dieses Interesse an der Erschaffung seiner Welt (was jeder Mensch zu jeder Minute auf seine ureigene Art tut – und auch in Liebesbeziehungen zu soviel Missverständnisse führt!) – dieses Interesse lässt mich noch nach Jahrzehnten als Arzt begeistert arbeiten!

Es geht also um Bewusstwerdung, dass wir unsere eigene Welt oder „Wahrheit“ bauen. Niemand kann dich wütend machen – ausser du selbst! Dieser Wahrheitsgehalt wird deutlich, wenn man sich die unterschiedliche Reaktionen von Menschen auf Verkehrsstaus, schlechte Nachrichten oder persönliche Kritik vor Augen führt.

Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie (und auch ich) glauben, dass wir unsere Wirklichkeit verändern können, sobald wir Verantwortung für unsere Weltsicht und für das Leben, das wir uns schaffen, übernehmen („Wahrheit kann nur ertragen werden, wenn man sie selbst entdeckt!“).

Fritz Perls: „Beziehung ist Anerkennung von Unterschieden!“ – und dies gilt auch für die therapeutische!

Das Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky

Das Konzept der Salutogenese wurde vom israelisch-amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky (1923 – 1994) entwickelt. Seine beiden Hauptwerke dazu sind „Health, stress and coping: New perspectives on mental and physical well-being“ (1979) und „Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well“ (1987).
Aus Kritik an dem vor allem biomedizinischen Krankheits- und Präventionsmodell gibt Antonovsky der Frage, warum Menschen gesund bleiben, den Vorrang vor der Frage nach den Ursachen von Krankheiten und Risikofaktoren. Primär geht es um die Bedingungen von Gesundheit und Faktoren, welche die Gesundheit schützen und erhalten.
In „Unraveling the mystery of health“ (deutsch: „Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit“, 1997) beschreibt Antonovsky das Konzept der Salutogenese – im Vergleich zur Schulmedizin – anhand der Metapher eines Flusses:
Die pathogenetische Herangehensweise (die sich ausschliesslich mit der Entstehung und Behandlung von Krankheiten beschäftigt) gleicht im Bild von Antonovsky dem Versuch, Menschen mit hohem Aufwand aus einem reissenden Fluss zu retten, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie da hineingeraten sind und warum sie nicht besser schwimmen können. Die Salutogenese hingegen sieht den Fluss als den Strom des Lebens: „Niemand geht sicher am Ufer entlang. Darüber hinaus ist für mich klar, dass ein Grossteil des Flusses sowohl im wörtlichen wie auch im herkömmlichen Sinn verschmutzt ist. Es gibt Gabelungen im Fluss, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen. Meine Arbeit ist der Auseinandersetzung mit folgender Frage gewidmet: ‚Wie wird man, wo immer man sich in dem Fluss befindet, dessen Natur von historischen, soziokulturellen und physikalischen Umweltbedingungen bestimmt wird, ein guter Schwimmer?'“

Diese Flussmetapher kann auf chronische Schmerzen, Tinnitus, etc. angewendet: Man darf sich dadurch nicht von den begleitenden Emotionen umhauen lassen, sondern kann lernen, auf ihnen zu surfen wie auf einer Welle. Manche Menschen zerbrechen daran. Du zerbrichst, wenn du nicht mehr weisst, wo oben und unten ist. Ich muss nach oben streben, zum Licht und zur Luft, um atmen zu können.
Woher weiss man, wo oben ist?
Loslassen. Den Kampf loslassen. Nicht kämpfen!
Sich wehren gegen das, was passiert ist, gegen das Schicksal ist unser erste Impuls. Wenn du aber kämpfst und deine Energie im Kampf verbrauchst, ist es kaum möglich, nicht zu ertrinken. Wenn du loslässt, treibt dein Körper an die Oberfläche. So sind wir Menschen geschaffen, in der physischen Welt, aber auch metaphorisch.

