Übergänge und Zwischenräume

„Es ist die Stille zwischen den Tönen, die Musik von Lärm unterscheidet, die Stille des Bodens, die die Samen keimen lässt, damit sie aufblühen. In der Lücke der Abwesenheit lernen wir Vertrauen, in der Lücke zwischen Wissen und Geheimnis entdecken wir das Wunder. Jeder Akt der Raumschaffung ist in gewisser Weise ein kreativer Akt und ein Akt des Glaubens. Doch in seiner Offenheit und Unbestimmtheit, in seinem Werben um die Ungewissheit, stellt er unsere grundlegendsten Instinkte darüber, wie wir unser Leben regeln sollen, in Frage und erschüttert die Grundlage unserer Illusion von Kontrolle (die immer das Gegenteil von Glauben ist).“ (Die italienische Schriftstellerin Paola Quintavalle und der Künstler Miguel Tanco in Making Space)

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Im Alltag hetzen wir ruhelos von einem zum anderen, atmen kaum aus, bleiben ständig angespannt. Jede Lücke füllen wir mit dem Blick aufs Smartphone, immer in Kontakt mit der Aussenwelt. Doch gerade diese kleinen Pausen und Zwischenräume, die leer und langweilig erscheinen, sind wichtige Rückzugsorte für unser Gleichgewicht.

In meiner Hausarztpraxis klagen immer mehr Menschen über Müdigkeit. Ich empfehle ihnen, bewusst die Übergänge zu pflegen und Belastendes wie Arbeit und Pflichten rituell hinter sich zu lassen. Gehen Sie eine halbe Stunde ruhig zu Fuss oder setzen Sie sich auf eine Bank und schauen ins Wasser, bevor Sie in den nächsten Tagesabschnitt eintauchen. So lassen Sie das Mühsame zurück und schleppen es nicht in die Freizeit.

Der Übergang vom Tag zur Nacht: Schliessen Sie den Tag mit einem kleinen Ritual ab, während Sie im Bett liegen. Blicken Sie auf die Tagesereignisse zurück: Was ist passiert, was haben Sie erlebt, wie haben Sie sich gefühlt? Gehen Sie gedanklich vom Abend bis zum Morgen zurück.

Von der Nacht in den Tag: Bleiben Sie noch etwas liegen, statt sofort aufzustehen. Scannen Sie kurz Ihren Körper: Wie fühlen sich die Füsse an? Warm, kalt, belebt, entspannt? Gehen Sie weiter zu den Unterschenkeln, Oberschenkeln, dem Becken bis zum Scheitel.

Ein weiterer wichtiger Übergang ist der zwischen Ferien und Arbeit. Nehmen Sie sich einen Tag frei, ohne Verpflichtungen, um sich in Ruhe auf den Alltag einzustellen.

In meinen Rolfing-Sitzungen höre ich oft, wie mühsam es sei, ständig an die neuen Haltungen zu denken.
Ökonomische Alltagsbewegung und –haltungen (wie ich den Leuten im Rolfing lerne) sind ähnlich einer Meditation:
Zuerst beginnt man achtsam bei beiden mit dem Einnehmen der neuen Haltung. Dieser bewusste Übergang braucht einen eigenen Raum und auch etwas Zeit. Nachher kann man nur noch die Früchte ernten und alles wird leichter. Die Bewegung geht wie von selbst, also ökonomisch weiter – und die Sitzposition zum Meditieren wird leicht und ruhig. Man kommt in seinen Flow.

Also: Der Übergang, der Zwischenraum ist wichtig – nachher läuft es wie von selber.

Und dies ist auch möglich auf dem Bahnsteig, im Warten – oder vor dem Ladengeschäft, das noch nicht geöffnet hat. Es sind diese fünf Minuten im Alltag, die uns viele kleine Übungsräume schenken – wenn wir sie auch wahrnehmen…
An die Haltung nicht nur denken, sie ausprobieren im Kleinen, sich einlassen auf den kurzen Moment der Übung im Jetzt. Nicht immer nur die stillen, passenden Momente suchen, wo wir es schaffen, innezuhalten.
Mit Meditation ist auch gemeint: Das Bei-Sich-Verweilen und Innehalten in den Alltag zu integrieren.
Kleine Momente finden sich immer. Tun wir es einfach.

Man kann zur Hilfe auch „Übergangs-Objekte“ benützen: Ich denke, die homöopathischen Kügelchen sind wie die Oblaten in der Kirche (oder wie der Teddybär für das Kleinkind!) solche „Objekte“, die das so wichtige Übergangsritual begleiten und verstärken.