Gesundheits- und Krankheitskontinuum

Der üblichen (dichotomen) Trennung in gesund und krank (Gesundheit schliesst hierbei Krankheit aus – und umgekehrt.) stellt das Konzept der Salutogenese ein Kontinuum mit den Polen Gesundheit / körperliches Wohlbefinden und Krankheit / körperliches Missempfinden (health ease / disease continuum) gegenüber. Weder völlige Gesundheit noch völlige Krankheit sind für lebende Organismen wirklich zu erreichen. Jeder Mensch, auch wenn er sich (überwiegend) als gesund erlebt, hat auch kranke Anteile, und solange Menschen am Leben sind, sind auch noch Teile von ihnen gesund. Die Frage, so Antonovsky, ist also nicht, ob jemand gesund oder krank ist, sondern wie nahe bzw. wie entfernt er von den Endpunkten Gesundheit und Krankheit jeweils ist.

aus DIE ZEIT, No.51/2020

Kohärenzgefühl – Gefühl der Stimmigkeit und Zuversicht

Den zentralen Aspekt des salutogenetischen Modells bildet für ihn das Kohärenzgefühl (sense of coherence, SOC – Kohärenz bedeutet Zusammenhang, Stimmigkeit.). Ausgangspunkt für die Überlegungen Antonovskys ist die Annahme, dass der Gesundheits- bzw. Krankheitszustand eines Menschen (sieht man von Faktoren wie Krieg, Hunger oder schwierigen hygienischen Umständen ab) wesentlich durch eine individuelle, psychologische Einflussgrösse (oder vielleicht besser „Geisteshaltung“, resp. ein geistiges Konstrukt, welches seelischer Einflüsse unterliegt) bestimmt wird, nämlich durch die Grundhaltung des Individuums gegenüber der Welt und dem eigenen Leben. Von dieser Grundhaltung hängt es seinem Verständnis nach nämlich massgeblich ab, wie gut Menschen in der Lage sind, vorhandene Ressourcen zum Erhalt ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens zu nutzen. Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl einer Person ist, desto gesünder ist sie bzw. desto schneller wird sie gesund und bleibt es. Eine erste Definition Antonovskys beschreibt das Kohärenzgefühl als „eine grundlegende Lebenseinstellung, die ausdrückt, in welchem Ausmass jemand ein alles durchdringendes, überdauerndes und zugleich dynamisches Gefühl der Zuversicht hat, dass seine innere und äussere Erfahrenswelt vorhersagbar ist und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Angelegenheiten so gut entwickeln, wie man vernünftigerweise erwarten kann“ („Health, stress and coping: New perspectives on mental and physical well-being“ ,1979). Aus dieser Definition wird zugleich auch deutlich, dass diese Grundeinstellung zum Leben fortwährend mit neuen Lebenserfahrungen konfrontiert und von ihnen beeinflusst wird.

Einschub aus der Hirnphysiologie: Das Kohärenzgefühl ist eventuell eine gute Einfügung der Amygdala-Reize im Hippocampus, was unsere Ängste verbessert. Und die Inkohärenz (Chaos, Unstimmigkeit, Unsicherheit) in unserem Hirn erzeugt Angst.

Aus drei Faktoren – so Antonovsky – setzt sich die Grundhaltung, die Welt zusammenhängend und sinnvoll zu erleben, zusammen:

  1. Gefühl von Verstehbarkeit (sense of comprehensibility)
    Das Gefühl von Verstehbarkeit meint die Fähigkeit von Menschen bekannte und auch unbekannte Stimuli als geordnete, konsistente, strukturierte Informationen verarbeiten zu können.
  2. Gefühl von Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit (sense of manageability)
    Das Gefühl von Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit ist die Überzeugung eines Menschen, dass er geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen – wozu auch der Glaube an die Hilfe anderer Menschen oder einer höheren Macht zählt.
  3. Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit (sense of meaningfulness)
    Das Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit ist das Ausmass, in dem man das Leben als emotional sinnvoll empfindet: Dass wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, das man Energie in sie investiert, dass man sich für sie einsetzt und sich ihnen verpflichtet; dass sie eher willkommene Herausforderungen sind, als Lasten, die man gerne los wäre.
    Antonovsky sieht diese motivationale Komponente als den wichtigsten Aspekt des Kohärenzgefühls an, denn ohne das Erleben von Sinnhaftigkeit neigt der Mensch dazu, das Leben vor allem als Last zu empfinden und jede weitere sich stellende Aufgabe als Qual.

Antonovsky geht davon aus, dass das Leben immer stressvoll ist. Stress ist nicht zu vermeiden. Entscheidend aber ist, ob ich dem stressvollen Ereignis, etwa einer Prüfung, Sinn verleihen kann, ob mir klar ist, dass diese Prüfung notwendig ist (zum Beispiel, um mir bewusst zu machen, ob ich genügend Kompetenz besitze, um dann in einem bestimmten Bereich zu arbeiten), ob ich die Prüfungsfragen verstehe (Verstehbarkeit), ob ich mit der Prüfungssituation zurecht komme (pünktlich sein, nicht panisch sein, mir genügend Zeit für jede Frage nehme, usw.). Das wäre die Handhabbarkeit.

Ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl führt dazu, dass ein Mensch flexibel auf Anforderungen reagieren kann. Es aktiviert die für diese spezifische Situation angemessenen Ressourcen und wirkt damit als flexibles Steuerungsprinzip, das den Einsatz verschiedener Verarbeitungsmuster (Copingstrategien) in Abhängigkeit von den Anforderungen anregt.

Vergleichen Sie auch dieses Kohärenzgefühl mit der „Resilienz„, die psychische und physische Stärke bezeichnet, die es Menschen ermöglicht, Lebenskrisen, wie schwere Krankheiten ohne langfristige Beeinträchtigungen zu meistern. Kurz: Gedeihen trotz widriger Umstände!
Auch mit dem psychologischen Begriff der „Selbstwirksamkeit“!

Entwicklung und Veränderung des Kohärenzgefühls

Das Kohärenzgefühl entwickelt sich im Laufe der Kindheit und Jugend und wird von den gesammelten Erfahrungen und Erlebnissen beeinflusst. Während sich das Kohärenzgefühl in der Adoleszenz noch umfassend verändern kann, ist es mit etwa dreissig Jahren, so Antonovsky, ausgebildet und relativ stabil. Im Erwachsenenalter ist es deshalb nur noch schwer veränderbar, und eine solche Veränderung erfordert eine harte und kontinuierliche (z.B. therapeutische) Arbeit.
Ob sich ein starkes oder ein schwaches Kohärenzgefühl herausbildet, hängt für Antonovsky vor allem von den gesellschaftlichen Gegebenheiten ab, d.h. insbesondere von der Verfügbarkeit generalisierter Widerstandsressourcen, die ein starkes Kohärenzgefühl entstehen lassen.

Ressourcen

Verena Steiner teilt in ihrem Buch „Energiekompetenz“ die Ressourcen des Menschen in drei Bereiche auf:

Ich-Bereich
physisch emotional mental
Atmung
Schlaf, Rhythmus
Gesundheit
Fitness
Ernährung
Sinne
Selbstachtung
Selbstvertrauen
Stimmung
Lebensfreude
Optimismus
Sozialkompetenz (mit Sich-Einfühlen-Können in andere und Beziehungsfähigkeit)
Wille
Selbstdisziplin
Konzentration
Realitätssinn
geistige Offenheit
fachliche Kompetenzen
Beziehungs-Bereich
zu Menschen zur Arbeit zu Dingen
Partnerschaft
Familie, Freundschaft
Gemeinschaft
Interesse
Commitment
Arbeitsfreude
Achtsamkeit
Ordnung, Ästhetik
Vollendung
Perspektiven und Lebenssinn
Ziele                                                                    Engagement für die Gesellschaft
Herausforderungen                                         Reflexion, Philosophie
Träume, Hoffnung                                            Religion, Spiritualität

Dauerstress schwächt Kohärenz und Lebensmut

Menschen, die ihr Leben als kohärent – also als sinnvoll, versteh- und bewältigbar – empfinden, sind vor Krankheiten besser geschützt. Allerdings hängt, das Kohärenzempfinden auch seinerseits von körperlichen Einflüssen ab: Gerät der Organismus dauerhaft aus dem Gleichgewicht, zum Beispiel durch permanenten Stress, so senkt dies auf längere Sicht das Kohärenzgefühl; die Betreffenden empfinden dann ihren Alltag zunehmend als sinnentleerte Zumutung.