Zwischenräume sind auch eher unbemerkt und bescheiden, leer – und trifft man zudem im Leben an vielen unerwarteten Orten. Es braucht eine gewisse Aufmerksamkeit dafür. Diese Offenheit für das Ungewöhnliche Dazwischen ist die Voraussetzung.

Wo findet man Zwischen-Räume?

  • Wir blinzeln von 16 Stunden ganze 1.5 Stunden lang! Unglaublich, aber offensichtlich ganz wichtig für unser Hirn, welches dadurch einen Augenblick lang in einen Ruhemodus geht. Forscher*innen vermuten, dass diese kurzen Zwischenräume der Ruhe und Selbstwahrnehmung dienen und uns womöglich helfen, uns zu fokussieren und mehr auf die Welt um uns zu achten, sobald wir die Augen wieder öffnen.
  • Wieder im Rolfing (das Bindegewebe!); der wichtige Zwischen-raum…
  • Die Pause zwischen Ein-und Ausatmung…
  • Der Raum zwischen Menschen (die dabei auch sehr nahe, ja verschmolzen sein können und trotzdem dieser Membran dazwischen bewusst sein sollten…).
  • Die Langeweile (die leeren Momente, die sich durch alles füllen können – wenn man sie zulassen und nicht-wissend, ziellos warten kann!)
  • Die drei Pünktchen in den Mails… die ich zum Beispiel häufig setze, da ich die Erweiterung meiner Gedanken damit für mich und das Gegenüber offen lasse…
  • Die eindrückliche, langsame Sprache in wichtigen, gehaltvollen Sätzen (oder beim Erzählen einer Schlüsselstelle), wo jedes Wort für sich steht…
  • …am Körper die Zwischenräume erforschen: in der Ellbeuge, Kniekehle – zwischen den Brüsten, in der Achsel, „the gap“ – Übergänge, Verbindungen: dort geschehen die unerwarteten Dinge…und es riecht verführerisch (was direkt unter Umgehung der Hirnrinde in den Hirnstamm, unser Reptilienhirn geht!)…
  • „und“ sagen statt „aber“- Zwischenraum vs. Gegeneinander und eng ohne Raum…
  • ja sogar diese Zwischenwelt der Geister, Dämonen, Energien…
  • in der Musik: die Improvisation…
  • …überhaupt die Grautöne – und nicht eine Schwarzweissmalerei, die uns immer in die Enge führt…
  • Die Atmosphären wahrnehmen: Der Welt Raum geben in der Wahrnehmung, den Raum erfühlen…
  • Durch den eigenen Körper Reisen: Wie fühlt es sich in meinem Körperzwischenraum an? Im Bein, im Bauch? Ist es warm? Unangenehm? Da kann ich mich verweilen, Dinge zulassen, die sonst im „machen“ nicht hervor kommen.
  • In den kleinen Zwischenzeiten im Alltag, die oft nur wenige Minuten dauern können: Bewusst innehalten, auf dem Klo, vor dem Spiegel, beim Warten… die Welt um sich und in sich empfinden! …Nicht nur denken, was man noch tun sollte.
  • Im Beobachten von Menschen, ohne zu werten…
  • Die Übergänge sind auch vor dem Schlafen da: zwischen hier und da… wenn ich mich nochmals ganz bewusst im Körper wahrnehme, bevor ich einschlafe, bin ich mir dem Übergang der zwei Welten auch bewusster und mir selbst. Auch ein Zwischenraum.
  • Auch Flirten ist ein Zwischenraum bei Menschen – im Zug, auf der Strasse, unter Freunden. Es trägt zur Beziehungsfähigkeit von uns Menschen bei und stärkt uns im Alltag. Wir werden gesehen und wahrgenommen. Ein Raum entsteht zwischen Menschen, ein Dazwischen, welches farbig und immer wieder neu gefüllt werden kann.

Zwischenraum und Glück

Wir halten Glück für etwas Zufälliges, was ich nicht ganz zutreffend finde. Glück hat mit Wachsamkeit zu tun, mit dem Bemerken der Gelegenheiten, die sich einem bieten – also mit dem bewussten Leben dieser Übergänge und dem Wahrnehmen dieser vielen Zwischenräume im Alltag.
Man kann dem eigenen Glück nachhelfen – wenn man sich nicht auf einen Standpunkt versteift, sondern beweglich, offen und weit bleibt.

Es geht also wahrscheinlich häufig um ein Rhythmisieren unseres Lebens.

Veröffentlicht am 04. Mai 2015 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
30. Januar 2025