Auf diesen Zusammenhang machte jetzt wieder ein schwedisches Forschungsteam aufmerksam (Psychosomatic Medicine, Bd. 68/5, 2006). Petra Lindfors und ihre Kollegen von der Uni Stockholm griffen auf medizinische Labordaten von 369 gesunden Frauen zurück, die im Alter von 43 Jahren einen ärztlichen Routinecheck absolviert hatten. Für jede Teilnehmerin wurde nun abgezählt, in wie vielen Kennwerten (etwa Blutdruck, Blutfette, maximale Pumpleistung des Herzens, Waist-Hip-Ratio) sie im riskanten oberen Viertel landeten. Die individuelle Summe dieser Risikowerte bildete ein Mass für die so genannte „allostatische Last“: das Ausmass der Abweichung vom physiologischen Gleichgewicht.

Sechs Jahre später wurden die Frauen nochmals kontaktiert und füllten einen Fragebogen zu ihrem Kohärenzempfinden aus. Sie wurden gefragt, inwieweit sie „die Dinge, die ihnen alltäglich widerfahren“ im Grossen und Ganzen verstehbar fänden, ob Probleme sie hoffnungslos stimmten oder eher zur Suche nach Lösungen anspornten und ob sie den Alltag als „eine Quelle persönlicher Befriedigung“ empfinden. Es stellte sich heraus: Je höher die „allostatische Last“ einer Teilnehmerin sechs Jahre zuvor ausgefallen war, desto schlechter stand es nunmehr um ihren Sinn für Kohärenz. (Übrigens: Auch Rauchen, geringe Bildung und ein Singleleben waren der Kohärenz abträglich.).

Die „allostatische Last“ ist ein Mass dafür, wie stark das Gleichgewicht des Körpers gestört ist – mutmasslich vor allem durch wiederholten und chronischen Stress. Stress ist eine natürliche Anpassungsreaktion des Körpers auf Anforderungen; er ist unschädlich, wenn der gestresste Organismus anschliessend ausreichend Zeit findet, sich wieder von dem Aufruhr zu erholen. Ist dies nicht gewährleistet, zum Beispiel weil der Stress über Tage und Wochen anhält, so findet der Körper nicht wieder vollständig zum Gleichgewicht zurück: Allostatische Last häuft sich an.

Dieses körperliche Ungleichgewicht wirkt sich offenbar auch seelisch aus und schmälert das Kohärenzempfinden und damit den Lebensmut – ein Teufelskreis, fürchten die schwedischen Untersucher: „Ein schwaches Kohärenzempfinden wird die Kapazität eines Menschen, seinen Alltag erfolgreich zu bewältigen, weiter reduzieren, was wiederum Spannung und Stress verstärkt, die körperlichen Ressourcen verschleisst und das Gesundheitsrisiko erhöht.“ Andererseits gilt wohl auch umgekehrt: Wer sein Leben als kohärent und sinnhaft empfindet, baut Stress rascher ab und schont seine körperlichen Ressourcen.

Dauerstress ist Atemlosigkeit, Spannung, Enge. Die neuen „Simultanten“ unserer Beschleunigungs-Gesellschaft („Zeit ist Geld!“) leben im Dauerstress von simultan, d.h. nebeneinander machen von e-mailen, simsen, essen, telefonieren, das Kind versorgen, sich fortbewegen…!

Stress ist übrigens auch „ansteckend“! Man sollte sich von gestressten Menschen fernhalten um selber zur Ruhe zu kommen.

Meditation greift hier ein und kann diesen Teufelskreislauf von Dauerstress durchbrechen.

Selbstwirksamkeit

Unter Selbstwirksamkeit (self-efficacy beliefs) versteht man in der Psychologie die Überzeugung einer Person, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Geprägt wurde der Begriff von dem amerikanischen Psychologen Albert Bandura.
Albert Bandura erforschte in zahlreichen Experimenten und Studien seit den 1960er-Jahren, wie das menschliche Verhalten und Denken durch Lernen und selbstbezogene Überzeugung beeinflusst wird. Eine wesentliche Erkenntnis Banduras war, dass Menschen meistens nur dann eine Handlung beginnen, wenn sie davon überzeugt sind, dass sie diese Handlung auch tatsächlich erfolgreich ausführen können. Diese Überzeugung, eine Handlung erfolgreich ausführen zu können, bezeichnete Bandura als Selbstwirksamkeits-Überzeugung, wobei in vielen Fällen unerheblich ist, ob die Person tatsächlich zur Ausführung in der Lage ist oder nicht: Ohne Selbstwirksamkeits-Überzeugung werden Herausforderungen oft nicht angenommen.

Selbstwirksamkeit ist das zentrale Konstrukt in Banduras Social Cognitive Theory (SCT) und wird heute in vielen Bereichen angewendet:

  • Gesundheitsprävention: Mit Selbstwirksamkeit schaffen es Menschen eher, schädliche Verhaltensweisen zu ändern (Rauchen, Alkohol)
  • Therapie: Selbstwirksamkeit spielt eine Schlüsselrolle bei der Therapie von Phobien und Ängsten
  • Sport: Selbstwirksamkeit ermöglicht Sportlern ihre Leistung zu steigern und im Wettkampf abzurufen

Aufbau von Selbstwirksamkeit

Nach Bandura können Selbstwirksamkeits-Überzeugungen auf vier Wegen vermittelt werden:

  1.  Durch Erfolgserlebnisse:
    Erfolgserlebnisse führen auf natürliche Weise zu einer Stärkung von Selbstwirksamkeit. Auf der anderen Seite führen wiederholte Misserfolge – vor allem wenn die Ursachen dafür der eigenen Person zugeschrieben werden – zu einer Schwächung von Selbstwirksamkeit.
  2. Beobachten von erfolgreichen Modellpersonen:
    Wird der Erfolg anderer Personen beobachtet, die einem selbst wichtig oder ähnlich sind, so stärkt das ebenfalls die Selbstwirksamkeit. Weiter verstärkt werden kann dieser Effekt noch dadurch, dass die Modellpersonen öffentlich belohnt werden.
  3. Einfluss sozialer Gruppen:
    Soziale Gruppen haben oft einen negativen Einfluss auf die Selbstwirksamkeit. Hört man immer wieder von anderen Menschen, dass man ein Versager ist, werden Selbstwirksamkeits-Überzeugungen nachhaltig geschwächt.
  4. Interpretation von Emotionen und Empfindungen:
    Gerade unter Druck nehmen viele Menschen körperliche Empfindungen (feuchte Hände, Zittern, Herzrasen) als Zeichen für ein mögliches Scheitern wahr. Durch Übungen können Menschen lernen, diese Empfindungen neu zu interpretieren, z.B. als Zeichen freudiger Erregung. (Quelle: Bandura, Albert (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: W. H. Freeman)

Regenerationsfähigkeit und Plastizität

Die Kraft unserer Ressourcen zeigt sich auch in der  unglaublichen Regenerationsfähigkeit des menschlichen Körpers:

Ein wunderbares Beispiel für diese enorme Plastizität und Regenerationsfähigkeit ist das vollständige Nachwachsen einer amputierten Fingerendkuppe (dies auch trotz freiliegendem Knochen!) unter einem sehr einfachen Folienverband – ohne Operation, ohne Antibiotika und selbst ohne Desinfektion! Wir sind hier wirklich der Eidechse mit ihrem nachwachsenden Schwanz sehr ähnlich.
(D.Hoigné, U.Hug: Amputationsverletzungen am Fingerendglied: Regeneration mittels Folienverband; Schweiz Med Forum 2014;14(18):356-360)

Parasympathikus

An anderem Ort habe ich Vergleiche von Kohärenzsteigerung durch Kräftigung des parasympathischen Teils des Vegetativen Nervensystems (orientalisch gesehen: Stärkung des Yin) angestellt: /parasympathikus/!

Rolfing

Rolfing, die strukturelle Körperarbeit, die ich auch ausübe, ist ein wunderbar salutogenetisches Konzept, eine Ressourcenarbeit im schönsten Sinne des Wortes, wo Symptome wie Schmerzen oder zum Beispiel eine Skoliose aus dem Fokus geraten und die freie, ökonomische Alltagsbewegung und -haltung wichtig werden – und erst sekundär und beiläufig dann vielleicht auch noch die obigen Symptome verschwinden.

Lesen Sie dazu noch mehr auf meiner Website:

Weiterführende Literatur:
Rutger Bregman, „Im Grunde gut“, rowohlt 2020

Ich habe hier einiges aus dieser Quelle zitiert:
Jürgen Bengel, Regine Strittmatter & Hildegard Willmann: „Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert“. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung Band 6, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln 2001

Veröffentlicht am 27. Mai 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
17. Juni 2022